Kapitel 4
Wir suchen intensiver nach Prostatakrebs
Vorsorgeuntersuchungen beweisen, dass Krebs zu oft diagnostiziert wird
Es ist schwer vorstellbar, dass das Phänomen »Überdiagnose« auch für den Krebs gilt. Allen Ärzten und der Öffentlichkeit wird das Grundwissen über den Krebs eingetrichtert. Er ist eine schreckliche Krankheit, die sich unaufhaltsam im ganzen Körper ausbreitet und unweigerlich zum Tod führt, wenn man sie nicht behandelt – und allzu oft auch dann, wenn man sie behandelt. Und die beste Behandlung ist die Früherkennung. Also ist das Ziel der Ärzte ganz klar: Entdecke den Krebs so oft wie möglich bereits im Frühstadium. Bis vor wenigen Jahren galten Ärzte, die etwas anderes sagten, als Häretiker.
Dann kam die Prostatakrebs-Vorsorgeuntersuchung und zwang uns, unsere Ansichten zu ändern. Plötzlich hatte es den Anschein, als müssten wir nur nach dem Prostatakrebs Ausschau halten, um ihn zu finden. Wir stellten fest, dass so viele Männer Prostatakrebs hatten – erheblich mehr, als unserer Erwartung nach jemals an Symptomen leiden oder gar sterben würden –, dass wir Überdiagnosen selbst beim Krebs nicht mehr leugnen konnten.
Der Zweck der Krebsvorsorgeuntersuchung besteht darin, gesunde Menschen, die keine Symptome aufweisen, intensiv und systematisch zu untersuchen. (Wenn wir Krebs bei Patienten mit Symptomen suchen, ist das ein diagnostischer Test, keine Vorsorge.) Wir suchen heutzutage wirklich gründlich nach Krebs: Wir testen mehr, wir testen häufiger, und wir verwenden genauere Testverfahren. Und je intensiver wir suchen, desto mehr Fälle von Krebs finden wir.
Natürlich ist Krebs etwas anderes als Sinusitis oder Knieschmerzen. Beim Krebs steht viel mehr auf dem Spiel, nämlich das Leben. Aber das Risiko der Behandlung ist ebenfalls hoch: Auch die Krebstherapie kann Ihnen schaden oder sogar das Leben kosten. Deshalb wollen Sie bestimmt nicht wegen Krebs behandelt werden, wenn es nicht notwendig ist.
Wie alle anderen Früherkennungsmaßnahmen ist auch die Krebsvorsorge ein doppelschneidiges Schwert. Sie kann nützlich sein, wenn sie uns die Möglichkeit gibt, früh einzugreifen; dann können wir die Zahl der Krebstoten verringern. Sie kann aber auch schaden: durch Überdiagnose und Überbehandlung. Und sie kann beides gleichzeitig bewirken. Es gibt also gute Gründe für die Krebsvorsorgeuntersuchung, aber auch gute Gründe, sie mit Bedacht anzuwenden.
Ein Arzt wird Patient
Isaac ist kein Patient von mir, sondern ein Kollege. Wir sind etwa gleich alt – Mitte fünfzig. Er arbeitet als akademischer Epidemiologe an einer medizinischen Fakultät im Südosten der Vereinigten Staaten. In den letzten zwei Jahrzehnten habe ich ihn alle paar Jahre bei nationalen Konferenzen getroffen. Isaac ist Onkologe, also ein Krebsarzt. Man spürt eine gewisse Anspannung bei ihm: Er ist aufgeweckt, gesprächig und von seiner Arbeit begeistert. Er untersucht, wie Pharmakonzerne bei Onkologen für ihre Produkte werben. Das ist ein wichtiges Thema und zugleich seine Berufung – er ist hochmotiviert, das Richtige zu tun.
Als ich Isaac zum letzten Mal sah, berichtete er, bei ihm sei Prostatakrebs diagnostiziert worden. Er habe jedes Jahr seinen PSA-Wert messen lassen (PSA steht für »prostataspezifisches Antigen«). Mit diesem Bluttest versucht man, Prostatakrebs zu entdecken. Vielleicht überrascht es Sie, dass jemand eine Blutuntersuchung für sich selbst veranlasst; aber bei Ärzten ist das nicht ungewöhnlich, sofern es sich um einfache Maßnahmen handelt. Wie Isaac mir anvertraute, fürchtete er, sein Ansehen als Onkologe werde in den Augen seiner Patienten geschmälert, wenn er Krebs habe. Deshalb müsse er alles tun, um keinen Krebs zu bekommen.
Einige Jahre lang hatte er einen PSA-Wert unter 2 ng/ml gehabt. Das ist gut. Die übliche (auch in Deutschland gültige) Daumenregel lautet: Die Entnahme und Untersuchung einer Gewebeprobe (Biopsie) ist nur bei Männern erforderlich, deren PSA-Wert über 4 liegt. Aber im Jahr 2004 wurde eine Studie veröffentlicht, die belegt, dass einige Männer Prostatakrebs hatten, obwohl ihr PSA-Wert unter 4 lag. Von da an empfahlen manche Ärzte allen Männern mit einem PSA-Wert über 2,5 eine Biopsie. Andere schlugen vor, diese Entscheidung nicht aufgrund des absoluten PSA-Spiegels zu treffen, sondern bei den Männern eine Biopsie vorzunehmen, deren PSA-Wert innerhalb eines Jahres deutlich steigt (die sogenannte »PSA-Anstiegsgeschwindigkeit«). Ein Jahr später stieg Isaacs PSA-Wert um etwa einen Punkt auf etwas über 2,5. Er entschloss sich zu einer Biopsie.
Eine Prostatabiopsie bei erhöhtem PSA-Spiegel unterscheidet sich stark von anderen Biopsien, die Krebs bestätigen oder ausschließen sollen. Der Grund für eine Biopsie in anderen Organen ist meist ein kleiner Knoten im Gewebe, den ein Arzt ertasten oder auf einem Ultraschallbild sehen kann. Der Zweck der Biopsie besteht darin, dem Knoten eine Gewebeprobe zu entnehmen und sie zu untersuchen. Die meisten Biopsien werden wie bei Isaac wegen eines abnormen PSA-Spiegels vorgenommen, wenn der Arzt nichts ertasten oder auf dem Ultraschallbild nichts erkennen kann. In diesem Fall gibt es also keinen Knoten, den man untersuchen könnte.
Da sich kein bestimmter Teil der Prostata für die Biopsie anbietet, entnehmen die Urologen mit einer dünnen Nadel meist sechs bis zwölf Gewebeproben aus allen Teilen der Drüse und lassen sie auf Krebs testen. Bei Isaac wurden zehn Biopsien vorgenommen, und eine enthielt Krebszellen. Das genügt. Isaac hatte Prostatakrebs. Einerlei, ob Krebszellen in einer von zehn oder in allen zehn Nadelbiopsien gefunden werden, der Patient bekommt jeweils die gleiche Diagnose. Zehn positive Proben lassen jedoch auf einen viel größeren und wahrscheinlich aggressiveren Tumor schließen als eine einzige positive Probe.
Isaac entschied sich für eine radikale Therapie: eine Prostatektomie, die vollständige Entfernung der Prostata. Er hielt das für keine große Sache. Aber er erlebte eine Überraschung. Es war eine große Sache, bestätigte er. Sechs Wochen lang hatte er keine Lust zu arbeiten, weil die Operation ihn erschöpft hatte. Und sechs Monate später war er immer noch impotent. Er sagte, seine Frau und er kämen mit dem Verlust der sexuellen Aktivität zurecht, doch es sei schwierig. Isaac fragte sich, ob seine Entscheidung richtig gewesen war. »Du hättest das nicht gemacht, stimmt’s?«, fragte er mich.
»Nein«, sagte ich. Ich lasse mich nämlich nicht auf Prostatakrebs untersuchen und kann daher gar nicht vor einer solchen Entscheidung stehen (es sei denn, ein Arzt lässt ohne meine Einwilligung im Rahmen einer anderen Blutuntersuchung auch einen PSA-Test vornehmen – genau das ist einem Kollegen passiert). Aber es kann sein, dass ich Prostatakrebs bekomme und daran sterbe. Es ist auch möglich, dass mein Sterberisiko ein wenig geringer wäre, wenn ich mich testen ließe. Wir wissen es nicht genau.
War Isaacs Entscheidung, sich testen zu lassen, richtig? Es gibt keine Möglichkeit, das herauszufinden. Vielleicht hatte er recht. Vielleicht wäre er an Krebs gestorben, wenn er gewartet hätte, bis Symptome aufgetreten wären. Jetzt ist dieser Krebs vollständig entfernt. Möglicherweise war seine Entscheidung falsch: Vielleicht hätte der Krebs ihm nie geschadet, wenn er nicht nach ihm gesucht hätte. In diesem Fall verdankte er der Diagnose nur eine unnötige Angst sowie eine unnötige Operation und deren Folgen – zum Beispiel Impotenz.
Jeder kennt den potenziellen Nutzen der Krebsvorsorgeuntersuchung: Sie kann vielleicht den Tod durch Krebs verhindern. Relativ wenige verstehen den wahrscheinlicheren Nachteil: Vielleicht wird bei Ihnen Krebs diagnostiziert, und Sie werden behandelt, obwohl dieser Krebs Sie nie behelligt hätte. Außerdem ist eine Untersuchung auf Prostatakrebs ironischerweise die schnellste Methode, ihn zu bekommen.
Wie viel Prostatakrebs ist da drin?
Viele Männer sterben an Prostatakrebs. Allein in den Vereinigten Staaten waren es 2008 schätzungsweise 29 000. Damit liegt Prostatakrebs unter allen Krebsarten an zweiter Stelle, was die Sterberate anbelangt (weit übertroffen wird er allerdings vom Lungenkrebs, an dem 90 000 Männer sterben). Die Wahrscheinlichkeit, dass ein durchschnittlicher Amerikaner irgendwann in seinem Leben an Prostatakrebs stirbt, beträgt 3 Prozent. Die meisten Männer, die an Prostatakrebs sterben, sind alt; das mittlere Todesalter ist achtzig.1
Die Zahl der Männer, bei denen Prostatakrebs diagnostiziert wird, ist noch höher. In den Vereinigten Staaten waren es 2008 schätzungsweise 186 000. Dies ist die weitaus häufigste Krebsdiagnose bei Männern (mit Ausnahme des weißen Hautkrebses). Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Durchschnittsamerikaner im Laufe seines Lebens die Diagnose »Prostatakrebs« zu hören bekommt, liegt bei 16 Prozent. Das mittlere Alter zur Zeit der Diagnose beträgt achtundsechzig Jahre.
Und noch mehr Männer haben Prostatakrebs, ohne es zu wissen. Es gibt ein Reservoir unentdeckter Prostatakrebsfälle. In den achtziger Jahren untersuchten Pathologen der Cleveland Clinic systematisch zweiundsiebzig Prostatadrüsen, die während einer Blasenoperation entfernt worden waren. Bei keinem der betroffenen Männer bestand der Verdacht auf Prostatakrebs. Dennoch stellten die Pathologen fest, dass dreiunddreißig von ihnen, also fast die Hälfte, Prostatakrebs hatten. Und bei den Männern über sechzig war der Befund noch eindeutiger: Mehr als die Hälfte von ihnen hatte unerwartet Prostatakrebs.2 Man könnte nun einwenden, diese Studie überschätze die Größe des Reservoirs, weil Männer mit Blasenkrebs vielleicht häufiger Prostatakrebs haben als Männer in der Gesamtbevölkerung. Aber dafür gibt es wenig Belege.
Etwa ein Jahrzehnt nach der Untersuchung an der Cleveland Clinic wiederholten und verbesserten Pathologen in Detroit die Studie. Sie untersuchten Prostatadrüsen von Männern, die bei Unfällen gestorben waren. Krankheiten oder Krebs waren bei diesen Männern nicht bekannt. Und weil die Forscher 525 Männer in unterschiedlichem Alter untersuchten, konnten sie das Prostatakrebs-Reservoir in mehreren Gruppen schätzen.3

Abbildung 4.1 Prostatakrebs-Reservoir, festgestellt bei Männern nach Unfalltod
Die Ergebnisse sind erstaunlich. Denken Sie daran, dass keiner dieser Männer zu Lebzeiten von seinem Prostatakrebs wusste. Selbst junge Männer in den Zwanzigern waren betroffen: Fast 10 Prozent von ihnen hatten Prostatakrebs. Und der Anteil nimmt mit dem Alter zu. Mehr als drei Viertel der Männer zwischen siebzig und achtzig hatten Prostatakrebs. Das ist ein riesiges Reservoir von Prostatakrebs. Wenn mehr als die Hälfte der älteren Männer Prostatakrebs hat, aber nur 3 Prozent von ihnen daran sterben, ist das Potenzial für Überdiagnosen enorm.4 Und wann wird dieses potenzielle Problem zu einem realen Problem? Wenn Ärzte genauer hinschauen, um kleine Tumore im Frühstadium zu finden.
Wer genauer hinschaut, findet mehr Prostatakrebs
Wenn es ein großes Reservoir von Anomalien gibt, dann werden wir umso mehr Anomalien finden, je intensiver wir danach suchen. Das wurde nirgendwo eindeutiger bewiesen als bei Biopsien der Prostata. Da es keinen erkennbaren Knoten in der Prostata gibt, entnehmen die Ärzte fast nie nur eine einzige Gewebeprobe, sondern in der Regel sechs. Bei diesen sogenannten Sextantenbiopsien wird in sechs verschiedenen Teilen der Drüse nach Krebszellen gesucht. Der Beschluss, sechs Gewebeproben zu entnehmen, war völlig willkürlich. Es könnten auch vier oder acht sein, und so gut wie jede andere Zahl wäre ebenfalls möglich. Immerhin entschieden sich die Urologen für eine systematische Vorgehensweise, um Gewebeproben aus der ganzen Drüse zu erhalten: Sie entnehmen aus jeder Hälfte der Prostata drei Biopsien, und zwar oben, in der Mitte und unten.
Doch einerlei, wie systematisch man sucht, es bleibt bei einer bestimmten Zahl von Proben – jede so groß wie ein Holzsplitter – bei einer Drüse, die so groß wie ein Golfball ist. Denken Sie einmal darüber nach: sechs Proben, jeweils rund fünfundzwanzig Kubikmillimeter groß, aus einer Drüse, die etwa fünfzigtausend Kubikmillimeter groß ist.5 Die Gewebeproben einer typischen Sextantenbiopsie umfassen also weniger als ein halbes Prozent der Prostata. Manche Urologen fragen sich mit Recht: Sollen wir mehr Nadelbiopsien vornehmen? Würden wir dann noch mehr Krebsfälle entdecken?
Drei separate Studien, die sich mit dieser Frage befassen, sind in Abbildung 4.2 dargestellt.6 Jede vergleicht sechs Nadelbiopsien mit elf, zwölf und dreizehn Nadelbiopsien. Ganz offensichtlich fanden die Forscher umso mehr Prostatakrebszellen, je mehr Nadelbiopsien sie machten.
Eine weitere Studie zu Nadelbiopsien verdient besondere Aufmerksamkeit, weil die Wissenschaftler außergewöhnlich intensiv nach Prostatakrebs suchten. Das Bemerkenswerte an dieser Studie war, dass siebenunddreißig Männer daran teilnahmen, die zuvor nicht nur einmal, sondern mindestens dreimal für krebsfrei erklärt worden waren.7 Jeder Mann war dreimal untersucht worden, und jeweils sechs Nadelbiopsien waren negativ gewesen. Mit anderen Worten: Jeder Mann in dieser Studie hatte bereits achtzehn oder mehr negative Nadelbiopsien hinter sich. Man sollte meinen, das sei genug. Doch als die Forscher eine – wie sie es nannten – flächendeckende Biopsie vornahmen, nämlich zweiunddreißig bis achtunddreißig zusätzliche Nadelbiopsien, fanden sie bei 14 Prozent der Männer Krebs.

Abbildung 4.2 Mehr Nadelbiopsien (intensivere Suche) entdecken mehr Prostatakrebs
Eine andere Methode, genauer zu suchen: Neudefinition des abnormen PSA
Mehr Nadelbiopsien sind nur eine Methode, um intensiver nach Prostatakrebs zu suchen. Man kann auch die Zahl der Männer erhöhen, bei denen Biopsien vorgenommen werden, indem man den PSA-Grenzwert senkt, der bestimmt, was als abnorm gilt. So wie die Praxis, sechs Nadelbiopsien vorzunehmen, war auch die Entscheidung, einen PSA-Grenzwert über 4 als Schwellenwert für Biopsien zu benutzen, völlig willkürlich. Doch erst, als 2004 eine Studie veröffentlicht wurde, erkannten wir, wie willkürlich diese Methode tatsächlich ist. Die Prostatakrebs-Prävalenzstudie maß den PSA-Wert bei rund zehntausend gesunden Freiwilligen, und zwar bei älteren Männern ohne Anzeichen für Prostatakrebs. Dann wurde bei allen Teilnehmern eine Biopsie vorgenommen, unabhängig vom PSA-Spiegel. Was die Forscher feststellten, war erstaunlich: Prostatakrebs kann mit jedem PSA-Wert einhergehen.

Abbildung 4.3 Anteil der Männer mit der Diagnose »Prostatakrebs« bei verschiedenen PSA-Spiegeln8
Natürlich war das Ergebnis bei Männern, deren PSA-Wert über 4 lag, häufiger positiv: Fast 30 Prozent in dieser Gruppe hatten Prostatakrebs. Aber bei niedrigeren PSA-Spiegeln fanden die Forscher fast ebenso oft Prostatakrebs: 27 Prozent der Männer mit einem PSA-Wert zwischen 3 und 4 hatten Krebs. Prostatakrebs war sogar bei Männern mit einem PSA-Wert zwischen 2 und 3 sowie, überraschenderweise, zwischen 1 und 2 feststellbar. Selbst bei Männern mit einem PSA-Spiegel unter 1 wurde durch eine Biopsie in 9 Prozent aller Fälle Prostatakrebs entdeckt.
Zwar sagten höhere PSA-Werte mehr Prostatakrebs voraus, aber es gab keinen Wert, der Prostatakrebs ausgeschlossen hätte. Es gibt demnach keinen eindeutigen Schwellenwert für eine Biopsie. Trotzdem forderte einer der Hauptbefürworter des PSA-Tests nach Prüfung der Daten, der neue Schwellenwert für eine Biopsie solle ein PSA-Spiegel über 2,5 sein.
Fragen Sie mich nicht, wie er auf 2,5 kam. Das war wieder einmal eine völlig willkürliche Entscheidung. Aber ich kann Ihnen sagen, dass diese Entscheidung Isaac zu einer Biopsie veranlasste, bei der Prostatakrebs diagnostiziert wurde. Ein niedrigerer PSA-Wert bedeutet, dass bei viel mehr Männern Biopsien vorgenommen werden und dass bei vielen von ihnen Prostatakrebs diagnostiziert wird.
Die Veröffentlichung der Prostatakrebs-Prävalenzstudie und der neuen Empfehlung zum PSA-Schwellenwert 2,5 führten dazu, dass NBC mich zum ersten Mal zu seiner Sendung Today einlud. Ich wurde als PSA-Gegner angekündigt. William Catalona, ebenfalls Arzt, war der PSA-Befürworter. Catalona war einer der Ersten, die sich für den PSA-Test einsetzten, und obwohl er diesen Test nicht eingeführt hatte, galt er als »Vater des PSA-Tests«. Er war etwa fünfzehn Jahre älter als ich und sowohl vor als auch hinter der Kamera der perfekte Gentleman. Aber er war fest davon überzeugt, dass alle Männer über vierzig sich einem PSA-Test unterziehen sollten und dass Biopsien bereits ab einem PSA-Wert vorgenommen werden sollten, den die meisten Ärzte für sehr niedrig hielten (auch bei Werten unter 2,5, falls sie steigend sind). Ich wandte ein, dass diese Vorgehensweise Tausende von Männern (in Wahrheit Millionen) der Gefahr einer Überdiagnose aussetzen würde und dass viele mit Impotenz und Problemen beim Urinieren rechnen müssten. Einige würden bei der Operation sterben. Ich setzte mich dafür ein, allen Männern beide Seiten der Medaille zu zeigen und sie dann entscheiden zu lassen. Matt Lauer, der Moderator, erfüllte seine Aufgabe vorzüglich, so dass wir in den rund fünf Minuten, die uns zur Verfügung standen, unsere Argumente vortragen konnten.
Doch als die Kameras abgeschaltet waren, fragte er Dr. Catalona sofort, wann und wie er sich untersuchen lassen solle. Daraus habe ich zweierlei gelernt: 1. Ein guter Journalist kann Argumenten und Gegenargumenten gleichermaßen Platz einräumen, selbst wenn er einer Seite zuneigt. 2. Die Werbung für die Vorsorgeuntersuchung ist sehr überzeugend.
Um dieses Problem wirklich zu verstehen, müssen Sie sich mit der Zahl der Männer auseinandersetzen, die möglicherweise betroffen sind. Abbildung 4.4 schätzt die Zahl der Amerikaner im Alter von sechzig bis neunundsechzig Jahren (in diesem Alter waren die meisten Männer der Prostatakrebs-Prävalenzstudie), die bei unterschiedlichen PSA-Werten mit Prostatakrebs diagnostiziert werden. Die Daten zur Verteilung des PSA-Spiegels in der Gesamtbevölkerung stammen aus meiner eigenen Arbeit und der meiner Koautoren. Wenn wir den PSA-Grenzwert ändern, steigt die Zahl der Männer, die voraussichtlich mit Prostatakrebs diagnostiziert werden, drastisch. Dabei stützen wir uns auf die Ergebnisse der Prostatakrebs-Prävalenzstudie. Angenommen, wir halten uns an die Standardregel, wonach ein PSA-Wert über 4 abnorm ist. Dann benötigen 5 Prozent aller Männer im Alter von sechzig bis neunundsechzig Jahren eine Biopsie. Das sind insgesamt 650 000 Männer.9 Wir wissen, dass bei etwa 30 Prozent der Männer mit einem PSA-Wert über 4 durch eine Biopsie Prostatakrebs festgestellt wird. Das bedeutet, dass rund 200 000 amerikanische Männer die Diagnose »Prostatakrebs« erhalten würden. Wenn wir die Regel ändern und einen PSA-Spiegel über 3 als abnorm betrachten, sind 13 Prozent dieser Gruppe abnorm, und bei 400 000 Männern wird Prostatakrebs diagnostiziert. Erklären wir einen PSA-Wert über 2,5 für abnorm, werden rund 500 000 Männer mit Prostatakrebs diagnostiziert.

Abbildung 4.4 Auswirkung einer Senkung des Grenzwerts für einen abnormen PSA-Spiegel auf die Zahl der 60- bis 69-jährigen Männer, bei denen Prostatakrebs diagnostiziert wird10
Sie sehen ein klares Muster – und das Problem. Und wo hört das alles auf? Wenn es nur darum geht, mehr Prostatakrebsfälle zu finden, können wir durchaus intensiv suchen. Vergessen wir den PSA-Wert. Verzichten wir auf Nadelbiopsien. Wir entfernen einfach bei jedem Mann die ganze Prostata und lassen sie von Pathologen auf Krebs untersuchen. Natürlich wäre das total verrückt. Es würde bedeuten, dass wir alle Komplikationen der Operation in Kauf nähmen. Millionen Männer würden Schaden erleiden, und einige würden sterben, nur weil wir nach Krebs suchen wollen. Dennoch würden wir mit diesem Verfahren die meisten Krebsfälle entdecken.
Die vielen Gesichter der Krebsprogression
Aber sollte unser Ziel wirklich darin bestehen, möglichst viele Karzinome zu finden? Angenommen, es gäbe eine kostenlose, ungefährliche und schmerzlose Methode, Krebs zu diagnostizieren. Würden wir sie dann nicht anwenden, um Krebs möglichst früh zu entdecken und zu behandeln? Wir wissen heute, dass die Antwort »nein« lautet. Früher war die Auffassung verbreitet, dass alle Karzinome unaufhaltsam weiterwuchern. Wenn man sie nicht behandelte, wuchsen sie unweigerlich, bildeten Metastasen und führten letztlich zum Tod. Aber wir sind dabei zu lernen, dass diese Annahme falsch ist.
Wir befinden uns mitten in einem Paradigmenwechsel, was unsere Einstellung zum Krebs anbelangt. Unsere Bemühungen, Krebs durch Vorsorgeuntersuchungen früh zu entdecken, haben gezeigt, dass der Zustand, den die Pathologen »Krebs« nennen, eine Vielfalt von Anomalien umfasst, die sehr unterschiedliche Wachstumsraten aufweisen: von sehr schnell bis völlig statisch. Es stimmt – manchmal ist ein Karzinom nicht progressiv, das heißt, es schreitet überhaupt nicht fort. Mitunter hat es für den Betroffenen keinerlei Folgen. Der Gedanke, dass Krebs manchmal bedeutungslos ist, klingt für einen Mediziner radikal. Er ist so schockierend wie für Biologen des 19. Jahrhunderts die Vorstellung, dass Menschen von Tieren abstammen, oder für Geologen des frühen 20. Jahrhunderts die Behauptung, die Kontinente bewegten sich. Es dauerte Jahre, bis diese einst radikalen Ideen allgemein akzeptiert wurden. Das geschah erst, als man herausfand, welche Vorgänge (die natürliche Auslese und die Plattentektonik) ihnen zugrunde lagen.
Obwohl die Idee, es gebe nicht-progressive Karzinome, unplausibel klingen mag, haben Wissenschaftler damit begonnen, biologische Mechanismen aufzuspüren, die das Fortschreiten eines Karzinoms aufhalten.11 Manche Karzinome »verhungern«, weil die Blutversorgung nicht ausreicht; andere werden vom Immunsystem erkannt und in Schach gehalten; und manche sind von vornherein nicht aggressiv. Diese Beobachtungen führen zu einem grundlegenden Wandel in der Krebsbiologie.
Abbildung 4.5 auf Seite 101 ist die vereinfachte Darstellung einer möglichen Haltung gegenüber der Krebsprogression und ihrer vielen Gesichter. Die vier Pfeile stehen für vier Krebsarten, eingeteilt nach ihren Wachstumsraten. Jeder Pfeil beginnt an derselben Stelle: dort, wo eine Zelle zum Krebs entartet.
Schnell wachsende Krebsarten führen zu Symptomen und zum Tod. Dies sind die schlimmsten Formen von Krebs. Da wir die Menschen nicht jeden Tag untersuchen und diese Karzinome so schnell wachsen, bleiben sie leider oft unentdeckt, wenn sie zwischen den Vorsorgeuntersuchungen auftreten. Langsam wachsende Krebsarten führen erst nach vielen Jahren zu Symptomen und zum Tod. Was diese Karzinome betrifft, sind Vorsorgeuntersuchungen angeblich besonders nützlich. Diese Vielfalt der Krebsprogression – es gibt schnell und langsam wachsende Karzinome – ist seit Jahren bekannt, vor allem wegen ihrer Bedeutung für die Vorsorgeuntersuchung. Bei der Krebsvorsorgeuntersuchung geht es darum, Karzinome in ihrer vorklinischen Phase zu entdecken, also in der Periode, die mit der Entartung einer Zelle beginnt und mit Symptomen endet. Bei der Vorsorgeuntersuchung werden viel mehr langsam wachsende Karzinome aufgespürt, weil man dafür eine Menge Zeit hat. Aggressive, schnell wachsende Karzinome – genau die Karzinome, die wir am liebsten entlarven würden – werden viel seltener entdeckt, weil dafür vor dem Auftreten von Symptomen nur wenig Zeit zur Verfügung steht.
Manche Karzinome führen nie zu Problemen, weil sie sehr langsam wachsen. Genauer gesagt: Sie wachsen so langsam, dass die Betroffenen an etwas anderem sterben, bevor der Krebs groß genug wird, um Symptome auszulösen. Das betrifft vor allem Menschen, deren Lebenserwartung gering ist – zum Beispiel weil sie sehr alt sind oder an anderen schweren Krankheiten leiden. Das naheliegendste Beispiel ist Prostatakrebs bei älteren Männern.
Nicht-progressiver Krebs verursacht nie Probleme, weil er überhaupt nicht wächst. Manche Zellanomalien gelten bei Pathologen als Krebs (das heißt, sie sehen unter dem Mikroskop wie Krebs aus), werden aber nie so groß, dass Symptome auftreten. Andere wachsen zunächst und schrumpfen dann – diesen Fall symbolisiert in der Abbildung der abwärts zeigende gestrichelte Pfeil.

Abbildung 4.5 Die Vielfalt der Krebsprogression
Überdiagnosen kommen vor, wenn nicht-progressive Karzinome und sehr langsam wachsende Karzinome entdeckt werden. Diese beiden Krebsformen werden im Englischen unter dem Begriff pseudodisease – wörtlich »Scheinkrankheit« – zusammengefasst. Das ist ein passendes Wort, weil diese Karzinome weder Symptome noch den Tod verursachen.
Das Problem mit der Krebsvorsorgeuntersuchung ist, dass sie nicht zwischen diesen vier Arten von Krebs unterscheiden kann. Deshalb wissen wir nicht, wer Opfer einer Überdiagnose wurde. Viele hoffen zwar, dass Gentests helfen werden, Karzinome zu identifizieren, die unausweichlich Symptome oder den Tod zur Folge haben; aber diese Forschungen stecken noch in den Kinderschuhen, und es wird Jahre dauern, bis wir wissen, wie hilfreich sie sind. Einstweilen müssen drei Kriterien erfüllt sein, wenn wir sicher sein wollen, dass bei einem Menschen eine Überdiagnose vorliegt: Er wird nie behandelt, bekommt nie Krebssymptome und stirbt letztlich an etwas anderem. Da jedoch die meisten Menschen, bei denen eine Diagnose gestellt wurde, auch behandelt werden, geschieht dies selten.
Hinweise auf Prostatakrebs-Überdiagnosen in der Bevölkerung
Es ist extrem schwierig festzustellen, ob ein Individuum Opfer einer Überdiagnose wurde, aber es ist relativ einfach herauszufinden, ob dies für eine Bevölkerungsgruppe zutrifft. Um auf Überdiagnosen zu schließen, brauchen wir nur die Zahl der Krebsdiagnosen und der Krebstodesfälle im Laufe der Zeit miteinander zu vergleichen. Abbildung 4.6 zeigt zwei unterschiedliche Muster einer schnell zunehmenden Zahl von Diagnosen. Das eine ist ein starker Hinweis auf Überdiagnosen, das andere nicht.

Abbildung 4.6 Zwei unterschiedliche Muster einer schnell zunehmenden Zahl von Diagnosen
Auf der linken Grafik in Abbildung 4.6 nimmt die Zahl der Krebsdiagnosen ebenso zu wie die Zahl der befürchteten Folgen: der Todesfälle. Das lässt darauf schließen, dass die neuen Diagnosen aussagekräftig sind und dass die Zahl der bedeutsamen Krebsfälle (im Gegensatz zu den sehr langsamen oder nicht-progressiven Karzinomen) tatsächlich gestiegen ist.12
Auf der rechten Grafik geht die Zunahme der Krebsdiagnosen nicht mit einer Zunahme der Krebstodesfälle einher. Das deutet darauf hin, dass zwar mehr Diagnosen gestellt wurden, die Zahl der bedeutsamen Krebsfälle jedoch nicht zugenommen hat. Hier können wir auf Überdiagnosen schließen, das heißt, es wurden sehr langsame oder nicht-progressive Karzinome entdeckt.
Manche Ärzte haben eine andere Erklärung für den rechten Teil der Abbildung, nämlich, dass die Zahl der Karzinome, die den Patienten schaden, tatsächlich gestiegen ist, dass jedoch diagnostische und therapeutische Fortschritte die Zunahme der neuen Fälle aufwiegen, sodass die Gesamtzahl der Krebstodesfälle gleich bleibt. Diese Erklärung erfüllt das wissenschaftliche Sparsamkeitsprinzip gewiss nicht. Sie ist zwar möglich, strapaziert aber unsere Gutgläubigkeit; denn sie müsste zwei Voraussetzungen erfüllen (echte Zunahme der Krebsfälle und bessere medizinische Versorgung), nicht nur eine (Überdiagnosen). Mehr noch, sie setzt eine heroische Annahme voraus: dass die Verbesserung der Diagnose und Therapie die Zahl der Neuerkrankungen genau wettmacht. Würden die Fortschritte in der Therapie die Zahl der Krebsfälle überkompensieren, müsste die Sterblichkeit sinken. Würde die Zahl der Krebsfälle die therapeutischen Fortschritte überkompensieren, müsste die Sterblichkeit steigen. Ändert sich die Sterblichkeit nicht, müsste die Zunahme der Krebserkrankungen die therapeutischen Fortschritte exakt kompensieren. Das ist schwer zu glauben.
Betrachten Sie nun einmal die Zahl der Prostatakrebsdiagnosen und die Todesrate bei amerikanischen Männern. Abbildung 4.7 zeigt diese Daten aus dreißig Jahren, von 1975 bis 2005 (sie sind dem Surveillance Epidemiology and End Results Program, besser bekannt als SEER, entnommen, dem amerikanischen Krebsregister13).

Abbildung 4.7 Neue Prostatakrebsdiagnosen und Todesfälle in den Vereinigten Staaten von 1975 bis 2005
Die obere Linie, die Zahl der Prostatakrebsdiagnosen, schwankt stark. Die untere Linie, die Zahl derer, die an Prostatakrebs gestorben sind, ist ziemlich stabil. Die obere Linie ähnelt eher einer unbeständigen Aktienkurve als einer Darstellung der Krebshäufigkeit. Ich kenne keinen einzigen Krebsforscher, der glaubt, diese Kurve spiegle Veränderungen der Prostatakrebsbiologie wider. Sie zeigt vielmehr, dass die medizinische Praxis sich geändert hat, vor allem unsere Praxis bei der Diagnose des Prostatakarzinoms.
Von 1975 bis 1986 stieg die Zahl der Diagnosen um etwa 2 Prozent jährlich und spiegelte fast exakt die vermehrte Anwendung einer urologischen Operation wider, die als transurethrale Resektion der Prostata oder TURP bekannt ist. Dieser Eingriff wurde bei Männern vorgenommen, die Probleme mit dem Harnlassen haben, weil ihre Prostata vergrößert ist (man spricht in diesem Fall von benigner Prostatahypertrophie oder BPH). Bei der Operation werden Teile der Prostata von der Harnröhre abgeschabt, so dass der Urin besser fließen kann. Als immer mehr Männer sich diesem Eingriff unterzogen, wurden auch mehr Prostataproben an die Pathologen geschickt, die sie unter dem Mikroskop untersuchten und daher mehr Fälle von Prostatakrebs entdeckten.
Nach 1986 wurde die Operation seltener durchgeführt, weil einige Medikamente entwickelt wurden, mit denen man die BPH behandeln konnte. Infolgedessen nahm die Zahl der Prostatakrebsfälle, die nach einer TURP entdeckt wurden, von 1986 bis 1993 um etwa 50 Prozent ab.14 Aber die Zahl der Prostatakrebsdiagnosen ging nach 1986 keineswegs zurück – sie stieg steil an. Von 1986 bis 1992, als der PSA-Test eingeführt wurde, verdoppelte sich die Zahl der Prostatakrebsdiagnosen beinahe. Wie Sie sehen, schoss diese Zahl zwischen 1990 und 1992 in den Himmel, als der PSA-Test sich durchsetzte.
Nach 1992 ging die Zahl zurück, weil das Reservoir von Prostatakrebsfällen, die entdeckt werden konnten, austrocknete, da nun mehr Ärzte Überdiagnosen befürchteten, vor allem bei älteren Männern. Aber sie erreichte nie mehr das Niveau, auf dem sie sich vor der Einführung des PSA-Tests befunden hatte. Seit 1975 stieg die Zahl der Überdiagnosen enorm. Das spiegelt der Bereich unter der Kurve in Abbildung 4.8 wider.

Abbildung 4.8 Prostatakrebs-Überdiagnosen in den USA
Wenn alle früh entdeckten Karzinome bedeutsam wären, hätten die Vorsorgeuntersuchungen keinen Einfluss auf die Gesamtzahl der Individuen, bei denen irgendwann Krebs diagnostiziert wird. Bei einigen Menschen, die zwangsläufig schwer an Krebs erkranken, würde man den Krebs bei der Vorsorgeuntersuchung lediglich früher entdecken. Andere, die sich nicht regelmäßig untersuchen lassen, würden die Diagnose erfahren, wenn der Krebs so weit fortgeschritten ist, dass er Symptome hervorruft. Aber das Reservoir von Patienten mit schwerem Krebs bliebe relativ konstant, und auch die Gesamtzahl der Diagnosen bliebe stabil.
Das trifft jedoch nicht auf den Prostatakrebs zu. Hier gab es eine Menge zusätzlicher Diagnosen: Seit 1975 wurden etwa zwei Millionen weitere Männer mit Prostatakrebs diagnostiziert. Und wenn Sie mit der Zahl der Diagnosen im Jahr 1986 beginnen und den TURP-Effekt völlig ignorieren wollen, sind es immer noch rund 1,3 Millionen Männer.15
Zweifellos wurde all diesen Männern mit der Diagnose »Krebs« Angst eingejagt. Aber das größere Problem sind die vielen zusätzlichen Therapien. Die meisten Patienten werden operiert oder bestrahlt. Operationen wegen Prostatakrebs (radikale Prostatektomien) haben bekanntlich Nebenwirkungen: Etwa die Hälfte der Männer leidet an sexuellen Störungen; ein Drittel hat Probleme beim Urinieren; und einige – einer oder zwei von tausend – sterben nach dem Eingriff im Krankenhaus. Die Bestrahlung kann ebenfalls zu Impotenz und Schwierigkeiten beim Urinieren führen (wenn auch etwas seltener), und sie hat eine spezifische negative Folge, weil sie den Enddarm beschädigen kann, der sich unmittelbar hinter der Prostata befindet. Etwa 15 Prozent der bestrahlten Männer haben »ein moderates oder großes Problem« bei der Darmentleerung, meist Schmerzen oder Stuhldrang.16 Patienten, die Opfer von Überdiagnosen wurden, haben nicht nur keinen Nutzen von der Krebstherapie, sondern können schwer darunter leiden. Das ist kein kleines Problem – es betrifft mehr als eine Million Männer.
Das ist der Grund dafür, dass die amerikanische Preventive Services Task Force, die Vorsorgeuntersuchungen bewertet und die Regierung berät, so zögerlich ist, was die Prostatakrebs-Vorsorgeuntersuchung anbelangt. Dieses Gremium besteht aus unabhängigen Experten für Grundversorgung und Vorbeugung, die veröffentlichte Studien prüfen und dann Empfehlungen zu Vorsorgeuntersuchungen abgeben. Die Fachleute erklärten, die Belege seien zu dürftig, um die Vor- und Nachteile einer Prostatakrebs-Vorsorgeuntersuchung für Männer unter fünfundsiebzig einschätzen zu können. Es gebe aber hinreichende Belege für Männer, die fünfundsiebzig oder älter sind. Die Daten ließen darauf schließen, dass Überdiagnosen ein enormes Problem seien. Deshalb riet das Gremium von einer Vorsorgeuntersuchung ab.17 Die Amerikanische Krebsgesellschaft änderte neulich sogar ihre Empfehlungen, um diese Einschätzung zu bekräftigen. Sie erklärte: »Da Prostatakrebs langsam wächst, sollte Männern ohne Prostatakrebssymptome, die die nächsten zehn Jahre voraussichtlich nicht überleben werden, keine Vorsorgeuntersuchung angeboten werden, weil sie davon wahrscheinlich nicht profitieren.«18
Vielleicht haben Sie jetzt viele Fragen zu Isaacs Schicksal. Was wäre geschehen, wenn man bei ihm nur sechs Biopsien gemacht hätte anstatt zehn? Wäre dann kein Prostatakrebs diagnostiziert worden? Was wäre geschehen, wenn er die alte Regel befolgt und mit der Biopsie gewartet hätte, bis sein PSA-Wert auf über 4 gestiegen wäre? Wäre sein Krebs ebenso gut behandelbar gewesen, wenn die Diagnose später gestellt worden wäre? Oder wäre sein PSA-Wert nie über 4 gestiegen, und es hätte nie eine Biopsie gegeben? Niemand kennt die Antworten auf diese Fragen. Aber Sie könnten eine noch wichtigere Frage stellen: Hätte er seinen PSA-Spiegel überhaupt messen lassen sollen?
Tatsache ist, dass wir damals, als Isaac sich der Biopsie unterzog, nicht wussten, ob die PSA-Messung jemals einem Mann genützt hatte. Alle warteten auf die Ergebnisse zweier großer randomisierter Studien. Im Frühjahr 2009 wurden beide veröffentlicht, eine in den Vereinigten Staaten,19 die andere in Europa.20 Sie waren das Resultat eines enormen Forschungsaufwands. Fast zwanzig Jahre lang waren mehr als eine Viertelmillion Männer beobachtet worden, und die Kosten beliefen sich auf viele Millionen Dollar. Dennoch wissen wir noch nicht genau, ob der PSA-Test Leben rettet. Die europäische Studie sagt ja, die amerikanische nein. Die amerikanischen Daten werfen sogar die Frage auf, ob wir mit weniger Tests Leben retten könnten. Die europäische Studie stellt fest, dass der Test die Prostatakrebssterblichkeit um 20 Prozent senkte. Statistisch gesehen ist das kein Zufallsergebnis; aber es kommt ihm sehr nahe. Der amerikanischen Studie zufolge steigerte der Test die Sterberate bei Prostatakrebs um 13 Prozent. Das ist nach den Regeln der Statistik ein Zufallsbefund. Dennoch ist die Sorge berechtigt, dass die Vorsorgeuntersuchung das Gegenteil dessen bewirkt, was wir anstreben.21 Die Ungewissheit bleibt also, trotz zweier Studien mit über einer Viertelmillion Teilnehmern.
Das bedeutet: Wenn die Vorsorgeuntersuchung überhaupt einen Nutzen hat, dann ist er zweifellos gering. Im Gegensatz dazu konnten Wissenschaftler in den sechziger Jahren im Auftrag der Veteranenbehörde überzeugend nachweisen, dass es sich lohnte, einen sehr hohen Blutdruck zu behandeln. Dafür mussten sie nur etwa hundertfünfzig Männer zwei Jahre lang beobachten. Nehmen wir einmal an, die europäische Studie hat recht. Ihre Daten vermitteln eine Vorstellung davon, wie vielen Menschen die Früherkennung das Leben rettete und wie viele bestenfalls einer Überdiagnose zum Opfer fielen: Jedem Mann, der vor dem Tod durch Prostatakrebs gerettet wird, stehen rund fünfzig gegenüber, bei denen Überdiagnosen vorliegen und die unnötig behandelt werden. Einige meiner Kollegen wenden vielleicht ein, die tatsächliche Zahl liege eher bei dreißig; aber andere meinen, dass sie eher bei hundert liegt.22
Zum Glück ist die Zahl der Todesfälle wegen Prostatakrebs fast auf 30 Prozent gesunken, seitdem der PSA-Test eingeführt wurde. Aber es ist schwer festzustellen, warum sie sinkt. Im Gegensatz zur Prostatakrebs-Vorsorgeuntersuchung haben randomisierte Studien eindeutig bewiesen, dass eine Behandlung des Prostatakarzinoms die Sterblichkeit senkt.23 Deshalb ist dieser Erfolg zu einem großen Teil auf die Therapie zurückzuführen, nicht auf die Früherkennung.
Es ist einfach nicht möglich, die Vor- und Nachteile der Prostatakrebs-Vorsorgeuntersuchung zu quantifizieren. Und es ist problematisch, die geringere Sterberate gegen die Überdiagnosen abzuwägen, wenn unsicher ist, ob es überhaupt einen Nutzen gibt. Ich glaube, die Vorsorgeuntersuchung hat einen kleinen Nutzen, aber ich weiß auch, dass es viele Überdiagnosen gibt. Meiner Einschätzung nach zeigen die Daten, dass auf jeden Mann, der vor dem Tod durch Prostatakrebs bewahrt wird, dreißig bis hundert Männer kommen, die einer Überdiagnose zum Opfer fallen und unnötig behandelt werden. Aber es ist nicht wichtig, was ich denke; wichtig ist, was Sie denken.
Die Prostatakrebs-Vorsorgeuntersuchung ist für das Problem der Überdiagnose bei Krebs zum Paradebeispiel geworden. Wir wissen heute, dass die Zahl der Prostatakarzinome, die wir entdecken, unmittelbar davon abhängt, wie gründlich wir nach ihnen suchen. Wenn wir mehr Biopsien vornehmen, finden wir mehr; wenn wir den PSA-Schwellenwert für die Biopsie senken, finden wir mehr. Das alles ist aus einem einfachen Grund möglich: Es gibt ein riesiges Reservoir unentdeckter Prostatakrebsfälle. Und das ist keine bloße Theorie. In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben wir einen drastischen Anstieg der Prostatakrebsdiagnosen erlebt. Während heftig darüber gestritten wird, ob der PSA-Test die Zahl der Prostatakrebstoten verringert, gibt es kaum Streit über seine Auswirkungen auf die Zahl der Prostatakrebsdiagnosen. Er hat dazu geführt, dass über eine Million Männer zusätzlich die Diagnose »Prostatakrebs« erhielten und deswegen behandelt wurden.
Unsere Erfahrungen mit der Prostatakrebs-Vorsorgeuntersuchung zeigen kristallklar, dass das Ziel der Krebsvorsorgeuntersuchung nicht nur darin bestehen darf, mehr Karzinome zu finden. Das wäre zu einfach. Das wahre Ziel der Krebsvorsorgeuntersuchung ist viel differenzierter: Wir müssen die richtigen Karzinome finden, die Karzinome, die gefährlich sind. Natürlich schließen die Überdiagnosen nicht aus, dass einigen Männern geholfen wird. Wahrscheinlich hat die Untersuchung Vorteile und Nachteile: Vielleicht können wir damit einigen Männern den Tod durch Prostatakrebs ersparen, wenn auch auf Kosten vieler Überdiagnosen. Wir müssen also die mögliche Verringerung der Todesfälle gegen das Risiko abwägen, Opfer einer unnötigen Diagnose zu werden und an Nebenwirkungen wie Impotenz, Inkontinenz und chronischem Durchfall zu leiden. Meiner Meinung nach besteht derzeit kein ausgewogenes Verhältnis zwischen beiden Möglichkeiten.
Wenn Sie mich fragen, ist Professor Richard J. Ablin von der University of Arizona der gleichen Meinung. Er veröffentlichte kürzlich in der New York Times einen Kommentar mit dem Titel »The Great Prostate Mistake« (Der große Prostata-Fehler).24 Darin heißt es: »Der Test ist kaum effektiver als das Werfen einer Münze«, und: »Er kann nicht zwischen den zwei Arten von Prostatakrebs unterscheiden – zwischen dem, der Sie umbringt, und dem, der das nicht tut.« Warum ist seine Auffassung so wichtig? Weil er das PSA entdeckt hat. Und er hat nie davon geträumt, dass seine Entdeckung eine derartige »vom Profit getriebene öffentliche Gesundheitskatastrophe« auslösen würde.
Vielleicht fragen Sie sich nun, ob die Prostatakrebs-Vorsorgeuntersuchung ein Sonderfall ist. Dem ist nicht so. Sie liefert uns vielmehr einige Erkenntnisse über die Probleme der Früherkennung bei anderen Krebsarten.