Kapitel 12
Behalten Sie den Überblick
Jetzt haben Sie einen Eindruck davon, wie umfangreich das Problem der Überdiagnose ist. Sie wissen, dass es viele Erscheinungsformen hat: von numerischen Anomalien (zum Beispiel beim Blutdruck und beim Cholesterinspiegel) über strukturelle Anomalien (im Knie, aber auch bei Ihrem Baby) bis zu der Anomalie, die am meisten gefürchtet wird: Krebs. Sie wissen, dass es viele verschiedene Gründe für dieses Problem gibt: Die intensive Suche nach Anomalien, die Ausweitung der Screenings, wir vergrößern die Zahl der Kranken, indem wir den Grenzwert für Anomalien verändern, und wir erhöhen die Wahrscheinlichkeit, zufällig Anomalien zu entdecken, indem wir generell mehr diagnostizieren. Und Sie wissen, dass der Wunsch, Geld zu verdienen, und die Überzeugung, Gutes zu tun, zu einer Medizinkultur geführt haben, die sich nicht leicht von der Idee abbringen lässt, dass frühe Diagnosen stets besser sind. Ich möchte nun zum großen Ganzen zurückkehren, damit Sie besser beurteilen können, ob Früherkennung sich wirklich lohnt.
Morgenvisite
Die meisten Ärzte beginnen ihren Tag mit einem Rundgang. Sie besuchen ihre Patienten im Krankenhaus und prüfen, ob sie Fortschritte gemacht haben. Ich glaube, ein Rückblick auf die Erfahrungen und Fortschritte der Patienten, denen Sie in diesem Buch begegnet sind, bringt uns einem Gesamtbild des Problems Überdiagnose näher. Nehmen Sie sich also ein paar Minuten Zeit, um Tabelle 12.1 auf Seite 166 zu studieren, die jeden einzelnen Fall kurz zusammenfasst.
Der Wunsch, Menschen vor Krankheiten im fortgeschrittenen Stadium zu bewahren, ist ein ehrbares Motiv der Frühdiagnostik. In einer vollkommenen Welt hätten Diagnosen nur Vorteile: weniger Symptome, weniger Krankenhausaufenthalte und ein längeres, gesünderes Leben. Doch in der realen Welt haben Diagnosen auch Nachteile. Es gibt viele Geschichten über Menschen, deren Leben dank einer Diagnose gerettet wurde; aber Geschichten über Menschen, denen eine Diagnose schadete, sind extrem selten. Trotzdem erleiden viele Menschen einen Schaden. Manche dieser Schäden sind gering, einige jedoch ziemlich ernst. Darum habe ich Ihnen die Geschichten dieser Patienten erzählt.
Wir können die negativen Folgen einer Diagnose in drei Gruppen einteilen. Erstens bekommen alle Patienten die Auswirkungen der Diagnose selbst zu spüren. Eine Diagnose kann dazu führen, dass ein Mensch sich verwundbarer fühlt – er glaubt, etwas stimme nicht mit ihm und er habe Grund zur Sorge. Fragen Sie Lara, Ms. Angier oder Michael. Diese durch Diagnosen verursachte Verwundbarkeit untergräbt das Gefühl des Wohlbefindens und die Widerstandskraft, die in vielerlei Hinsicht zur Definition der Gesundheit zählen. Das Streben nach mehr und früheren Diagnosen kann also ironischerweise in Konflikt mit unserem Ziel geraten. Dieses Ziel ist eine gesündere Gesellschaft. Und wenn Ihnen die seelischen Nöte der Patienten gleichgültig sind oder wenn Sie glauben, sie seien ein geringer Preis für die Früherkennung, sollten Sie die praktischen Folgen für unser Gesundheitssystem bedenken: Nach einer Diagnose ist es für die Betroffenen oft schwerer und teurer, eine Krankenversicherung abzuschließen. Schlimmer noch, manche verlieren dadurch sogar ihren Versicherungsschutz.
Zweitens leiden die meisten Patienten unter den Maßnahmen, die der Diagnose folgen, sei es unter der Behandlung, sei es unter weiteren diagnostischen Untersuchungen. Damit ist nämlich eine Menge Ärger verbunden: mehr Telefongespräche und Arzttermine, die Feinabstimmung der medikamentösen Behandlung, mehr Untersuchungen, mehr Überwachung, mehr Rezepte und so weiter. Lara, Mr. Baker und Michael mussten sich mit vielen Unannehmlichkeiten dieser Art herumschlagen. Ich glaube, die meisten Leute wären sich darin einig, dass diese Patienten geschädigt wurden.
Die schwersten Folgeschäden fallen in die dritte Kategorie. Manche Patienten leiden unter den Nebenwirkungen der Behandlung. Nebenwirkungen sind vorübergehend (zum Beispiel Mr. Baileys Ohnmacht und Laras Speiseröhrenentzündung), langwierig (Mr. Roberts’ gebrochener Hals) oder dauerhaft (Isaacs Impotenz). Es kann sich um leichte Nebenwirkungen von Medikamenten handeln, aber auch um Komplikationen nach einer Operation, um Beschwerden, die einen Krankenhausaufenthalt notwendig machen, oder gar um tödliche Folgen.
Eine Diagnose lohnt sich nur, wenn ihre Vorteile die Nachteile überwiegen. Der potenzielle Nutzen einer Diagnose steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Grad der Anomalie, anders gesagt mit der Schwere der diagnostizierten Krankheit. Vielleicht wundern Sie sich darüber, dass ich den Begriff potenzieller Nutzen verwende und nicht einfach das Wort Nutzen. Das liegt daran, dass der tatsächliche Nutzen nicht nur mit dem Grad der Anomalie zusammenhängt, sondern auch mit dem Erfolg der Behandlung. Der potenzielle Nutzen kann sehr groß sein; aber wenn die Therapie nicht gut anschlägt, bleibt der tatsächliche Nutzen sehr gering.
Auf jeden Fall ist es sinnlos, jemanden zu untersuchen und zu behandeln, der zwar eine leichte Anomalie aufweist, aber gesund bleiben wird. Und es ist ebenso klar, dass der potenzielle Nutzen sehr groß ist, wenn wir jemanden behandeln, dessen schwere Anomalie schnell zum Tod führen kann. Bei Patienten, deren Anomalien dazwischen liegen, ist auch der potenzielle Nutzen moderat. Wie Sie wissen, führt ein leicht erhöhter Blutdruck mit viel geringerer Wahrscheinlichkeit zu einem Herzinfarkt oder Schlaganfall als ein sehr hoher Blutdruck; deshalb ist der potenzielle Nutzen einer Diagnose und Therapie bei einem Patienten wie Mr. Bailey (der einen leichten systolischen Bluthochdruck hatte) viel geringer als bei einem Patienten wie Mr. Lemay (der mit Brustschmerzen und einem sehr hohen Blutdruck ins Krankenhaus kam). Aber die Beziehung zwischen dem Grad der Anomalie und dem potenziellen Nutzen der Diagnose beschränkt sich nicht auf Bluthochdruck. Diese einfache Beziehung gilt für fast alle medizinischen Probleme. Und da mit Ausnahme von Mr. Lemay alle Patienten auf unserer morgendlichen Runde leichte Anomalien aufweisen, ist der potenzielle Nutzen einer Diagnose und Behandlung notwendigerweise für alle gering (oder gleich null).
Tabelle 12.1 Zusammenfassung möglicher Vor- und Nachteile für die in diesem Buch erwähnten Patienten
Patient(in) |
DiagnostizierteAnomalie |
Möglicher Nutzen |
Wahrscheinlichkeit einer Überdiagnose |
Erlittene Schäden |
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Mr. Lemay 57 Jahre alt, Brustschmerzen (Kapitel 1) |
Schwerer Bluthochdruck |
Drastisch reduziertes Krankheitsrisiko (Schlaganfall, Herzinfarkt oder Tod) innerhalb der nächsten 5 Jahre: von 80 % auf 8 % |
Null (Er hatte Krankheitssymptome) |
Minimal: Lästige Behandlung |
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Mr. Bailey 82 Jahre alt, Bauer in Vermont |
Leichter Bluthochdruck |
Reduziertes Krankheitsrisiko (Schlaganfall, Herzinfarkt oder Tod) innerhalb der nächsten 5 Jahre: von 18 % auf 13 % |
Gering |
Mittel: Ohnmacht, weil das Medikament den Blutdruck zu stark senkte |
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Mr. Roberts 74 Jahre alt, gut behandelte Colitis ulcerosa (Kapitel 2) |
Leichter Diabetes |
Reduziertes Risiko für Diabeteskomplikationen |
Fast sicher (Er wurde seither nicht mehr behandelt und hatte nie wieder Symptome) |
Schwer: Brach sich den Hals, weil er beim Fahren bewusstlos wurde. Das Medikament senkte den Blutdruck zu stark. |
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Lara 65 Jahre alte New Yorkerin, die Sommerurlaub in Vermont macht (Kapitel 2) |
Osteopenie Vielleicht Schilddrüsenkrebs |
Keiner bekannt |
Hoch |
Mittel: Speiseröhrenentzündung und Ausschlag als Nebenwirkung von Medikamenten, Angst vor Schilddrüsenkrebs, viele Tests und Nachuntersuchungen |
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Isaac 50 Jahre alter Onkologe und Wissenschaftler (Kapitel 4) |
Prostatakrebs im Frühstadium, durch PSA-Test entdeckt |
Keiner, allenfalls geringfügig reduziertes Risiko, an Prostatakrebs zu sterben (etwa 1 Mann von 1000 profitiert vom Screening) |
Hoch (50 Mal wahrscheinlicher, als der Eine zu sein, der profitiert |
Mittel: Müdigkeit beeinträchtigt 6 Wochen lang die Arbeit Schwer: Impotenz |
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Mr. Baker 60 Jahre alt, Heiserkeit (Kapitel 7) |
Zufällig entdeckter Nierenkrebs |
Keiner bekannt |
Sicher (Wurde nie behandelt, hatte nie Symptome, starb an anderen Krankheiten) |
Mittel: Diagnose Nierenkrebs und damit verbundene Untersuchungen, Angst (Anmerkung: Der Schaden hätte groß sein können, wenn er unnötig operiert worden wäre – Nierenversagen, Dialyse, sogar Tod) |
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Natalie Angier Schwangere Wissenschaftsreporterin bei der New York Times (Kapitel 8) |
Baby mit einem Klumpfuß |
Keiner bekannt |
Sicher (Baby hatte keinen Klumpfuß) |
Schwer: Große Angst und seelische Belastung während einer Schwangerschaftshälfte |
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Ms. Smith Hypothetische 20-Jährige, die sich einem Genom-Scan unterzieht (Kapitel 9) |
Verschiedene »Risiken« für künftige Krankheiten |
Keiner bekannt |
Hoch |
Unbekannt: Angst vor der Zukunft, Folgetests, vielleicht Therapien |
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Michael Reporter bei einem Männermagazin (Kapitel 11) |
Blutgerinnsel in einer Lunge |
Reduziertes Risiko für weitere Gerinnsel |
Hoch |
Mittel: Folgetests und Therapien Schwer: Angst vor Krebs |
Und wie steht es mit den Schäden? Sie sind unvermeidlich. Manchmal sind sie banal, manchmal schwer; aber sie hängen mit dem Grad der Anomalie stets viel loser zusammen als der Nutzen. Die Angst nach der Diagnose wird wahrscheinlich weitaus stärker durch die Etikettierung (zum Beispiel: »Sie haben Krebs«) und die individuelle Reaktion darauf beeinflusst als vom tatsächlichen Grad der Anomalie. Auch die Unannehmlichkeiten durch nachfolgende Untersuchungen und Behandlungen sind ziemlich unabhängig vom Grad der Anomalie und hängen eher mit der empfohlenen Therapie und deren Durchführung zusammen. Die Beziehung zwischen dem Grad der Anomalie und der dritten Schadenskategorie – schädliche Nebenwirkungen medizinischer Maßnahmen – ist variabler. Schäden sind wahrscheinlicher, wenn Anomalien schwer sind. Wenn ein Patient eine schwere Anomalie aufweist, ist beispielsweise die Gefahr negativer Operationsfolgen meist größer, weil der Eingriff komplizierter ist und weil mehr schiefgehen kann. Bei Krankheiten, die anhand von Zahlen definiert werden, etwa bei Bluthochdruck und Diabetes, kann das Risiko, durch die Nebenwirkungen der Medikamente einen Schaden zu erleiden, bei Patienten mit geringeren Anomalien durchaus größer sein. Bei Menschen wie Mr. Bailey ist die Gefahr, dass ein Medikament den Blutdruck zu stark senkt und sie ohnmächtig werden, größer als bei Patienten wie Mr. Lemay. Der Grund dafür ist einfach: Mr. Baileys Blutdruck war von vornherein relativ niedrig, während Mr. Lemay einen so hohen Blutdruck hatte, dass das Medikament ihn kaum zu stark senken konnte.
Unser Fazit lautet also: Während der potenzielle Nutzen einer Diagnose und Behandlung eng mit dem Grad der Anomalie zusammenhängt, gilt dies für die Schäden durch Diagnosen und Therapien viel weniger. Abbildung 12.1 illustriert diese Beziehungen: Die Linie für den potenziellen Nutzen steigt steil an, wenn die Anomalien schwerer werden, während die Linie für die Schäden flach bleibt (weil sie auch leicht ansteigen, leicht fallen oder irgendwo dazwischen liegen könnte).1

Abbildung 12.1 Zusammenhang zwischen dem Grad der Anomalie und dem potenziellen Nutzen oder Schaden einer Diagnose und Behandlung
Theoretisch könnten wir den Nettoeffekt einer Diagnose einfach ausrechnen: Nettoeffekt = Nutzen – Schaden. Die Praxis ist allerdings viel komplexer. Wenn nämlich die Therapie nicht wirkt, kann der tatsächliche Nutzen viel geringer sein als der potenzielle. Zudem sind oft keine verlässlichen Zahlen über den Nutzen und den Schaden verfügbar. Und schließlich ist es schwierig, Nutzen und Schaden abzuwägen, wenn sie sehr unterschiedlich sind (Beispiel: Wie viele zusätzliche Arzttermine und Ohnmachtsanfälle würden Sie in Kauf nehmen, um Ihr Herzinfarktrisiko ein wenig zu senken?). Aber diese Komplexität sollte uns nicht von einem ziemlich klaren Leitprinzip ablenken. Patienten mit den größten Anomalien erzielen mit größter Wahrscheinlichkeit einen Nettonutzen, und Patienten mit den kleinsten Anomalien erzielen mit größter Wahrscheinlichkeit einen Nettoschaden. In Abbildung 12.2 wird dieser Grundsatz durch die schattierten Flächen zwischen den Linien dargestellt.
Das ist ein einfaches Prinzip. Bei schweren Anomalien müssen wir handeln, weil ein Nettonutzen wahrscheinlich ist. Bei leichten Anomalien kann die beste Strategie jedoch darin bestehen, nichts zu unternehmen, weil sonst ein Nettoschaden droht – vielleicht ist es sogar besser, gar nicht erst nach leichten Anomalien zu suchen.

Abbildung 12.2 Zusammenhang zwischen dem Grad der Anomalie und dem Nettoeffekt einer Diagnose und Behandlung
Wie die Suche nach leichten Anomalien beginnt – das Problem der exzessiven Extrapolation
Man sollte meinen, alle Ärzte würden diesen Zusammenhang verstehen. Aber das ist nicht der Fall. Trotz der Feinheiten und der Balanceakte rund um die Früherkennung sind die meisten Bemühungen, auch leichtere Anomalien zu diagnostizieren, unter den Medizinern kaum umstritten. In der Regel werden sie sogar befürwortet. Dahinter verbirgt sich in etwa folgende Logik: Zuerst stellen Mediziner fest, dass eine bestimmte Maßnahme die Wirkung einer Therapie bei einer Hochrisikogruppe deutlich verbessert. Dann stellt jemand folgende Hypothese auf: Was für eine Gruppe an der »schweren Seite« des Grades der Anomalie (die Hochrisikogruppe) gut ist, das ist für eine Gruppe an der »leichten Seite« (die Niedrigrisikogruppe) wahrscheinlich ebenfalls gut. Das ist ein Problem der exzessiven Extrapolation.
Das Problem mit der Extrapolation von schwer nach leicht besteht darin, dass wir in der Praxis oft nicht wissen, ob Menschen mit leichten Anomalien den gleichen gravierenden Nutzen haben. Unter gravierendem Nutzen verstehe ich die Verhinderung des Todes oder erheblicher Krankheitskomplikationen (zum Beispiel einer Hüftfraktur oder eines fortgeschrittenen Karzinoms). Diese Ereignisse kommen bei Menschen mit leichten Anomalien so selten vor, dass wir sehr umfangreiche Studien bräuchten, um herauszufinden, ob eine Behandlung für diese Gruppe tatsächlich einen gravierenden Nutzen hat. Solche Studien müssten vielleicht größer sein, als es vernünftigerweise möglich ist.2 Deshalb konzentrieren sich die Wissenschaftler ersatzweise auf unbedeutendere, aber leichter messbare Effekte, etwa auf die Knochendichte oder den PSA-Wert. Selbst Effekte, die auf den ersten Blick wichtig erscheinen, können in Wirklichkeit zweideutig sein. Das gilt zum Beispiel für Kompressionsfrakturen der Wirbelsäule (die sich bei manchen Patienten bemerkbar machen, bei anderen nicht) und die Entwicklung kleiner Karzinome (die manchmal wachsen, manchmal nicht). Bei diesen zweideutigen, ersatzweise erforschten Effekten mag ein Nutzen der Therapie belegbar sein; aber es gibt keinen eindeutigen Beweis für den Nutzen, auf den es ankommt, nämlich, ob es den Patienten besser geht oder ob sie länger leben. Wir müssen vielmehr glauben, dass der bewiesene messbare Nutzen auf einen gravierenden Nutzen schließen lässt. Aber ein realer Nutzen ist bestenfalls klein und ungewiss, und die ebenfalls vorhandenen Nachteile – negative Folgen der Diagnose und der medizinischen Maßnahmen sowie Unannehmlichkeiten – können durchaus schwerer wiegen (allerdings werden diese Schäden meist nicht einmal zur Kenntnis genommen und erst recht nicht gemessen).
Sobald jemand entschieden hat, dass eine Gruppe mit niedrigem Risiko den gleichen Nutzen haben muss wie eine Gruppe mit hohem Risiko, ist der Weg für mehr Diagnosen bereitet. Und wenn Ärzte dem Aufruf folgen, was sie meist tun, ist auch der Weg für weiteren Schaden bereitet. Da »mehr Diagnosen« immer bedeuten, dass wir auch bei Menschen mit geringeren Anomalien – die seltener zu Symptomen oder zum Tod führen – Diagnosen stellen, produzieren wir oft Überdiagnosen. Und da wir nicht wissen, bei wem eine Überdiagnose vorliegt, neigen wir dazu, alle zu behandeln. Patienten, die Opfer einer Überdiagnose wurden, können von einer Behandlung nicht profitieren; sie können nur Schaden erleiden. Deshalb ist ein Nettoschaden bei »neuen« Patienten, die dank zusätzlicher Diagnosen identifiziert wurden, viel wahrscheinlicher als bei den Patienten, die vor der Diagnoseflut untersucht wurden.
Mehr Diagnosen setzen einen Kreislauf in Gang, der sich selbst verstärkt und Ärzte veranlasst, noch mehr zu diagnostizieren. Mit anderen Worten: Es handelt sich um eine positive Rückkopplung3, um einen Zyklus, in dem irgendein Effekt sich selbst reproduziert und dadurch den Eingangseffekt verstärkt. Abbildung 12.3 zeigt, wie mehr Diagnosen zu mehr Diagnosen führen. Dieser Vorgang lässt sich so beschreiben: Jemand macht sich einer exzessiven Extrapolation schuldig und schlägt etwas vor, was zu mehr Diagnosen führt – zum Beispiel eine Ausweitung des Screenings, eine weiter gefasste Definition des Begriffs »abnorm« oder mehr Untersuchungen im Allgemeinen. Sofort fällt den Ärzten auf, dass es mehr Anomalien gibt, als sie bisher gedacht haben. Das allein führt zu mehr Diagnosen. Dann folgen Gesundheitsstatistiken, bezogen auf die Gesamtbevölkerung, die zeigen, wie viele Menschen die Krankheit haben (Prävalenz) oder bei wie vielen die Krankheit neu diagnostiziert wurde (Inzidenz). Auf einmal scheint die Bevölkerung kränker zu sein, als man bisher angenommen hat. Jemand benutzt das Wort epidemisch. Um keine Krankheitsfälle zu übersehen, werden mehr Diagnosen empfohlen. Gleichzeitig verlagert sich der Grad der festgestellten Anomalien hin zu den leichteren Formen. Auch das fällt den Ärzten auf. Sie sehen, dass die Krankheit eines typischen »Patienten« milder ist als früher und dass der Krankheitsverlauf meist günstiger ist. Das ist in ihren Augen ein Fortschritt – eine Folge der besseren medizinischen Versorgung –, und darum stellen sie noch mehr Diagnosen. Bald scheint sich die Statistik (zum Beispiel die Überlebenszeit nach fünf Jahren) zu verbessern. Jemand spricht von geretteten Menschenleben. Um noch mehr Leben zu »retten«, werden noch mehr Diagnosen empfohlen.

Abbildung 12.3 Der sich selbst verstärkende Kreislauf, der Ärzte veranlasst, mehr zu diagnostizieren
Der sich selbst verstärkende Kreislauf
Mehr Diagnosen, die darauffolgende »Epidemie« und die Behauptung, dass Früherkennung Leben retten kann, führen dazu, dass auch die Bevölkerung mehr Diagnosen einfordert. Sie wurde ja entsprechend präpariert und von Ärzten, Politikern, Medien und vielleicht sogar von ihren Müttern mit Aussagen über den Wert der Untersuchung überschüttet. Die Menschen werden nicht ermutigt, solche Behauptungen kritisch zu prüfen, und niemand hat ihnen beigebracht, wie man beurteilt, ob diese Aussagen solide Wissenschaft oder lediglich Propaganda sind. Daher werden immer mehr Menschen untersucht, und überraschenderweise fördern auch die Untersuchungsergebnisse weitere Untersuchungen. Dies ist der zweite sich selbst verstärkende Kreislauf, dargestellt in Abbildung 12.4. Er hängt nicht davon ab, ob die Ergebnisse normal oder anormal sind. Und er beeinflusst nicht nur die untersuchten Personen, sondern auch diejenigen, die ihre Geschichten hören, zum Beispiel Freunde, Angehörige und Bekannte.

Abbildung 12.4 Der sich selbst verstärkende Kreislauf, der immer weitere Tests nach sich zieht – egal wie die Testergebnisse ausfallen.
Um diesen Kreislauf zu verstehen, stellen Sie sich vor, dass Sie keine Symptome haben und dennoch zum Screening gehen. Beginnen wir mit dem häufigsten Untersuchungsergebnis: Ihr Befund ist normal. Um Sie überhaupt zur Untersuchung zu bewegen, hat jemand (ein Arzt, ein Freund, der Autor eines Zeitschriftenartikels oder der Initiator einer Anzeigenkampagne) angedeutet, dass mit Ihnen vielleicht etwas nicht stimmt und dass die Abweichung schwerwiegende Folgen haben könnte, obwohl Sie derzeit keine Symptome haben. Aber die Untersuchungsergebnisse waren ja normal, sodass keine Gefahr besteht. Sie fühlen sich wieder gut und sind vom Screening begeistert, genau so wie andere Menschen in der gleichen Situation. Es ist leicht zu verstehen, wie dieser Prozess abläuft. Angenommen, Sie hören von einer neuen Gehirn-Screening-Kampagne. Solche Kampagnen gibt es. Die Brain Tumor Foundation brachte beispielsweise vor Kurzem ihren mobilen Gehirn-Scanner zum Kapitol, in der Hoffnung, die Gehirne der amerikanischen Politiker auf Tumore untersuchen zu können (natürlich auch, um für das Programm »Road to Early Detection« zu werben). Auf der Website der Stiftung lesen wir:
Tatsache ist, dass mehr als die Hälfte aller Patienten mit einem Gehirntumor diesen erfolgreich hätten entfernen lassen können, wenn er frühzeitig entdeckt worden wäre, noch ehe Symptome auftraten. Und die einzige Möglichkeit, einen Tumor frühzeitig zu entdecken, ist eine Kernspinuntersuchung. Wenn wir dafür sorgen, dass Gehirntumore früh entdeckt und behandelt werden, können wir vielleicht Tausenden von Menschen das Leben retten.
Wir sind heute daran gewöhnt, uns routinemäßig auf Brust-, Darm-, Prostatakrebs und andere Krebsarten untersuchen zu lassen – warum also nicht auf Gehirntumore?4
Wie würden Sie reagieren, wenn Sie etwas Ähnliches lesen würden?
Erstens würden Sie vielleicht Angst bekommen – vielleicht haben Sie ja einen Gehirntumor! Noch größere Sorgen machen Sie sich, wenn Sie hören, dass bei jemandem ein Gehirntumor entdeckt wurde, etwa bei einem Freund oder bei einem Prominenten (zum Beispiel bei dem verstorbenen Senator Kennedy, bei dem diese Diagnose einige Monate, bevor der mobile Scanner in Washington ankam, gestellt wurde). Also lassen Sie sich scannen und werden ein wenig nervös, als Ihr Kopf ins Rohr geschoben wird. Ihre Besorgnis wächst, während Sie auf das Ergebnis warten. Auf einmal kommt es Ihnen wahrscheinlicher vor, ein tödliches Karzinom zu haben. Und jetzt stellen Sie sich vor, man teilt Ihnen mit, dass Sie keinen Gehirntumor haben. Sie sind erleichtert. Sie wissen, dass Sie gesund sind. Die Untersuchung war richtig, weil sie diese Tatsache nochmals bestätigt hat. Deshalb ist es vernünftig, sie eines Tages zu wiederholen, damit Sie sicher sein können, dass Sie gesund sind. Außerdem wollen Sie das Screening auch Ihren Freunden empfehlen.
Aber was ist wirklich geschehen? Im Grunde hat Ihnen das System, das für die Früherkennung wirbt, eine gewisse Angst eingeflößt und sie dann wieder beseitigt. Manche Leute haben darauf hingewiesen, dass die Beruhigung im Wesentlichen eine Illusion ist; denn eine einzige Untersuchung mit negativem Befund hat kaum einen Einfluss auf Ihr Risiko, an Krebs zu sterben.5 Trotzdem verstärkt die beruhigende Wirkung des Untersuchungsergebnisses »normal« die Bereitschaft, sich später erneut untersuchen zu lassen. Dafür gibt es noch einen zweiten Grund: Wenn Ihre Angst vor einer Krankheit erst einmal geweckt wurde, wollen Sie sich auch in Zukunft die Chance nicht entgehen lassen, diese Angst loszuwerden. Wenn Sie nicht zum Screening gehen und krank werden, halten Sie das sogar für Ihren eigenen Fehler.6 Diese »vorweggenommene Reue« fördert weitere Untersuchungen ebenfalls.
Nehmen wir nun an, das Untersuchungsergebnis ist falsch-positiv; das heißt, Sie werden zunächst als krank definiert, die Diagnose erweist sich jedoch später als falsch. Solche falsch-positiven Diagnosen kommen am häufigsten bei der Krebsfrüherkennung vor (sie machen etwa 5 bis 15 Prozent aller Diagnosen aus).7 In diesem Fall bedeutet der falsche Alarm, dass Ihr Gehirn-Scan eine Anomalie aufweist – eine kleine Geschwulst könnte Krebs sein. Das ist ziemlich beängstigend. Damit die Ärzte genau feststellen können, worum es sich bei dieser Geschwulst handelt, ist eine Gehirnbiopsie erforderlich. Ein Chirurg bohrt ein Loch durch den Schädel und entnimmt mit einer sehr dünnen Nadel eine Gewebeprobe. Alles geht gut, und es stellt sich heraus, dass es sich nicht um Krebs handelt. Ihre Erleichterung ist groß, und Sie sind unendlich dankbar dafür, noch einmal davongekommen zu sein. (Wie ein Freund von mir, ein Onkologe, scherzhaft zu sagen pflegte, könnten wir die gesamte Bevölkerung glücklich machen, wenn wir allen mitteilen würden, ihr Untersuchungsbefund deute auf Krebs hin, um eine Woche später einzuräumen, dass wir uns geirrt hätten.)
Nun sollte man meinen, ein falscher Alarm schrecke vor weiteren Untersuchungen ab. Doch interessanterweise ärgern sich nur wenige Menschen über die vorübergehende Angst. In einer landesweiten Umfrage, die meine Koautoren und ich durchführten, bezeichneten mehr als 40 Prozent der Amerikaner, die nach einer Krebsvorsorgeuntersuchung einen falschen Alarm erlebt hatten, diese Erfahrung als »sehr beängstigend« oder als »die schlimmste Zeit meines Lebens«. Dennoch sagten fast alle im Rückblick, sie seien »froh« darüber, dass man sie untersucht habe.8 Die enorme Erleichterung nach einem falschen Alarm und die verbleibende Angst um die Gesundheit, die manche Menschen empfinden,9 sind ein Ansporn für weitere Untersuchungen.
Aber was ist, wenn es sich nicht um einen Fehlalarm handelt? Wenn Sie erfahren, dass Sie wirklich krank sind, in diesem Fall, dass Sie einen Gehirntumor haben? Selbst dann bekommen Sie vielleicht zu hören, es gebe auch gute Nachrichten. Auf der Website der Brain Tumor Foundation erfahren wir: »Es ist eine Tatsache, dass mehr als die Hälfte aller Patienten mit einem Gehirntumor diesen erfolgreich hätten entfernen lassen können, wenn er frühzeitig entdeckt worden wäre.« (Anmerkung: Für diese Behauptung gibt es keine Belege, und ich habe auch keinen gefunden – allerdings ist die Aussage völlig plausibel, wenn bei der Hälfte der Patienten eine Überdiagnose vorlag.) Also lassen Sie sich operieren. Wenn alles gut geht, nehmen Sie an, dass Sie der Früherkennung Ihr Leben verdanken. Alle nehmen das an. Dies ist das stärkste positive Feedback für weitere Untersuchungen. Natürlich gehen die Ärzte davon aus, dass der Tumor Sie umgebracht hätte. In Wahrheit weiß niemand, ob es sich um einen tödlichen Krebs handelte oder um eine Überdiagnose.
Besonders ironisch ist, dass ein Vorsorgeprogramm umso beliebter wird, je mehr Überdiagnosen es produziert.10 Mehr Überdiagnosen machen es zunehmend wahrscheinlicher, dass die Menschen jemanden kennen, bei dem die Krankheit festgestellt wurde. Dadurch steigt das Gefühl, in Gefahr zu sein – und die Untersuchung wird noch wichtiger. Außerdem führen mehr Überdiagnosen dazu, dass mehr Menschen glauben, ihr Leben oder das Leben anderer, ihnen bekannter Menschen sei dem Screening zu verdanken. Das ist ein noch wichtigerer Anreiz, sich untersuchen zu lassen. Denken Sie daran, dass es Menschen, die Opfer einer Überdiagnose wurden, meist außergewöhnlich gut geht; es ist daher kein Wunder, dass sie glauben, ihr Leben sei gerettet worden, weil die Krankheit früh entdeckt wurde. Sobald der Kreislauf einmal begonnen hat, bleiben diese Einflüsse erhalten, selbst wenn keine anderen Faktoren das Screening fördern (zum Beispiel finanzielle Interessen oder wirkliche Überzeugung). Dann wird es schwer, etablierte Vorsorgeuntersuchungen abzuschaffen, auch wenn die Mediziner das für richtig halten. Einerlei, welche Erfahrungen die Menschen machen, sie neigen dazu, sich noch öfter untersuchen zu lassen.11
Orkanprävention – eine Analogie
Der Gedanke, dass die Früherkennung womöglich mehr schadet als nützt, widerspricht unserer Intuition. Manchmal müssen wir uns woanders umschauen, um das große Ganze zu erkennen. Vor ein paar Jahren, nach den schrecklichen Orkanen des Jahres 2005, las ich, jemand habe die Idee, Wirbelstürmen vorzubeugen. Sofort dachte ich: Das ist eine ausgesprochen passende Analogie zur bevorzugten Methode der Ärzteschaft: der Verhütung von Krankheiten. Hier ist ein Auszug aus dem Artikel in der Washington Post:
Mosche Alamaro macht einen bescheidenen Vorschlag. Man nehme eine Flotte von Ozeanfrachtkähnen und montiere auf jeden 10 oder 20 Strahltriebwerke mit dem Heck nach oben. Die Kähne sind mit Flugzeugbenzin gefüllt und werden auf die Bahn eines sich nahenden Orkans geschleppt. Dort zündet man die Triebwerke.
Wenn alles läuft wie geplant, lösen die Triebwerke kleine Tropenstürme aus, »Wie ein Gegenfeuer«, sagt Alamaro. Sie senken die Temperatur der Meeresoberfläche ein wenig und rauben dem echten Orkan Energie, wenn er sich der Küste nähert.12
Was die Ingenieure vorgeschlagen haben, glich einer Methode, die Feuerwehrleute im amerikanischen Westen anwenden, um Waldbrände zu bekämpfen: Gegenfeuer. Ein Gegenfeuer ist ein Feuer, das absichtlich auf dem Weg eines Wildfeuers angezündet wird. Es verzehrt das, was ein Waldbrand braucht, um weiter zu brennen: Sauerstoff und Brennstoff. Ein »Gegenorkan« verzehrt, was ein Wirbelsturm braucht, um sich weiter drehen zu können: Hitze. Selbst eine kleine Störung könnte den Weg eines Orkans ändern.
Das ist eine faszinierende Idee. Die Ingenieure räumten allerdings ein, dass sie nicht wussten, ob sie wirklich praktikabel ist. Wirbelstürme sind groß, wenn sie den Golf von Mexiko erreichen – sie haben oft einen Durchmesser von mehreren hundert Kilometern und eine gigantische Energie. Man bräuchte eine Menge Gegenorkane, um sie zu beeinflussen. Das war den Ingenieuren klar. Deshalb dachten sie über eine andere Lösung nach. Wirbelstürme sind klein, wenn sie sich bilden, meist vor der Küste Westafrikas. Wenn man Kähne mit Flugzeugtreibstoff rechtzeitig über den Atlantik schaffen könnte, bräuchte man weniger Gegenorkane, um die Wirbelstürme dort zu entschärfen. Mit anderen Worten: Man könnte sie leichter bekämpfen, wenn man sie früher erwischen würde. Kommt Ihnen das bekannt vor? Es ist die Begründung für die Früherkennung.
Immerhin war den Ingenieuren bewusst, welche Nebenwirkungen diese Methode auslösen würde. Ja, man könnte vielleicht einen verheerenden Wirbelsturm (wie den Hurrikan Katrina, der New Orleans vernichtete, oder den Großen Hurrikan, der 1938 weite Teile New Englands in Trümmer legte) verhindern, könnte zugleich aber mit den Gegenorkanen weitere Wirbelstürme und unberechenbare Folgen verursachen.
»Das Problem ist, dass wir zwischen Energie und Information abwägen müssen«, sagte [Kerry] Emanuel. »Je früher wir eingreifen, desto kleiner ist die benötigte Energie, aber umso schwerer ist die Wirkung vorhersehbar.«
Unvorhersehbar … Es könnte sein, dass wir den Weg eines Orkans ändern, der sich über dem Nordatlantik aufgelöst hätte, und ihn nun direkt in Richtung Miami umlenken. Das ist das Dilemma der Früherkennung.