Meine Tante auf der Schönhauser Allee
Meine Tante hat eine besondere Gabe. Wo immer sie sich aufhält, schafft sie unglaubliche Situationen und gerät blitzschnell in Konflikte mit allen möglichen Leuten. Dabei kann sie so gut wie überhaupt kein Wort Deutsch. Vor einem Jahr, nach ihrem fünfundfünfzigsten Geburtstag, zog sie von Düsseldorf nach Berlin, in eine Wohnung in der Schönhauser Allee. Die unmittelbare Nachbarschaft mit meiner Tante machte mir mein ohnehin nicht leichtes Leben sofort noch schwerer.
Neulich bestellte sie zum Beispiel einen Kardiologen zu sich nach Hause. Sie hat ein schwaches Herz und traut sich nicht, an einem heißen Tag zum Arzt zu gehen, um ein EKG machen zu lassen. Mich hatte sie schon vor langer Zeit gebeten, einen Fernsehmechaniker für sie zu bestellen, weil ihr Apparat verrückt spielte: An den spannendsten Stellen, wenn meine Tante »Big Brother« oder »Liebe Sünde« ankuckte, fing die Kiste an, sich selbst willkürlich um- oder abzuschalten. Ich vereinbarte mit einer Reparaturwerkstatt einen Termin, vergaß jedoch, meine Tante davon in Kenntnis zu setzen.
Sie saß allein zu Hause, als es an der Tür klingelte. Ein Mann mit einem großen Koffer betrat die Wohnung. Meine Tante hielt ihn für den Kardiologen, machte den Oberkörper frei und legte sich auf ihr Bett. Der Mann schaute sie etwas verunsichert an, stellte seinen Koffer ab, und schaltete den Fernseher ein. Auf RTL lief gerade »Formel 1 – Großer Preis von Spanien«. Meine Tante traute ihren Augen nicht: Der von ihr bestellte Kardiologe kuckte sich die Formel 1 im Fernsehen an statt ein EKG zu machen – und sie lag halb nackt auf ihrem Bett. »Vielleicht ist der Arzt wegen der Hitze durchgedreht oder er ist einfach Formel-1-Fan«, überlegte sie fieberhaft. Plötzlich schaltete der Fernseher willkürlich auf die »Gummibärchenbande« um. »Alles klar«, sagte der Kardiologe, zwinkerte meiner Tante zu, und holte einen großen Schraubenzieher aus seiner Tasche. Jetzt wurde meiner Tante endgültig klar, dass mit dem Arzt irgendetwas nicht stimmte. Als er anfing, ihren Fernseher auseinander zu schrauben, bekam sie es mit der Angst. »Vielleicht ist er gar kein Kardiologe, sondern ein Serienkiller, der sich nur als Kardiologe ausgibt, um alte kranke Frauen zu vergewaltigen oder zu ermorden, nachdem er ihren Fernseher auseinander genommen hat«, argwöhnte meine Tante und betrachtete den Mann misstrauisch. Er benahm sich sehr merkwürdig, summte vor sich hin und stöhnte manchmal. Beide Hände steckten im Fernseher. Meine Tante überlegte sich rasch einen Fluchtplan.
Als der Mann auch noch seinen Kopf ins Innere des Gerätes steckte, sprang sie von ihrem Bett auf und lief aus der Wohnung – zu mir. Zum Glück liegen zwischen unseren beiden Quartieren nur fünfzig Meter: Sie musste bloß die Schönhauser Allee überqueren. Ich saß gerade zu Hause und tippte friedlich in meinen Computer. Es war ein heißer Tag, alle Fenster waren offen. Plötzlich hörte ich von draußen ein schreckliches Gerassel. Es klang, als wären zwei Straßenbahnen in beide Richtungen gleichzeitig entgleist. Ich kuckte aus dem Fenster und sah plötzlich meine Tante, wie sie halb nackt die Schönhauser Allee überquerte. Die Folgen ihres Auftrittes waren für den Verkehr katastrophal. Mehrere Autos bremsten hektisch, andere wieder gaben Vollgas. Ein Rollstuhlfahrer verpasste die Kurve, weil er meine Tante angestarrt hatte, und fuhr geradewegs auf die Fahrbahn. Mir standen alle Haare zu Berge. Doch meine Tante war dann sehr stolz auf sich, als sie mir atemlos erzählte, wie clever sie dem Serienmörder entwischt war. Sie hatte es sogar geschafft, ihn in ihrer Wohnung einzusperren. »Ruf sofort die Polizei«, bat sie mich. Bevor ich dem nachkommen konnte, klingelte das Telefon bei mir. Es war jemand aus der Reparaturwerkstatt, der wissen wollte, was ich mir dabei gedacht hätte, ihren besten Elektriker in eine derartige Falle zu locken und ob es sich dabei um eine Entführung handele. Verwirrt und verlegen hörte ich ihm nicht länger zu und legte einfach auf.