Marinas Geburtstag
Unsere Freundin Marina feierte ihren Geburtstag. Diese Gelegenheit nutzte sie, um ihrem neuen deutschen Freund Manfred ihre zahlreiche Verwandtschaft vorzustellen. Vitalik, Marinas erster Ex-Ehemann und Vater von Marinas Tochter, war extra aus Kiew mit Glückwünschen angeflogen. Auch ihr zweiter Ex-Ehemann, wegen dem sie vor zehn Jahren den ersten verlassen hatte und mit dem sie von Kiew nach Berlin übergesiedelt war, war auf der Geburtstagsfeier anwesend, zusammen mit seiner ersten Ex-Ehefrau und deren Tochter, die er damals in Kiew wegen Marina sitzen gelassen hatte. Inzwischen wohnen diese beiden Frauen in Hannover. Eingeladen und erschienen war auch: der neue Mann der zweiten Ex-Ehefrau von Marinas zweitem Ex-Ehemann; der ältere Sohn des ersten Ex-Ehemannes mit seiner Mutter – der ersten Ex-Ehefrau des ersten Ex-Mannes von Marina – aus Kiew; und der neue Freund der zweiten Ex-Ehefrau von Marinas zweitem Ex-Ehemann aus Hannover.
Alle hatten einander schon lange nicht mehr gesehen, sie umarmten sich und küssten sich herzlich. Auf Manfred reagierten die Russen zuerst gar nicht. Vitalik, der erste Ex-Ehemann von Marina, wirkte rührend. Mit Tränen in den Augen öffnete er die zahlreichen Wodkaflaschen, eine nach der anderen, schüttelte den Kopf und sagte zu jedem: »Das Schicksal war hart zu uns, nicht wahr?« Der zweite Ex-Ehemann von Marina, ein Computerspezialist, bot allen an, neue Programme in ihren Computern zu installieren – natürlich gratis.
Die angereiste Verwandtschaft besprach ein wichtiges Thema: Seit Jahren versuchten sie den zweiten Ex-Ehemann der ersten Ex-Ehefrau des zweiten Ex-Ehemanns von Marina nach Deutschland zu holen, aber es hatte bisher nie geklappt. Er war seinerzeit allein in Kiew geblieben und lebte seitdem bei seiner alten Tante, die ihn bis heute versorgte. Er sei arbeitslos und würde die ganze Zeit vor der Glotze verbringen, berichtete die Tochter der ersten Ex-Ehefrau des zweiten Ex-Ehemanns von Marina, die ihn gerade in Kiew besucht hatte. Der Mann musste gerettet werden, doch eine Familienzusammenführung kam nicht in Frage: Die erste Ex-Ehefrau aus Hannover konnte ihren Ex-Ehemann unmöglich noch einmal heiraten. Außerdem war sie bereits mit einem anderen verheiratet. Möglich wäre jedoch, dass Marina, die gerade mal wieder unverheiratet war, den Mann aus Kiew heiratete. Der wollte aber nicht alleine kommen: »Nicht ohne meine Tante, sie ist alt und kann das Leben in Kiew allein nicht bewältigen«, hatte er letztens noch gesagt. Also brauchte die Tante auch einen Ehemann in Deutschland. Plötzlich fielen alle Blicke auf Manfred, den neuen Freund von Marina, der bisher trotz guter Russischkenntnisse bei dem Gespräch außen vor geblieben war. Was wäre, wenn er die Tante von dem zweiten Ex-Ehemann heiratete? Sofort geriet Manfred in den Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit. Die Gläser wurden erneut mit Wodka gefüllt.
»Hallo, Manfred«, sagten die Russen, »wir sind froh, dass du jetzt zu unserer großen Familie gehörst; sei du auch froh.«
»Bin ich, aber es ist schon spät, ich muss morgen um sieben zur Arbeit, seid ihr nicht auch müde? Wir können doch das alles ein andermal besprechen«, schlug Manfred vorsichtig vor.
»Kommt nicht in Frage«, sagten die Russen. »Die Party fängt doch jetzt erst richtig an!«
Sie tranken den Wodka aus, drehten die Musik lauter, gingen zu zweit und zu dritt ins Schlafzimmer, um auf Manfreds Wasserbett zu hüpfen, bis aus allen Ecken Wasser tropfte. Danach tanzten die Gäste auf dem Sofa, bis es auseinander fiel. Der erste Ex-Ehemann unterhielt sich derweil in der Küche mit dem Schrank.
»Das Schicksal war so hart zu uns«, sagte er immer wieder zum Küchenschrank und versuchte ihn zu umarmen. Eine Tür brach ab. Um drei Uhr kam der Ex-Freund der zweiten Ex-Ehefrau des zweiten Ex-Ehemanns von Marina, um seine Ex-Freundin abzuholen. Die wollte aber nicht gehen, ohne vorher das Dessert probiert zu haben.
»Was hast du zum Nachtisch vorbereitet, Marina?«, riefen die Russen und suchten die Gastgeberin überall. Sie hatte sich im Badezimmer versteckt, die Tür abgeschlossen und gab kein Lebenszeichen von sich.
»Was wollt ihr zum Dessert?«, fragte Manfred die Anwesenden.
»Sex«, sagte plötzlich der erste Ex-Ehemann aus Kiew und machte das Licht aus. In der Dunkelheit begann er, den Ex-Freund der zweiten Ex-Ehefrau zu attackieren, die beiden kämpften auf dem Teppich, die Umstehenden versuchten, sie auseinander zu zerren.
Am nächsten Tag waren alle weg. Marina kam aus dem Badezimmer und konnte sich an nichts mehr erinnern. Auf Manfreds Vorschlag, alles in der Wohnung so liegen zu lassen bis zu ihrem nächsten Geburtstag, weil die Russen dann sowieso alles wieder kaputtmachen würden, reagierte sie zickig.
»Sie mögen vielleicht manchmal unerträglich sein, aber in Wirklichkeit sind sie sehr nett. Sie haben mir so viele Blumen geschenkt«, verteidigte sie ihre Landsleute.
»Und das Sofa platt gemacht. Jetzt können wir das Ding nur noch wegschmeißen«, fügte Manfred hinzu.
»Sie randalieren nur, weil sie so schüchtern sind und leicht verletzlich und so schwer Zugang zueinander finden«, erklärte Marina.
»Das habe ich aber ganz anders in Erinnerung. Wenn diese schüchternen Menschen uns noch einmal besuchen, springe ich sofort aus dem Fenster«, erwiderte Manfred.
Die beiden stritten sich noch zwei volle Stunden, danach gingen sie zusammen in die Schwimmhalle im Ernst-Thälmann-Park, um ihren Geburtstagsstress abzubauen. Anschließend vertrugen sie sich wieder. Die Wohnung sah schon nach zwei Tagen wie neu aus.