Nachwort

Die Erde ist rund. Viele Menschen besitzen außergewöhnliche Fähigkeiten, finden aber dafür keine Verwendung. Manche können sehr schnell laufen, müssen aber nicht. Sie werden nie von jemandem verfolgt und verfolgen auch selbst niemanden. Mancher würde für so eine Fähigkeit viel geben, hat aber nichts.

Ein Freund von mir, der in Moskau lebt, kann allein mit der Kraft seines Geistes schwere Gegenstände in Bewegung bringen, besitzt aber selbst keine. Ein anderer Freund aus Berlin hat eine ganze Menge davon, aber die geistige Kraft sie zu bewegen fehlt ihm völlig. Höchstens sein Auto kann er bewegen, weiter nichts. Was tun? Ganz einfach, die beiden müssen sich treffen. Der eine wie der andere verreisen gerne und treffen sich dann auch bestimmt, wie sich früher oder später alles hier trifft – weil die Erde bekanntlich (s. o.).

Gruppeninteressen entstehen, die Menschen bilden verschiedene Einheiten, tauschen Erfahrungen miteinander aus, besuchen Yogakurse, und irgendwann können praktisch alle alles. Außergewöhnliche Fähigkeiten werden zum Gemeingut. Die individuellen Probleme werden mithilfe der modernen Medizin eins nach dem anderen beseitigt. Nur die Frage nach dem Sinn bleibt.

Die Wahrnehmung der Realität ändert sich laufend, immer wieder entstehen neue philosophische und gesellschaftliche Konzepte, die sich mit der Frage beschäftigen, was das Ganze soll. Es findet ein Prozess der permanenten Neubewertung statt.

Was hat sich aber wirklich verändert?

Alles.

Und was ist geblieben?

Die Menschen verreisen immer noch gern, sie beschäftigen sich gern mit Problemen, die sie überhaupt nichts angehen und die Erde ist immer noch (s. o.).

Was hat nun das alles mit der Schönhauser Allee zu tun?

Ganz einfach: Ich wohne dort.

Als Kind hatte ich eine große Achtung vor dem gedruckten Wort. In meiner alten sowjetischen Geburtsurkunde stand ganz unten: »Hiermit erkläre ich den Genossen Wladimir Kaminer, Sohn von Frau Kaminer und Herrn Kaminer, wohnhaft da und da, für geboren. Dem Geschriebenen glauben.« Es folgte die Unterschrift: »Der stellvertretende Notar Herr Rachkowskij.« Als ich fünf Jahre nach der Geburt lesen lernte und die Urkunde studierte, dachte ich, Herr Rachkowskij sei der Schöpfer. Also gewöhnte ich mir an, dem gedruckten Wort mehr Glauben zu schenken als der eigenen Wahrnehmung.

Auf der Schönhauser Allee, die seit über fünf Jahren meine Wahlheimat ist, ereignen sich ständig merkwürdige Geschichten. Jedes Mal, wenn ich sie jemandem erzähle, denkt derjenige, ich spinne. Dadurch werde ich auch selbst unsicher – vielleicht ist alles doch nur im Traum passiert? Das würde jedoch bedeuten, dass ich selbst auch eine imaginäre Figur bin, die mit dem wirklichen Leben nichts zu tun hat. Aus Angst zu verschwinden, habe ich einige dieser Ereignisse zu Papier gebracht, damit sie eine gewisse Glaubwürdigkeit gewinnen, in erster Linie in meinen eigenen Augen. Mit diesen Notizen schlage ich also zwei Fliegen mit einer Klappe: Nun wissen alle, was auf der Schönhauser Allee los ist, und meine Realitätswahrnehmung wird gestärkt. Wenn ich dann zukünftig etwas über das Leben hier erzähle, und mir wieder keiner glaubt, sage ich ganz locker: »Übrigens, das alles ist schon längst wissenschaftlich bewiesen und in so einem dicken Buch von mir aufgeschrieben worden.« Dann werden sie bestimmt ganz anders kucken.

Und noch etwas: Alle mir bekannten Personen, die in dem Buch vorkommen, kriegen von mir selbstverständlich eine Entschädigung dafür. Vor allem meine Nachbarn und die Familie Dong. Ich will ja noch nicht umziehen. Alle anderen Personen, die vielleicht beim Lesen auf die Idee gekommen sind, sie seien in der einen oder anderen Weise in diesem Buch ebenfalls präsent, möchte ich gleich eine Autorengarantie geben: Sie sind es nicht.

Ihr Autor