Einführung
Unsere Diagnosebegeisterung
Mein erstes Auto war ein Ford Fairlane Kombi Baujahr 1965, ein ziemlich einfacher, wenn auch großer Wagen. Unter der Motorhaube war viel Platz, und es gab wenig Elektronik, abgesehen von einem Motortemperatur- und einem Öldruckanzeiger.
Bei meinem 99er-Volvo ist das ganz anders. Es gibt keinen Leerraum unter der Haube – aber eine Menge Elektronik. Und dann sind da noch etliche Warnlämpchen, die so viele verschiedene Funktionen meines Autos überwachen, dass sie mit einem internen Computer verbunden sein müssen, damit dieser feststellt, ob etwas nicht in Ordnung ist. Zweifellos sind die Autos im Laufe meines Lebens besser geworden. Sie sind sicherer, bequemer und zuverlässiger. Die Technik ist besser. Aber ich bin mir nicht sicher, ob diese Verbesserungen viel mit all diesen kleinen Warnlampen zu tun haben.
Die Motorkontrollleuchten – rote Symbole, die darauf hinweisen, dass mit dem Fahrzeug vielleicht etwas nicht stimmt – sind allmählich ziemlich ausgeklügelt. Sie entdecken Störungen, lange bevor die Leistung des Autos nachlässt. Sie stellen Frühdiagnosen.
Vielleicht sind Ihre Störungsanzeiger sehr nützlich. Vielleicht hat einer von ihnen bewirkt, dass Sie etwas Wichtiges getan (zum Beispiel Öl nachgefüllt) und dadurch ein künftiges viel größeres Problem verhindert haben.
Oder haben Sie die gegenteilige Erfahrung gemacht? Motorkontrollleuchten können auch Probleme hervorrufen. Manchmal lösen sie einen falschen Alarm aus (immer wenn ich über eine große Unebenheit fahre, warnt mich ein Signal vor einem Fehler im Kühlsystem). Oft reagieren die Leuchten auf eine echte Störung, die jedoch nicht besonders wichtig ist (mein Favorit ist der Sensor, der aufleuchtet, wenn er merkt, dass ein anderer Sensor nicht funktioniert). Neulich gab sogar mein Mechaniker zu, dass man viele Signale wahrscheinlich ignorieren sollte.
Vielleicht haben Sie selbst schon beschlossen, diese Sensoren zu ignorieren. Oder Sie haben Ihr Auto in die Werkstatt gebracht, und der Mechaniker hat sie einfach neu eingestellt und Ihnen geraten abzuwarten, ob sie sich wieder melden.
Vielleicht haben Sie auch die unangenehme Erfahrung gemacht, dass Sie eine oder gar mehrere unnötige Reparaturen bezahlen mussten. Und vielleicht gehören Sie zu den paar Unglücklichen, deren Auto hinterher noch schlechter funktionierte.
Wenn ja, dann haben Sie bereits eine Vorstellung vom Problem der Diagnosefalle.
Ich weiß nicht, welchen Vorteil all diese Lampen unterm Strich haben. Vielleicht schaden sie mehr, als sie nützen. Aber ich weiß, dass es an ihrem Nutzen für die Autohäuser kaum einen Zweifel gibt: Wir fahren jetzt viel öfter in die Werkstatt.
Und ich weiß, dass wir Ärzte, wenn wir Sie gründlich genug untersuchen, mit ziemlicher Sicherheit entdecken, dass auch eine Ihrer Warnlampen blinkt.
Eine Routineuntersuchung
Wahrscheinlich blinken auch bei mir einige Warnlampen. Ich bin ein Mann Mitte fünfzig und war seit meiner Kindheit nicht mehr wegen einer Routineuntersuchung bei einem Arzt. Ich will damit nicht prahlen, und ich rate niemandem, meinem Beispiel zu folgen. Da ich mich jedoch bester Gesundheit erfreue, kann man kaum behaupten, ich hätte irgendeine unentbehrliche Dienstleistung verpasst.
Natürlich sehe ich als Arzt jeden Tag andere Ärzte. Viele von ihnen sind meine Freunde (zumindest waren sie es, bevor sie von diesem Buch hörten). Und ich kann mir einige Diagnosen ausmalen, die man mir als Patient in einer ihrer Kliniken (oder in meiner eigenen) stellen würde:
- • Ab und zu ist mein Blutdruck ein wenig hoch, vor allem wenn ich ihn bei der Arbeit messe (wo Blutdruckmesser leicht verfügbar sind).
Diagnose: grenzwertiger Blutdruck
- • Ich bin 1,92 Meter groß und wiege 92 Kilo. Mein Body-Mass-Index (BMI) ist 25. (Ein »normaler« BMI liegt zwischen 20 und 24,9.)
Diagnose: Übergewicht
- • Gelegentlich spüre ich nach dem Essen oder Trinken ein starkes Brennen in der Mitte des Brustkorbs. (Apfelsaft und Apfelessig sind besonders problematisch.)
Diagnose: gastroösophageale Refluxkrankheit
- • Oft wache ich nachts einmal auf und muss auf die Toilette gehen.
Diagnose: gutartige Prostatavergrößerung
- • Morgens wache ich mit steifen Gelenken auf, und ich brauche eine Weile, um sie zu lockern.
Diagnose: degenerative Gelenkerkrankung
- • Meine Hände werden kalt. Richtig kalt. Das ist ein großes Problem, wenn ich Ski fahre oder mit Schneeschuhen gehe; aber es passiert auch in der Praxis (fragen Sie meine Patienten!). Kaffee macht es schlimmer, Alkohol besser.
Diagnose: Raynaud-Syndrom
- • Ich muss Listen anfertigen, damit ich nicht vergesse, was ich zu erledigen habe. Oft vergesse ich Namen – vor allem die meiner Studenten. Ich muss alle meine PINs und Passwörter aufschreiben (falls jemand sie braucht: Sie sind in meinem Computer).
Diagnose: frühe kognitive Beeinträchtigung
- • In meinem Haus gehören Tassen in ein Regal, Gläser in ein anderes. Meine Frau versteht das nicht; darum muss ich für Ordnung sorgen, wann immer sie den Geschirrspüler leert. (Meine Tochter leert den Geschirrspüler gar nicht, aber das ist ein anderes Thema.) Ich habe separate Schubladen für meine Arbeitssocken, Laufsocken und Wintersocken, und alle müssen paarweise vorhanden sein, ehe ich sie wegräume. (Es gibt noch wesentlich mehr Beispiele dieser Art, von denen Sie nichts wissen möchten.)
Diagnose: Zwangsstörung
Na schön, ich gebe zu, dass ich mir eine gewisse dichterische Freiheit herausgenommen habe und glaube nicht, dass mir jemand die psychiatrischen Diagnosen tatsächlich gestellt hätte (zumindest niemand außerhalb meines engsten Familienkreises). Aber die ersten paar Diagnosen ließen sich durchaus und bereits nach einer genauen Befragung und einigen einfachen Messungen (Größe, Gewicht, Blutdruck) stellen. Weitere Diagnosen sind möglich, wenn ein Arzt mich einem von vielen möglichen Tests unterziehen würde. Selbst eine routinemäßige Blutuntersuchung – ein vollständiges Blut- und Elektrolytbild nebst Leberfunktionstest – erfordert mehr als zwanzig einzelne Messungen. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass ich mindestens einen abnormen Wert hätte.
Und dann gibt es noch bildgebende Verfahren. Bei vielen Menschen sind auf Röntgenbildern »Anomalien« erkennbar. Würde ich mich röntgen lassen, wäre ich nicht überrascht, wenn ein kleiner Lungenknoten zu sehen wäre. Und es würde mich auch nicht wundern, wenn man bei einer Computertomografie eine Nierenzyste fände.
Weitere Untersuchungen könnten noch mehr enthüllen. Eine Darmspiegelung würde vielleicht zeigen, dass ich Polypen habe – so wie etwa ein Drittel meiner Altersgenossen. Eine Prostatabiopsie könnte ein kleines Karzinom nachweisen – das viele Männer haben, selbst wenn ihr PSA-Test (die Abkürzung steht für »prostataspezifisches Antigen«) einen normalen Wert ergibt. Und man kann darauf wetten, dass mein Genom allerlei genetische Varianten enthält.
Bleiben wir fair. Die meisten Ärzte würden kein bildgebendes Verfahren verordnen. Einige würden sogar auf den Routinebluttest verzichten. Trotzdem hätten mehrere dieser Diagnosen gestellt werden können.
Ginge es mir mit diesen Diagnosen besser? Ich glaube nicht. Würde man mir Medikamente verschreiben? Wahrscheinlich. Würde ich das für gute Gesundheitsfürsorge halten? Eher für eine schlechte. Doch genug von mir. In diesem Buch geht es um die Millionen Amerikaner, die Zugang zur – wie manche behaupten – besten medizinischen Versorgung der Welt haben. Natürlich gibt es auch Millionen Amerikaner, die nicht versichert und daher erheblich schlechter versorgt sind. Das ist ein echtes Problem, aber nicht Thema dieses Buches. Die zuletzt Genannten sind von den hier beschriebenen Problemen sogar weniger betroffen, einfach weil sie seltener ärztlich betreut werden. Dieses Buch handelt von der unaufhaltsamen Expansion der Medizin und von unserer zunehmenden Neigung, Diagnosen zu stellen.
Amerikaner werden dazu erzogen, sich Sorgen über ihre Gesundheit zu machen. In uns lauern verborgene Gefahren aller Art. Und es ist gängige Meinung, dass es besser ist, diese Gefahren zu kennen, damit man etwas dagegen unternehmen kann – je früher, desto besser. Deshalb sind wir so begeistert von den erstaunlichen medizinischen Techniken, die Anomalien selbst dann feststellen, wenn wir glauben, wir seien gesund. Darum freuen wir uns auch über die Aufdeckung von Risikofaktoren, Aufklärungskampagnen über Krankheiten, Krebsvorsorgeuntersuchungen und Gentests. Amerikaner lieben Diagnosen, vor allem frühe Diagnosen.
Es überrascht nicht, dass wir heutzutage mehr Diagnosen bekommen als früher. Wir befinden uns sogar inmitten einer Diagnose-Epidemie. Und die meisten Leute finden das gut: Früherkennung rettet Leben, weil sie es uns ermöglicht, kleine Probleme zu beheben, ehe daraus große werden. Mehr noch, wir glauben, die Suche nach Problemen habe keine Nachteile.
Aber die Wahrheit ist, dass die Früherkennung ein zweischneidiges Schwert ist. Sie kann zwar einigen Menschen helfen, aber sie bringt ein verstecktes Risiko mit sich: Überdiagnosen – das Aufspüren von Anomalien, die uns ihrer Natur nach nie beeinträchtigen würden.
Länger, aber kränker leben?
Ich gehöre der Generation der Babyboomer an, die in der Zeit steigender Geburtenraten nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde. In den sechziger Jahren stellten sie sich an die Spitze wichtiger gesellschaftlicher Bewegungen, bei denen es um Bürgerrechte, Feminismus und den Protest gegen den Vietnamkrieg ging. Außerdem brachten sie die Gegenkultur jener Ära hervor: Sex, Drogen, Rock ’n’ Roll. Als sie älter wurden, bestimmten sie unsere Kultur: Sie errangen politische Macht und verdienten eine Menge Geld. Heute verspricht ihnen die Fernsehwerbung eine neue Art von Ruhestand, in dem sie ihre Träume nicht aufgeben müssen. In einem Fernsehspot des Finanzdienstleisters Ameriprise sagte der verstorbene Dennis Hopper: »Ich kann Sie mir einfach nicht beim Shuffleboard vorstellen. Wissen Sie, was ich meine?« Und dabei dröhnte im Hintergrund der dynamische Orgelriff aus dem klassischen Rockhit »Gimme Some Lovin’«, der schöne Erinnerungen an die Highschool weckt – ich liebe ihn.
Doch dann las ich einen Artikel in der Washington Post, der andeutete, dass die Babyboomer sich in der Tat auf eine neue Art von Ruhestand einstellen müssen – weil sie zusammenbrechen.1 Große landesweite Umfragen zeigen, dass sich 57 Prozent der vor dem Zweiten Weltkrieg geborenen Menschen, aber nur 50 Prozent der Babyboomer hervorragender Gesundheit erfreuen. Etwa 56 Prozent der vor dem Krieg Geborenen leiden nach eigenen Angaben beim Renteneintritt an einer chronischen Krankheit; bei den Babyboomern sind es im gleichen Alter rund 63 Prozent. Sind die Babyboomer etwa weniger gesund als ihre Eltern?
Einige Wochen später nahm ich an einer Ärztekonferenz teil, bei der ein Kollege einen Zwischenbericht über das Programm »Gesunde Menschen 2010« des amerikanischen Bundesgesundheitsministeriums vorlegte. Damit will die US-Regierung sowohl die Länge als auch die Qualität des Lebens steigern. Die Länge des Lebens wurde anhand der durchschnittlichen Lebenserwartung der Amerikaner gemessen, die Lebensqualität anhand der durchschnittlichen Zahl der Jahre, in denen die Amerikaner ohne Krankheiten leben (zum Beispiel ohne Herzkrankheiten, Schlaganfälle, Krebs, Diabetes, Bluthochdruck oder Arthritis). Der Redner legte eine Tabelle mit Daten aus den Jahren 1999 bis 2002 vor. In diesem Zeitraum erhöhte sich die Lebenserwartung um etwa sechs Monate von 76,8 auf 77,2 Jahre. Überraschend aber war, dass die Zahl der krankheitsfreien Jahre gesunken war: von 48,7 auf 47,5 Jahre.
Es schien, als sei das Programm nur ein halber Erfolg: Die Menschen lebten zwar länger, aber sie wurden früher krank. Das ist schwer zu glauben. Aber es gibt auch eine andere Erklärung: Wir leben länger und sind gesünder; aber wir bekommen öfter zu hören, wir seien krank.
Vielleicht halten manche Leute die steigende Zahl von Diagnosen (und Behandlungen) für den Preis, den die meisten von uns für eine höhere Lebenserwartung bezahlen müssen. Sie unterstellen dabei, dass frühe Diagnosen und Therapien die einzige Erklärung für die höhere Lebenserwartung sind. Da andere Aspekte (Verzicht aufs Rauchen, Ernährung, Bewegung und medizinische Hilfe für Akutkranke) jedoch wichtiger sind, ist es wahrscheinlich, dass ein Großteil dieser höheren Lebenserwartung nicht von der Zahl der Diagnosen abhängt. Und da die Länge des Lebens für viele Menschen nicht das einzige Ziel ist, wird die Frage umso bedeutsamer, ob es am Gesundheitssystem liegt, wenn Krankheiten und Invalidität in der Bevölkerung häufiger vorkommen.
Der Zweck dieses Buches
Meine Mutter glaubt zu wissen, worum es in diesem Buch geht. Sie ist fast neunzig Jahre alt und leidet an fortgeschrittener Demenz. Vor ein paar Monaten nahm sie mein erstes Buch in die Hand und las den Titel laut vor: »Should I Be Tested for Cancer?« (»Soll ich mich auf Krebs untersuchen lassen?«). Sie beantwortete diese Frage mit einem dröhnenden »Nein!« – womit sie den Inhalt des Buches auf krude Weise vereinfacht hat.
Sie fragte mich, wovon mein nächstes Buch handle. Ich versuchte es ihr zu erklären. Sie schlug »Soll ich mich auf irgendetwas untersuchen lassen?« als Titel vor. Kein sehr treffender Titel, aber er vermittelt einen Eindruck von diesem Buch. Es untersucht nämlich, ob die amerikanische Medizin heute zu viele Menschen für »krank« erklärt.
Wie bereits erwähnt, glauben die meisten Leute, mehr Diagnosen – vor allem mehr Frühdiagnosen – seien gleichbedeutend mit besserer Gesundheitsfürsorge. Die Argumentation lautet etwa so: Mehr Diagnosen bedeuten mehr Therapien, und mehr Therapien bedeuten mehr Gesundheit. Das mag auf einige Patienten zutreffen. Aber die Sache hat einen Haken: Mehr Diagnosen führen womöglich dazu, dass Gesunde sich verletzlicher und, paradoxerweise, weniger gesund fühlen. Mit anderen Worten: Übertriebenes Diagnostizieren kann bewirken, dass wir uns krank fühlen. Und mehr Diagnosen führen zu Therapieexzessen – gegen Probleme, die uns kaum oder gar nicht beeinträchtigen. Dagegen kann eine exzessive Therapie tatsächlich schaden, und exzessives Diagnostizieren kann Behandlungen zur Folge haben, die schlimmer sind als die Krankheit selbst.
In diesem Buch geht es vor allem um die Überdiagnose. Das Wort erweckt den Eindruck, als bedeute es lediglich »übertriebenes Diagnostizieren«; aber es hat auch eine präzisere Bedeutung. Eine Überdiagnose liegt vor, wenn bei einem Patienten eine Krankheit festgestellt wird, die niemals Symptome auslöst oder zum Tod führt.
Als ich vor ein paar Seiten einige Krankheiten bei mir diagnostizierte, handelte es sich also nicht in jedem Fall um eine Überdiagnose, denn ich litt ja tatsächlich an Symptomen wie Sodbrennen, kalten Händen und so weiter (trotzdem kann es sich durchaus um übertriebene Diagnosen handeln, weil meine Symptome banal waren). Allerdings waren der leicht erhöhte Blutdruck und das leicht erhöhte Gewicht völlig symptomfrei. In diesen Fällen könnte man tatsächlich von Überdiagnosen sprechen. Das Gleiche gilt für alle anderen Befunde, die nach weiteren Untersuchungen gestellt worden wären. Mit anderen Worten: Eine Überdiagnose kann nur vorkommen, wenn ein Arzt bei einem Patienten eine Diagnose stellt, der keine damit zusammenhängenden Symptome aufweist. Das ist möglich, wenn ein Arzt Krankheiten bewertet, die nicht miteinander zusammenhängen, und dabei auf unerwartete Diagnosen stößt; aber es geschieht meist, weil Ärzte gerne frühe Diagnosen stellen, entweder als Teil einer planmäßigen Vorsorgeuntersuchung oder bei Routineuntersuchungen. Eine Überdiagnose ist also die Folge der Begeisterung für die Früherkennung.
Ärgerlich ist, dass wir Ärzte nicht wissen, ob ein Patient Opfer einer Überdiagnose wurde, es sei denn, er verzichtet auf eine Behandlung, lebt bis zu seinem Tod symptomfrei und stirbt an einer anderen Krankheit. Aber wir wissen, dass die Gefahr von Überdiagnosen steigt, wenn wir bei Gesunden immer mehr Diagnosen stellen.
Die Überdiagnose ist ein relativ neues Problem in der Medizin. Früher gingen die Menschen nicht zum Arzt, wenn sie sich wohlfühlten – sie warteten meist, bis Symptome auftraten. Zudem wurden Gesunde von den Ärzten nicht ermuntert, sich untersuchen zu lassen. Deshalb stellten die Ärzte weniger Diagnosen als heute.
Aber das Paradigma hat sich geändert. Das Ziel ist die Früherkennung. Die Menschen suchen einen Arzt auf, wenn es ihnen gut geht, und die Ärzte wollen Krankheiten früher entdecken. Darum werden mehr Krankheiten im Frühstadium als im Spätstadium entdeckt. Wir stellen also mehr Diagnosen, auch bei Menschen ohne Symptome. Bei einigen dieser Menschen werden sich Symptome entwickeln, bei anderen nicht. Die Letzteren sind Opfer von Überdiagnosen.
Das Problem der Überdiagnose ist also darauf zurückzuführen, dass wir heute mehr Menschen untersuchen, sowohl Kranke (mit Symptomen) als auch Menschen mit Abweichungen von Normalwerten (aber ohne Symptome). Verschlimmert wird das Problem dadurch, dass die Definition des Begriffs »Anomalie« immer weiter gefasst wird.
Mit diesem Buch will ich aufzeigen, wie es zu Überdiagnosen kommt, warum diese gefährlich sein können und wo die Ursachen liegen. Ich hoffe, ich kann Ihnen helfen, kritisch darüber nachzudenken, ob es wünschenswert ist, vorzeitig zu einem Patienten gemacht zu werden. Warum sollten Sie sich mit Überdiagnosen beschäftigen? Lassen Sie es mich klar und deutlich ausdrücken: Weil Ärzte nicht wissen, bei wem eine Überdiagnose vorliegt und bei wem nicht, und weil die Opfer einer Überdiagnose oft behandelt werden. Aber diese Patienten profitieren nicht von einer Behandlung. Nichts muss in Ordnung gebracht werden, weil sie weder Symptome bekommen noch an ihrem Problem sterben werden. Sie brauchen also keine Therapie. Eine Therapie kann ihnen nur schaden. Und die schlichte Wahrheit lautet: Fast alle Behandlungen können irgendwelche Schäden anrichten.
Worum es in diesem Buch nicht geht
In diesem Buch geht es nicht darum, was Sie tun sollten, wenn Sie krank sind. Es wendet sich nicht an die wenigen Schwerkranken (denen die Medizin viel zu bieten hat), sondern an die vielen, denen es im Wesentlichen gut geht (oder ging) – und an jene, die krank sind und bei denen die Gefahr besteht, dass man ihnen weitere Krankheiten einredet. Natürlich ist dieses Buch keine Entschuldigung für schlampige Diagnosen bei Kranken. Diagnostik ist immer wichtig, wenn Menschen leiden, und es ist ebenfalls wichtig, gute Diagnosen zu stellen. Keine meiner Aussagen ist so zu verstehen, dass Kranke auf eine Diagnose verzichten sollten. Und schließlich will dieses Buch weder die gesamte amerikanische Medizin verdammen noch zu einer alternativen Medizin aufrufen. Ich habe die im Westen übliche Ausbildung genossen und glaube, dass Ärzte viel Gutes tun. Gehen Sie also zum Arzt, wenn Sie krank sind.
Eine abschließende Bemerkung über Menschen und Begriffe
Bevor ich fortfahre, fühle ich mich zu einigen Bemerkungen über die hier erwähnten Personen und benutzen Begriffe verpflichtet. In diesem Buch finden Sie Krankengeschichten über meine Patienten, meine Freunde und Menschen, die mir begegnet sind. Die Schilderungen stimmen, die Namen nicht. Ich habe zwar keine Informationen geändert, die für den klinischen Bericht wichtig sind (zum Beispiel Geschlecht, Alter, Symptome und Erfahrungen), wohl aber Informationen, die zur Identifizierung der Betroffenen führen könnten (beispielsweise den Wohnort). Meine Tochter würde vielleicht sagen: »Als ob es darauf ankäme!«
Was das Wort »Krankheit« betrifft, so hat es viele Bedeutungen. Synonyme wären Unbehagen, Unwohlsein oder Beschwerden. Obwohl es andere, völlig berechtigte Definitionen gibt, verstehe ich in diesem Buch unter »Krankheit« einen Zustand, den ein Mensch erlebt: eine Krankheit, ein Leiden, eine Störung, jeweils verbunden mit Symptomen.
Die Worte »Abweichung« oder »Anomalie« haben einen bestimmten Zweck. Ich beschreibe damit Befunde, die in der Medizin als anormal gelten, aber beim Betroffenen keine Beschwerden auslösen. Einige der bekanntesten Anomalien – zum Beispiel Bluthochdruck oder ein hoher Cholesterinspiegel – nenne ich bisweilen Zustand, um sie von Krankheiten zu unterscheiden.
Obwohl ich meist das Wort »Arzt« verwende, will ich damit andere Heilberufe nicht ausschließen. Im Gegenteil, wir müssen anerkennen, dass Arzthelfer(innen) und Krankenpfleger(innen) in der heutigen Medizin eine größere und wichtigere Rolle spielen als früher, vor allem in der medizinischen Grundversorgung (in der viele Diagnosen gestellt werden).
Abschließend noch einige kurze Anmerkungen zu den Pronomen. Die üblichsten sind er und sie. Natürlich können Patienten und Ärzte männlich oder weiblich sein (im Fachbereich Medizin in Dartmouth gibt es inzwischen mehr Studentinnen als Studenten). Ich weiß nicht, wie man mit dem Fehlen eines geschlechtsneutralen Singularpronomens am besten umgeht. »Er oder sie« wird mit der Zeit ziemlich lästig; darum werde ich, wenn die Umstände es erlauben (manche Krankheiten sind geschlechtsspezifisch), zwischen den beiden Pronomen abwechseln.
Dann gibt es noch das »wir«. Wir bedeutet meist (ich schätze, in 90 Prozent aller Fälle, habe aber keine Lust, es auszurechnen) »wir Ärzte« oder »wir Heilberufler«. Ich benutze wir, wenn es mir um den Blickwinkel der Ärzte geht – um unser Studium, unsere Facharztausbildung, unsere praktischen Erfahrungen. Kurz gesagt, ich will Ihnen ein Gefühl dafür vermitteln, wie wir denken. Nicht dass wir alle das Gleiche denken; aber wir teilen eine generelle Erfahrung, und darüber sollten Sie einiges wissen.
Gelegentlich steht wir für »die Öffentlichkeit«. Auch ich bin ein Mitglied der Gesellschaft und ein potenzieller Patient. Und wir alle müssen entscheiden, wie wir zur medizinischen Versorgung stehen. Mitunter schreibe ich »wir, die Öffentlichkeit« oder etwas Ähnliches, wenn ich versuche, diesen Standpunkt darzulegen.
Ich steht für mich, den Autor. Aber es sollte ein weiteres wir sein, weil dieses Buch eigentlich das gemeinsame Werk von drei Autoren ist: von Dr. Lisa Schwartz, Dr. Steven Woloshin und mir. Ich greife zu diesem Trick, um eine Verwechslung mit dem anderen wir zu vermeiden. Zur Klarstellung sei gesagt, dass unsere Stimme zwei Standpunkte widerspiegelt. Wir drei sind akademische Ärzte; wir sehen Patienten, unterrichten Studenten und forschen. Aber wir sind auch Menschen und somit potenzielle Patienten. Als Menschen machen wir uns Sorgen über die unaufhörlich steigende Zahl von Ärzten und den damit verbundenen Drang, Menschen zu Patienten zu machen. Die Verschmelzung dieser beiden Blickwinkel – des ärztlichen und des persönlichen – liefert die Motivation für dieses Buch.