Kapitel 1

Der Anfang

Aus Menschen werden Patienten mit Bluthochdruck

Am besten beginnen wir am Anfang. Und am Anfang der Überdiagnose steht die Diagnose und Behandlung eines weitverbreiteten Zustandes: Bluthochdruck.

Schon nach dem ersten Absatz spüre ich das Unbehagen meiner Kollegen – vermutlich denken sie: »Will er uns wirklich raten, Bluthochdruck nicht mehr zu diagnostizieren? Wir diagnostizieren und behandeln ihn jetzt schon zu wenig!« In der Tat ist die Diagnose und Behandlung des Bluthochdrucks eine unserer wichtigsten ärztlichen Maßnahmen. Und es stimmt, dass wir es nicht häufig genug tun. Es gibt Menschen mit unentdecktem Bluthochdruck, die von einer Behandlung enorm profitieren würden.

Aber es stimmt auch, dass wir zu viel des Guten tun. Manche Menschen werden unnötig diagnostiziert und behandelt – sie sind Opfer der Diagnosefalle. Bluthochdruck war angeblich der erste Zustand, der bei symptomlosen Menschen behandelt wurde.1 Vor dem Ende des 20. Jahrhunderts verschrieben die Ärzte meist nur jenen Patienten Medikamente, die Krankheitssymptome aufwiesen. Aber der Bluthochdruck hat das geändert. Plötzlich bekamen Menschen ohne Beschwerden – die keine gesundheitlichen Probleme wahrnahmen – eine Diagnose und Medikamente. Aus Menschen wurden Patienten – es war ein wirklich erstaunlicher Paradigmenwechsel. Die Suche nach Bluthochdruckdiagnosen bei Menschen ohne Symptome konnte bei einigen symptomatische Krankheiten verhindern, jedoch auf Kosten derjenigen, denen eine Diagnose gestellt wurde, obwohl sie nie an den Symptomen des Bluthochdrucks gelitten hätten und auch nicht daran gestorben wären. Mit anderen Worten: auf Kosten von Überdiagnosen.

Ein Zustand, der behandelt werden muss

Ich arbeite in einem kleinen Krankenhaus des Kriegsveteranenministeriums in White River Junction, Vermont. Früher kümmerte ich mich einen oder zwei Monate im Jahr um Patienten, die so krank waren, dass sie in dieses Krankenhaus aufgenommen wurden. Eines Abends führte ich ein Aufnahmegespräch mit einem siebenundfünfzig Jahre alten Mann, der mit starken Schmerzen in der Brust in die Notaufnahme gekommen war. Mr. Lemay berichtete, er habe diese Schmerzen immer häufiger. Manchmal traten sie auf, wenn er zu Fuß unterwegs war oder sich auf andere Weise anstrengte, und bisweilen spürte er Schmerzen, wenn er gar nichts tat.

Der Begriff Brustschmerzen hat in der Medizin eine fast magische Bedeutung. Er verlangt sofortiges Handeln und kann eine ganze Serie von Tests und Maßnahmen auslösen. Der Grund ist, dass Brustschmerzen mitunter auf einen Herzinfarkt hinweisen – die häufigste Todesursache in den Vereinigten Staaten. Wenn ein Patient Brustschmerzen nur erwähnt, fühlen wir uns gedrängt, sehr schnell mehrere Vorkehrungen zu treffen. Wir verabreichen ihm Sauerstoff, geben ihm Aspirin und überprüfen sein Elektrokardiogramm (EKG). Mr. Lemays EKG war deutlich abnorm. Es zeigte, dass ein Teil seines Herzens nicht genug Sauerstoff bekam. Das war ein Zeichen für einen bevorstehenden Infarkt.

Aber noch etwas war ausgesprochen abnorm. Sein Blutdruck betrug 202/117. Der Blutdruck wird mit zwei Zahlen gemessen, die erste (in diesem Fall 202) steht für den systolischen Blutdruck, den höchsten Druck in den Arterien, der sofort nach der Kontraktion des Herzens entsteht. Die zweite Zahl (hier 117) ist der diastolische Blutdruck, der niedrigste Druck in den Arterien. Dies ist der Druck unmittelbar vor der Kontraktion des Herzens, wenn das Herz ganz erschlafft ist. Wird ein Arzt gefragt, welcher Blutdruck normal sei, nennt er gewöhnlich die Zahlen 120/80. Die Frage ist: Ab wann ist der Blutdruck abnorm? Die meisten Ärzte stimmen darin überein, dass ein systolischer Druck über 160 oder ein diastolischer Druck über 90 abnorm hoch ist. Und wir alle sind der Meinung, dass 202/117 abnorm hoch ist. Richtig hoch. Sogar sehr, sehr hoch.

Da ein drohender Herzinfarkt eine ernste Sache ist, nahm ich Mr. Lemay in die Intensivstation auf. Wir verabreichten ihm Medikamente, um seinen Blutdruck zu senken, und seine Brustschmerzen verschwanden rasch. Er bekam keinen Infarkt. Nun ja, nach heutigen Maßstäben vielleicht doch. Die Geschichte spielt Anfang der neunziger Jahre, bevor wir routinemäßig den Troponinspiegel untersuchten (einen sehr empfindlichen Indikator für Herzschäden). Damals stellten wir die Diagnose anhand des Elektrokardiogramms und relativ grober Labortests. Ich vermute, dass wir bei Mr. Lemay heute einen kleinen Herzinfarkt diagnostizieren würden – einen subendokardialen Herzmuskelinfarkt. Wie dem auch sei, einige Tage später fuhr er nach Hause. Das war vor über fünfzehn Jahren. Und seither ist er nicht mehr im Krankenhaus gewesen.

Mr. Lemay ist heute zweiundsiebzig. Ich sehe ihn etwa zweimal im Jahr in der Ambulanz. Er ist sehr gesund. Ich habe sehr wenig für ihn getan, mit einer Ausnahme: Ich habe dafür gesorgt, dass sein Blutdruck nicht zu hoch wird. Das ist nichts Besonderes. Es ist nicht schwierig. Dafür braucht man bestimmt keinen Arzt (Schwestern, praktizierende Pflegeexperten und Arzthelferinnen können das ebenso gut). Aber man kann mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass es für Patienten wie Mr. Lemay den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeutet. Man kann zwar nie sicher sein; aber ich bin davon überzeugt, dass er schon vor Jahren gestorben wäre, wenn ich seinen Bluthochdruck nicht diagnostiziert und angemessen behandelt hätte. Natürlich kam er nicht wegen des Bluthochdrucks in die Notaufnahme, sondern wegen der Schmerzen in der Brust. Doch selbst wenn er keine Symptome gehabt hätte, sondern nur einen anhaltenden Blutdruck von 202/117, würde ich behaupten, die Behandlung hat ihm das Leben gerettet. Lassen Sie mich erklären, warum ich mir dessen so sicher bin.

Die Auswirkungen des Bluthochdrucks

Obwohl Ärzte seit gut hundert Jahren den Blutdruck messen können, dauerte es lange, bis sie die Gefahren des Bluthochdrucks erkannten. Man wusste beispielsweise, dass Präsident Franklin D. Roosevelt einen hohen Blutdruck hatte – er war zur Zeit seiner Wiederwahl im November 1944 höher als 200/100 –, aber es ist unklar, ob seine Ärzte dies als Problem betrachteten. Sechs Monate später kam es zu einer Krise: Er hatte starke Kopfschmerzen und verlor das Bewusstsein. Sein Blutdruck betrug 300/190. Kurze Zeit später starb er an einer starken Gehirnblutung.2

Noch in den fünfziger Jahren hielten Fachärzte einen hohen Blutdruck bei manchen Patienten sogar für notwendig, weil er die lebenswichtigen Organe mit genügend Blut versorge. Die Versicherungsgesellschaften wussten hingegen schon damals, wie gefährlich Bluthochdruck war. Sie hatten beobachtet, dass das Sterberisiko bei Menschen mit hohem Blutdruck erhöht war, und darum weigerten sie sich oft, sie zu versichern.3

Mitte der sechziger Jahre beschloss die Veteranenbehörde (heute das Veteranenministerium, abgekürzt VA) den Nutzen einer Behandlung jener Menschen zu untersuchen, die zwar einen hohen Blutdruck, aber keine Symptome hatten. Sie gab eine Studie in Auftrag, bei der mehrere ihrer Kliniken zusammenarbeiteten. Diese VA-Studie wählte Männer aus (damals waren fast alle Veteranen Männer), bei denen man Bluthochdruck entdeckt hatte, als sie eigentlich aus ganz anderen Gründen im Krankenhaus lagen. Die Forscher ermittelten den Blutdruck der Männer nach ihrer Entlassung und nahmen diejenigen in die Studie auf, die während ihres Krankenhausaufenthalts einen durchschnittlichen diastolischen Blutdruck zwischen 115 und 129 hatten (die also nach heutigen Maßstäben an schwerem diastolischem Bluthochdruck litten). Da der Gedanke, Menschen ohne Symptome mit Medikamenten zu behandeln, so ungewöhnlich war, achteten die Forscher darauf, dass die Teilnehmer ihre Medikamente tatsächlich einnahmen. Bevor ein Patient teilnehmen durfte, musste er sich einem Test unterziehen, der belegte, dass er regelmäßig ein Medikament einnehmen würde, selbst wenn er sich wohlfühlte.

Dieser Test sah so aus: Jeder potenzielle Teilnehmer bekam zwei Schachteln mit Tabletten (zwei, weil die Forscher korrekt annahmen, dass Patienten in Behandlung zwei Medikamente brauchen würden) und eine Anleitung, wie die Arzneien einzunehmen waren. Die eine Tablette war eine unwirksame Zuckertablette, die andere enthielt Vitamin B2, auch Riboflavin genannt. Zwei Wochen später trafen sich die Teilnehmer mit Mitarbeitern der Studie, die nachzählten, wie viele Tabletten die Schachteln noch enthielten. Wenn die Zahl stimmte, nahmen die Forscher an, dass das Medikament vorschriftsmäßig eingenommen worden war. Allerdings überprüften sie ihre Patienten noch durch einen einfachen Urintest. Riboflavin färbt den Urin nämlich hellgelb, und die Farbe fluoresziert unter UV-Licht. Fast 50 Prozent der potenziellen Teilnehmer bestanden den Test nicht und wurden daher entlassen, weil man nicht darauf vertrauen konnte, dass sie ihre Medikamente regelmäßig einnehmen würden.

Dieses Ergebnis zeigt, wie groß der Paradigmenwechsel war. Damals nahmen die Menschen einfach nichts ein, wenn sie keine Symptome hatten. Heute ist das normal. In modernen Studien über Bluthochdruckmedikamente werden meist weniger als 20 Prozent der Teilnehmer ausgesondert, weil sie ihr Medikament nicht regelmäßig einnehmen.4

Diese Studie war ein echtes Experiment: Die Teilnehmer wurden in zwei Gruppen eingeteilt, und der Zufall entschied, welcher Gruppe ein Patient zugewiesen wurde. Eine Gruppe wurde wegen Bluthochdruck behandelt (sie bekam Hydrochlorothiazid und zusätzlich entweder Reserpin oder Hydralazin). Die andere Gruppe bekam Placebos (unwirksame Zuckertabletten). Diese Untersuchung über schweren Bluthochdruck gilt als eine unserer klassischen randomisierten Studien. Da ich auf Studien dieser Art noch häufiger zu sprechen komme, illustriert Abbildung 1.1 auf der nächsten Seite ihre wesentlichen Merkmale. Randomisierte Studien sind Studien, bei denen der Zufall entscheidet, ob die Teilnehmer ein Medikament bekommen oder nicht. Man könnte natürlich eine Münze werfen; doch in der Praxis trifft ein Computer die Entscheidung. Das Wort randomisiert (nach dem englischen Wort random, »zufällig, willkürlich ausgewählt«) wird benutzt, weil die Gruppe, in die ein Teilnehmer kommt, nach dem Zufallsprinzip bestimmt wird.

Randomisierte Studien wurden in den vierziger Jahren von britischen Epidemiologen entwickelt, die sie verwendeten, um nachzuweisen, dass man dem Keuchhusten durch eine Impfung vorbeugen konnte und dass ein Medikament namens Streptomycin Tuberkulose heilte.5 Leider setzte sich die Idee langsam durch, und es gibt heute noch zu wenige Studien dieser Art. Warum behaupte ich das? Weil randomisierte Studien die zuverlässigste Methode sind, um herauszufinden, was in der Medizin wirksam ist.6 Wenn die Mitglieder zweier Gruppen einander in jeder Hinsicht gleichen außer in einer – ob sie ein Medikament bekommen oder nicht –, müssen Unterschiede, die am Ende der Studie beobachtet werden, das Ergebnis der Behandlung sein.

Mehr als zwei Jahrzehnte lang haben uns Beobachtungen in die Irre geführt, wonach es Frauen nach der Menopause, die sich einer Hormonersatztherapie unterzogen, (in fast jeder Hinsicht) besser ging als jenen, die auf eine Therapie verzichteten. Doch als man Frauen endlich im Rahmen einer randomisierten Studie Hormone oder Placebos verabreichte, stellte sich heraus, dass die Therapie mehr Probleme verursachte, als sie löste.7 Es ist verführerisch, Menschen, die ein bestimmtes Medikament einnehmen, mit jenen zu vergleichen, die das nicht tun; aber diese Gruppen unterscheiden sich in vielen wichtigen Aspekten voneinander, nicht nur hinsichtlich der Therapie. Menschen, die ein Medikament einnehmen (die also Zugang zu einem Arzt haben, sich das Medikament leisten können und beschließen, es zu nehmen), sind im Durchschnitt gebildeter, wohlhabender und generell gesundheitsbewusster (sie treiben zum Beispiel mehr Sport und rauchen weniger). Ein solcher Vergleich ist zwar einfach, verfälscht aber das Ergebnis, denn den Menschen, die vorbeugend Medikamente nehmen, geht es schon deshalb besser als jenen, die das nicht tun, weil sie von vornherein gesünder sind – selbst wenn das Medikament keinerlei Wirkung hat. Um dieses Problem zu vermeiden, brauchen wir echte Experimente: randomisierte Studien.

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Abbildung 1.1 Grundmuster einer randomisierten Studie

Die randomisierte VA-Studie über die Behandlung von schwerem Bluthochdruck

Die VA-Studie war nach heutigen Maßstäben ziemlich klein: Sie hatte nur etwa 140 Teilnehmer. Rund 70 von ihnen wurden behandelt, 70 nicht.8 Zudem war die Studie nach modernen Standards recht kurz: Sie dauerte etwa anderthalb Jahre. Die umseitige Tabelle 1.1 ist die Strichliste, die zeigt, wie viele Teilnehmer im Laufe dieser Zeit negative gesundheitliche Folgen zu beklagen hatten und wer von ihnen Medikamente oder Placebos einnahm.9

Tabelle 1.1 Ergebnisse der randomisierten VA-Studie über die Behandlung von schwerem Bluthochdruck

Ergebnis

keine Behandlung
(Kontrollgruppe)

Behandlung
(Intervention)

Tod

4

0

Schlaganfall

4

1

Herzversagen

4

0

Herzanfall

2

0

Nierenversagen

3

0

Augenblutung

7

0

hospitalisiert wegen Bluthochdruck

3

0

Behandlungskomplikationen

0

1

Summe

27

2

Kleine Studie, kurze Nachbeobachtung – aber sehr aussagekräftige Resultate. Sie sehen enorm viele Nullen in der behandelten Gruppe. Und die unterste Zeile ist krass: 27 negative Vorfälle in der unbehandelten und 2 in der behandelten Gruppe.

Um zu verstehen, wie klar das Ergebnis ist, müssen Sie bedenken, dass es bei insgesamt 29 Teilnehmern negative Vorfälle gab. Hätte die Behandlung nichts bewirkt, würden wir erwarten, dass sich diese 29 Fälle etwa gleichmäßig zwischen den beiden Gruppen verteilen. Nehmen wir nun an, Sie werfen eine Münze 29 Mal und bekommen 27 Mal Wappen und nur 2 Mal Zahl. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit dafür? Wenn die Münze einwandfrei ist, etwa zwei zu einer Million. Mit anderen Worten, es besteht fast keine Möglichkeit, dass zwei ähnliche Gruppen (mit zufällig ausgewählten Teilnehmern) solche Unterschiede aufweisen, es sei denn, die Behandlung war wirksam.

Wichtig ist auch der Hinweis, wie häufig diese negativen gesundheitlichen Folgen in der unbehandelten Gruppe waren. Unter 70 Patienten beklagten 27 im Laufe der anderthalb Jahre ein negatives Ereignis. Die meisten Menschen denken nicht darüber nach, wie hoch die Wahrscheinlichkeit für irgendein beliebiges Ereignis innerhalb von anderthalb – oder auch von 3,3 oder 4,7 – Jahren ist, denn normalerweise fragen wir danach, wie oft etwas innerhalb eines Jahres vorkommt. Die Ein-Jahr-Wahrscheinlichkeit für eines dieser negativen Vorkommnisse betrug rund 26 Prozent. Anders gesagt, mehr als ein Viertel der Männer, deren Bluthochdruck nicht behandelt wurde, erlebten innerhalb eines Jahres etwas sehr Tragisches (Schlaganfall, Herzinfarkt oder Tod). Das entsprechende Risiko für die behandelte Gruppe betrug weniger als 2 Prozent. Es besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen 26 Prozent und unter 2 Prozent. Das bedeutet, dass die Behandlung tatsächlich half. Besser kann ein Ergebnis in der Medizin kaum sein. Wenn ich schweren Bluthochdruck hätte, würde ich mir auf jeden Fall wünschen, diagnostiziert und behandelt zu werden.

Da die meisten Menschen mit hohem Blutdruck sich jahrelanger Behandlung unterziehen müssen, ist es sinnvoll, einen ausführlichen Blick in die Zukunft zu werfen. Wahrscheinlich fürchten Sie sich vor Schlaganfällen, Herzinfarkten und Tod nicht nur im nächsten Jahr, sondern auch darüber hinaus. Wenn wir nur ein Jahr betrachten, ist Ihr Risiko gering; aber es steigt mit der Zeit. Deshalb überlegen Ärzte häufig, wie hoch das Risiko eines Patienten in den nächsten fünf oder zehn Jahren ist. Auf der Grundlage der oben genannten Daten und unter der Annahme, dass die Zahl der negativen gesundheitlichen Ereignisse konstant bleibt, beträgt die Wahrscheinlichkeit für negative gesundheitliche Ereignisse innerhalb von fünf Jahren in der unbehandelten Gruppe rund 80 Prozent. (Falls Sie sich fragen, warum die Wahrscheinlichkeit rechnerisch nicht über 100 Prozent steigt, müssen Sie berücksichtigen, dass mit der Zeit – und nach immer mehr negativen Vorkommnissen – immer weniger Männer vorhanden sind, bei denen ein Schlaganfall, ein Nierenversagen etc. auftreten kann. Nach fünf Jahren haben 80 Prozent der unbehandelten Männer mit schwerem diastolischem Bluthochdruck eine negative gesundheitliche Folge erlitten; nach zehn Jahren sind es 95 Prozent und nach fünfzehn Jahren 99 Prozent. Jetzt wird klar, warum ich so sicher bin, dass Mr. Lemay ohne Behandlung wahrscheinlich schon vor Jahren gestorben wäre.)

Natürlich steigt auch das Risiko in der behandelten Gruppe. Innerhalb von fünf Jahren beträgt die Wahrscheinlichkeit für ein negatives Vorkommnis 8 Prozent. Innerhalb von zehn Jahren sind es 15 Prozent und innerhalb von fünfzehn Jahren 21 Prozent.

Wir können nun also die Ergebnisse in der behandelten und in der unbehandelten Gruppe innerhalb verschiedener Zeitspannen vergleichen:

Nach fünf Jahren beträgt das Risiko für einen negativen Vorfall in der unbehandelten Gruppe 80 Prozent und in der behandelten Gruppe 8 Prozent.

Oder:

Nach zehn Jahren beträgt das Risiko für einen negativen Vorfall in der unbehandelten Gruppe 95 Prozent, in der behandelten Gruppe 15 Prozent.

Oder:

Nach fünfzehn Jahren beträgt das Risiko für einen negativen Vorfall in der unbehandelten Gruppe 99 Prozent und in der behandelten Gruppe 21 Prozent.

Einerlei, welchen Vergleich Sie ziehen, ich vermute, dass Sie sich behandeln lassen würden – so wie ich es tun würde.

Man kann den Nutzen auch anders erklären. Bleiben wir bei einem Zeitraum von fünf Jahren. Wenn Sie sich nicht behandeln lassen, beträgt die Wahrscheinlichkeit 80 Prozent, dass innerhalb dieser Spanne etwas Negatives geschieht. Wenn Sie sich behandeln lassen, sinkt das Risiko auf 8 Prozent. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Behandlung Ihnen hilft (das heißt, dass Sie einen negativen Vorfall verhindern können, weil Sie behandelt werden), beträgt somit 72 Prozent (80 Prozent minus 8 Prozent). Und es gibt noch eine weitere Betrachtungsweise: Wenn die Wahrscheinlichkeit für eine positive Wirkung 72 Prozent beträgt, müssen wir (durchschnittlich) weniger als zwei Menschen behandeln, um sicherzustellen, dass einer davon profitiert. Die genaue Zahl der Patienten, die wir behandeln müssen, ist einfach der Kehrwert (1 geteilt durch die Zahl) der Erfolgschance. In diesem Fall ist die Zahl, deren Kehrwert wir brauchen, 72 Prozent oder, als Dezimalzahl, 0,72. Der Kehrwert von 0,72 ist 1 geteilt durch 0,72 (hier ist ein Taschenrechner zweckmäßig), also 1,3888. Diese Zahl runden wir zweckmäßigerweise auf 1,4 auf. Ärzte nennen sie »die Zahl derer, die eine Behandlung brauchen«: Wir müssen durchschnittlich nur 1,4 Patienten fünf Jahre lang behandeln, um sicher zu sein, dass einer davon profitiert.

Tabelle 1.2 fasst diese drei Betrachtungsweisen zusammen.

Tabelle 1.2 Berechnungen des Nutzens

Maßeinheit

Definition

Beispiel (schwerer diastolischer Bluthochdruck)

Fünf-Jahres-Risiko
in jeder Gruppe

Risiko für einen negativen
Vorfall in jeder Gruppe
innerhalb von fünf Jahren

unbehandelte Gruppe:
80 Prozent; behandelte
Gruppe: 8 Prozent

Chance auf Nutzen
(innerhalb von
fünf Jahren)

Subtraktion des Risikos
in der behandelten Gruppe
vom Risiko in der nicht
behandelten Gruppe =
die Chance, von der
Behandlung zu profitieren

80 Prozent minus 8 Prozent =
72 Prozent der Patienten profitieren von der Behandlung

Zahl derer, die
(fünf Jahre lang)
behandelt werden
müssen

Kehrwert der Chance auf
Nutzen = Zahl der Patienten,
die behandelt werden müssen, damit einer profitiert

1/0,72 ≈ 1,4 Patienten

Der Nutzen bei unterschiedlichen Blutdruckwerten

Der Nutzen einer Behandlung von schwerem Bluthochdruck ist groß. Aber es gibt verschiedene Stufen des Bluthochdrucks, vom fast normalen bis zum sehr hohen Blutdruck. Davon wird der Nutzen der Behandlung beeinflusst. Schauen wir uns einmal an, welche Wirkung eine Behandlung bei unterschiedlichen Blutdruckwerten hat.

Tabelle 1.3 zeigt die Ergebnisse mehrerer randomisierter Studien, die jeweils einen unterschiedlich schweren Bluthochdruck untersuchten.

Tabelle 1.3 Nutzen bei unterschiedlichen Blutdruckwerten

Schwere des Bluthochdrucks

Risiko für ein negatives Vorkommnis in 5 Jahren

Chance auf Nutzen

Zahl der zu

Behandelnden

ohne Behandlung

mit Behandlung

schwer

(diastolischer BD 115–129) moderat

80 %

8 %

72 %

1,4

(diastolischer BD 105–114)

38 %

12 %

26 %

4

leicht

(diastolischer BD 90–104)

32 %

23 %

9 %

11

sehr leicht11

(diastolischer BD 90–100)

9 %

3 %

6 %

18,12

Jede Zeile steht für eine Studie, deren Teilnehmer eine sukzessiv mildere Form von Bluthochdruck (das heißt, einen niedrigeren diastolischen Blutdruck) hatten. Bei jeder Studie habe ich darauf geachtet, dass unter einem »negativen Vorkommnis« in etwa das Gleiche verstanden wird: Tod oder schwere Organstörungen (zum Beispiel Herzinfarkt, Schlaganfall, Nierenversagen). Beachten Sie, dass die Gefahr eines negativen Ereignisses in der unbehandelten Gruppe (zweite Spalte) sinkt, wenn der Blutdruck sinkt. Das spiegelt ein Grundprinzip wider: Bei geringeren Abweichungen von der Norm ist die Gefahr von Störungen geringer als bei erheblichen Abweichungen. Das haben Sie vermutlich erwartet. Aber es ist ein wichtiger Punkt, den wir nicht vergessen dürfen. Vielleicht müssen Sie sogar Ihren Arzt daran erinnern.

Die dritte Spalte überrascht ein wenig. Man könnte meinen, alle Zahlen müssten ungefähr gleich sein, das heißt, das Risiko für ein negatives Vorkommnis sei bei allen behandelten Patienten identisch. Aber dies sind echte Daten, und echte Daten sind nicht so hübsch, wie wir es gerne hätten. Diese Zahlen schwanken ein wenig und spiegeln wahrscheinlich Unterschiede bei den Teilnehmern und den Medikamenten wider – sowie die Tatsache, dass verschiedene Studien immer mit etwas verschiedenen Ergebnissen aufwarten. Alle Zahlen sind also nur eine Annäherung an die Wirklichkeit. Entscheidend ist das Gesamtbild.

Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie von einer Behandlung profitieren werden (vierte Spalte), sinkt, wenn der Bluthochdruck milder wird. Das spiegelt ein zweites Grundprinzip wider: Menschen mit milderen Anomalien profitieren von einer Behandlung weniger als jene mit schweren Anomalien. Die fünfte Spalte sagt dasselbe mit anderen Worten. Obwohl fast jeder Patient mit schwerem Bluthochdruck von einer Behandlung profitiert, muss man achtzehn Patienten mit leichtem Bluthochdruck behandeln, damit einer einen Nutzen davon hat.

Weil das zweite Prinzip so wichtig ist, um den Rest des Buches zu verstehen, möchte ich es mit Abbildung 1.2 (nächste Seite) noch einmal grafisch darstellen.

Die horizontale Achse der Abbildung zeigt das Grad der Anomalie. Die meisten Abweichungen, auch der Bluthochdruck, sind variabel: von sehr leicht bis schwer. In der Regel nimmt der Nutzen einer Behandlung mit der Schwere der Anomalie zu. Natürlich hängen die beiden oben genannten Prinzipien eng miteinander zusammen. Der Grund dafür, dass Patienten mit milderen Anomalien normalerweise weniger von einer Behandlung profitieren, liegt darin, dass mildere Anomalien seltener zu Symptomen oder gar zum Tod führen als schwere. Mit anderen Worten: Mildere Anomalien führen mit größerer Wahrscheinlichkeit zu Überdiagnosen. Den meisten Menschen drohen wegen ihrer milden Anomalien keine negativen Folgen. Und wer Opfer einer Überdiagnose wird, kann von einer Behandlung schon deshalb nicht profitieren, weil es nichts zu beheben gibt.

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Abbildung 1.2 Beziehung zwischen dem Grad der Anomalie und dem Nutzen der Behandlung bei Bluthochdruck

Vielleicht denken Sie nun: »Na und? Wenn die Chance besteht, dass das Medikament mir hilft, warum soll ich es dann nicht nehmen?« Einer der Gründe könnte das Geld sein. Manche Menschen müssen einen großen Teil ihres Einkommens für Medikamente ausgeben und sparen deshalb am Notwendigsten, zum Beispiel am Essen. Ein weiterer Grund, ein Medikament nicht zu nehmen, ist der Aufwand: Sie müssen einen Arzt besuchen, sich ein Rezept ausstellen lassen, einen Labortest machen, rechtzeitig um ein neues Rezept bitten und sich mit der Versicherung auseinandersetzen. Außerdem haben manche Leute keine Lust, täglich Medikamente einzunehmen.

Aber wischen wir einmal all diese Argumente vom Tisch. Angenommen, die Behandlung ist kostenlos, Sie haben keinen Aufwand und es stört Sie auch nicht, jeden Tag Tabletten zu schlucken. In diesem Fall würde sich jeder gerne behandeln lassen, unabhängig von der Schwere der Symptome und vom Umfang des Nutzens, oder?

Es sei denn, die Behandlung hat auch Nachteile, irgendwelche negativen Folgen.

Wenn die Behandlung schlimmer als die Krankheit ist

Ich behandle vor allem ambulante Patienten, nicht stationäre. Viele Patienten, die ich in der Klinik regelmäßig sehe, könnte man als »Vermonter« vom alten Schlag bezeichnen – robuste, ältere Männer, die den größten Teil ihres Lebens im Freien verbracht haben. (Und da ich für das Veteranenministerium arbeite, waren alle meine Patienten beim Militär.) Einer dieser Patienten, Mr. Bailey, ist ein zweiundachtzigjähriger Mann, der allein auf einer Farm lebt, etwa vierzig Kilometer vom Krankenhaus entfernt. Er arbeitet fast jeden Tag im Freien: Er beseitigt Gestrüpp, harzt Ahornbäume, schaufelt Schnee, baut Mauern aus Stein, kümmert sich ums Vieh oder repariert das Haus. Telefonisch kann ich ihn nur nach Einbruch der Dunkelheit erreichen, und er besitzt keinen Anrufbeantworter.

Zum Glück musste ich Mr. Bailey bisher nicht oft anrufen, weil er ziemlich gesund ist. In den vergangenen zehn Jahren haben wir uns ein- oder zweimal im Jahr in der Klinik gesehen, und meist unterhalten wir uns nur. Offen gestanden habe ich nicht viel für ihn getan. Er wurde nie stationär behandelt. Das einzige Medikament, das ich ihm regelmäßig verschreibe, braucht er wegen einer gutartigen Prostatavergrößerung, die bei Männern im mittleren und höheren Alter häufig vorkommt. Dabei wächst die Prostata, drückt die Harnröhre zusammen und stört dadurch die normale Entleerung der Blase (ähnlich wie eine Klemme am Gartenschlauch). Wir haben über ein Medikament gegen seine gelegentlichen Depressionen nachgedacht; aber sie waren nie so schwer, dass ich darauf bestanden hätte, und er war nie darauf erpicht, deswegen Tabletten zu schlucken. Was medizinische Maßnahmen anbelangt, ist er ziemlich zurückhaltend.

Obwohl viele meiner Patienten zu uns kommen, um sich behandeln zu lassen (weil sie glauben, dass eine Behandlung ihnen nur gut tun kann), denkt ein beträchtlicher Teil von ihnen wie Mr. Bailey. Sie lassen sich nicht gerne operieren und zögern, Medikamente wegen eines Problems einzunehmen, das sie für nebensächlich halten. Und sie sind von Natur aus skeptisch gegenüber Maßnahmen, die sie vor möglichen Beschwerden in der Zukunft schützen sollen. Ihr Standpunkt lautet: »Man soll nicht reparieren, was nicht kaputt ist.« Ich führe ihre Einstellung darauf zurück, dass viele Bewohner des ländlichen Vermont einen starken Hang zur Unabhängigkeit haben. Sie werden zur Selbstständigkeit erzogen (und bedauern möglicherweise übertriebene mechanische Eingriffe in ihre Traktoren).

Vor einigen Wintern stand Mr. Baileys Name auf einer Liste, die ich von der Klinikverwaltung bekam. Es ging um Patienten, deren Blutdruck das Ministerium für bedenklich hielt. Mr. Baileys diastolischer Blutdruck lag im Bereich zwischen 70 und 90, war also in Ordnung. Sein systolischer Blutdruck war bei seinen letzten beiden Besuchen jedoch hoch gewesen – über 160. Offen gestanden kann ich Ihnen nicht sagen, ob ich das wusste, bevor ich die Liste erhielt. Als ich studierte, wurde allein auf der Basis des diastolischen Blutdrucks über eine Behandlung entschieden. Heute wird zunehmend anerkannt, dass ein erhöhter systolischer Blutdruck bei älteren Menschen wahrscheinlich gefährlicher ist als ein erhöhter diastolischer Blutdruck. Wahrscheinlich hatte ich den hohen systolischen Wert zwar gesehen, aber nicht reagiert. Jetzt war er offenkundig jemand anderem aufgefallen.

Ich würde Ihnen gerne sagen können, dass dieser Fall meine praktische Arbeit nicht beeinflusst hat. Aber das stimmt nicht. Kein Arzt will sich nachsagen lassen, dass er berufliche Standards missachtet. Ich hatte gemischte Gefühle, was eine Behandlung dieses leichten systolischen Bluthochdrucks betraf – es gab Argumente dafür und dagegen. Da Mr. Baileys Name jedoch auf der Liste stand, entschied ich mich für eine Behandlung.

Also verordnete ich ihm zunächst eine 25-Milligramm-Tablette Hydrochlorothiazid jeden Morgen. Dieses Medikament wirkt harntreibend und senkt den Wassergehalt des Körpers (das ist einer der Gründe dafür, dass es auch den Blutdruck senkt). Mr. Bailey verspürte keine unangenehmen Nebenwirkungen. Sein Blutdruck sank und war den ganzen Frühling über normal. Dann hatten wir eine Zeit lang heißes, feuchtes Wetter. Davon lässt Mr. Bailey sich nicht aufhalten. Eines Tages reparierte er im Freien eine Mauer, hob schwere Steine und triefte vor Schweiß. Und weil er nicht dauernd eine Wasserflasche bei sich hatte, trocknete sein Körper aus. Sein Blutdruck wurde zu niedrig, und er brach bewusstlos zusammen.

Als er aufwachte, rief er mich an (ich bin telefonisch leichter zu erreichen als er). Er hatte sich beim Kollaps nicht verletzt; aber das hätte passieren können. Und was wäre geschehen, wenn er gerade seine Kettensäge benutzt hätte? Ich riet ihm, die Tabletten nicht mehr zu nehmen, mehr Wasser zu trinken und zu mir in die Klinik zu kommen.

Als ich ihn ein paar Tage später traf, schien es ihm gut zu gehen. Ich erklärte ihm, was ich vermutete: Er hatte stark geschwitzt, zu wenig Wasser getrunken und ein blutdrucksenkendes Medikament eingenommen, und diese Faktoren zusammen hatten seine Ohnmacht verursacht. Er wollte wissen, ob er das Medikament wirklich einnehmen müsse. Das war eine völlig berechtigte Frage. Als Forscher hielt ich es für angebracht, ihm einige Zahlen vorzulegen, damit er das Für und Wider genauer abwägen konnte.

Während der diastolische Blutdruck seit den sechziger Jahren behandelt wird, ist die Therapie des systolischen Blutdrucks sehr viel jünger. Die randomisierte Studie, die unsere Praxis veränderte, wurde 1991 veröffentlicht.13 Die Teilnehmer waren ältere Patienten (wie Mr. Bailey), bei denen der diastolische Blutdruck normal war, der systolische Blutdruck jedoch über 160 lag. Diesen Zustand nennt man isolierten systolischen Bluthochdruck. Die Studie war groß – fast fünftausend Patienten nahmen teil. Und die Nachbeobachtung dauerte lange – beinahe fünf Jahre. Allen, die mit der klinischen Forschung vertraut sind, geben diese Details einen Hinweis auf die Größenordnung der Ergebnisse, mit denen die Wissenschaftler rechneten. Erinnern Sie sich an die randomisierte VA-Studie? Das war eine kleine Studie mit einer kurzen Nachbeobachtung, die aber eine enorme Wirkung belegte. Wenn die Wirkung sehr groß ist, kann sie bei einer kleinen Zahl von Menschen innerhalb einer kurzen Zeitspanne festgestellt werden. Wenn eine Studie groß und die Nachbeobachtungszeit lang ist, so ist dies ein Hinweis darauf, dass die Forscher mit einer geringen Wirkung rechnen.

In der Studie über den isolierten systolischen Bluthochdruck suchten sie nach den gleichen Folgen, die man in Studien über den diastolischen Bluthochdruck gefunden hatte: Todesfälle und Beschwerden als Folge geschädigter Blutgefäße, die für die Versorgung von Herz und Gehirn zuständig sind. Da die Patienten dieser Studie relativ alt waren (sie waren alle in ihren Siebziger- und Achtzigerjahren), traten diese Ereignisse in der unbehandelten Gruppe ziemlich häufig auf: Bei 18 Prozent kam es im Laufe von fünf Jahren zu negativen Folgen. Der behandelten Gruppe erging es etwas besser: 13 Prozent verzeichneten innerhalb von fünf Jahren gesundheitliche Beeinträchtigungen.

Diese Zahlen unterbreitete ich Mr. Bailey. Da die Lebenserwartung eines zweiundachtzigjährigen Weißen etwa sieben Jahre beträgt14, schien die fünfjährige Zeitspanne angemessen. Ich sagte ihm, die Wahrscheinlichkeit negativer Vorkommnisse in den nächsten fünf Jahren betrage ohne Behandlung 18 Prozent und mit Behandlung 13 Prozent. Das bedeutete, dass 5 Prozent (18 minus 13) der Patienten von einer Behandlung profitierten. Man musste also zwanzig Patienten behandeln, damit einer (1/0,05) einen Nutzen davon hatte. Er war verblüfft. Ihm kam der Nutzen sehr klein vor. Warum um Himmels willen sollte er Tabletten schlucken?

Nein, das lohnte sich nicht. Mr. Bailey überlegte nicht lange, ob er vielleicht dieser Eine unter zwanzig Personen war, der von der Behandlung profitierte. Er befürchtete, zu den neunzehn zu gehören, die keinen Nutzen davon hatten. Er befürchtete also eine Überdiagnose. Und jetzt hatte er auch ein Problem mit dem Medikament, schließlich hatte er bereits eine gesundheitsgefährdende Nebenwirkung kennengelernt. Darum beschloss er, die Behandlung abzubrechen. Das war absolut vernünftig.



Der Umgang mit Bluthochdruck bedeutete einen echten Paradigmenwechsel in der Medizin: Anfangs wurden Patienten behandelt, die akute gesundheitliche Probleme hatten; später behandelte man auch Menschen, bei denen in Zukunft vielleicht Symptome auftreten würden. Das war der Beginn einer Behandlung von Menschen ohne Symptome – von Menschen, die sich wohlfühlten, bei denen das Risiko, krank zu werden, aber höher war als im Durchschnitt.

Gewiss, eine Behandlung rettet Leben, aber nicht das Leben aller. Sie verhindert nicht jeden Herzinfarkt oder Schlaganfall. Und manche Menschen mit Bluthochdruck werden diese Probleme auch ohne Behandlung nie haben. Sie stehen vor einem anderen Problem: dem Problem der Überdiagnose. Die Behandlung des Bluthochdrucks hat Nebenwirkungen, von denen manche schwerer sind als andere. Ich will die körperlichen Nebenwirkungen der Medikamente nicht überbetonen; aber es gibt sie. Manche Medikamente machen müde, andere verursachen Husten oder dämpfen den Geschlechtstrieb. Alle Medikamente können den Blutdruck zu stark senken, was Benommenheit, Ohnmacht und Stürze verursacht. Und ein Sturz kann bei älteren Menschen der Beginn einer ganzen Kette von Ereignissen sein, die zum Tod führen. Das Gleichgewicht zwischen dem potenziellen Nutzen einer Behandlung und der Gefahr einer Überdiagnose hängt stark davon ab, wie hoch der Blutdruck ist und wie aggressiv wir ihn behandeln.16 Wenn Sie an schwerem (systolischem oder diastolischem) Bluthochdruck leiden, ist eine Behandlung unerlässlich. Aber je niedriger der Bluthochdruck ist, desto schwieriger ist die Entscheidung, ob man ihn behandeln soll. Zumindest theoretisch erreichen wir irgendwann einen Punkt, an dem der Nutzen einer Behandlung so gering und die Gefahr einer Überdiagnose so groß ist, dass die Entscheidung wieder einfach wird: Es gibt einfach keinen Grund für eine Diagnose und eine Behandlung.

Das wirft eine Frage auf: Wo sollen wir die Grenze ziehen? Mit anderen Worten: Wann rechtfertigt ein Zustand eine Behandlung?