Kapitel 7
Wir stoßen unerwartet auf Inzidentalome, die Krebs sein könnten
Vor ungefähr fünfzehn Jahren rief mich einer meiner Patienten an, weil er heiser war. Das war unüberhörbar – ich erkannte seine Stimme am Telefon fast nicht. Mr. Baker sagte, es gehe ihm gut; nur die Heiserkeit sei lästig. Ich fragte ihn, wie lange er schon heiser sei. Als er mir sagte, die Heiserkeit habe vor etwa sechs Wochen begonnen, war ich besorgt. Die Dauer der Heiserkeit und das Fehlen anderer Symptome machte Laryngitis (eine Kehlkopfentzündung) oder einen anderen Infekt der oberen Atemwege unwahrscheinlich. Zwar hatte Mr. Baker vor rund drei Jahren mit dem Rauchen aufgehört, aber er war viele Jahre lang Raucher gewesen. Diese beiden Tatsachen deuteten auf Krebs der Stimmbänder oder, schlimmer noch, auf Lungenkrebs hin. Lungenkrebs erfasst oft auch die Lymphdrüsen nahe der Brustkorbmitte. Der Nerv, der zu den Stimmbändern führt, windet sich sogar vom Gehirn nach unten bis zu einem Punkt in der Nähe dieser Lymphdrüsen, bevor er eine Drehung nach oben zu den Stimmbändern macht. Wenn Krebszellen die Drüsen anschwellen lassen, können sie den Nerv einklemmen, der dann die Stimmbänder lähmt und Heiserkeit verursacht.
Einer der Vorteile eines kleinen Krankenhauses wie White River Junction besteht darin, dass die Ärzte ziemlich leicht miteinander kommunizieren können. Und zufällig war das Büro des Hals-Nasen-Ohren-Arztes nur wenige Türen von meinem entfernt. Nach dem Telefongespräch mit Mr. Baker ging ich zu meinem Kollegen, berichtete ihm von meinem Patienten und bat ihn, sich dessen Stimmbänder anzuschauen. Er war einverstanden und vereinbarte einen Termin mit Mr. Baker. Als er einige Tage später die Stimmbänder untersuchte, fand er einen kleinen Tumor, den er biopsieren ließ. Es gab keinen Zweifel – mein Patient hatte Stimmbandkrebs. Aber der Krebs befand sich im Frühstadium; er hatte sich noch nicht im Hals ausgebreitet. Durch die Biopsie war sogar schon der größte Teil entfernt worden. Mr. Bakers Heiserkeit legte sich fast sofort. Er wurde kurz bestrahlt und gebeten, sich wieder zu melden, falls die Heiserkeit zurückkehrte. Und das wäre es gewesen, wenn nicht jemand noch eine Röntgenaufnahme des Brustkorbs angefordert hätte.
Manche Ärzte mögen nun einwenden, dass Mr. Bakers Brustkorb auf jeden Fall geröntgt werden musste, weil die Möglichkeit eines Lungenkarzinoms bestand. Ich würde entgegnen, dass wir die Ursache der Heiserkeit gefunden hatten und daher nicht nach einer zweiten Krebserkrankung suchen mussten. Aber der Zug war bereits abgefahren. Obwohl Mr. Bakers Lungen gesund aussahen, war der Radiologe besorgt wegen einer möglichen Erweiterung des Mediastinums (des Mittelfells zwischen den Lungen). Da eine Erweiterung ein Krebssymptom sein konnte, empfahl der Radiologe eine CT des Brustkorbs.
Die Schichtaufnahme zeigte ein normales Bild. Der Radiologe schloss daraus, dass das Mediastinum in Ordnung war und dass er das Röntgenbild falsch gedeutet hatte. Allerdings erfasste die Schichtaufnahme auch einen Teil des Unterleibs. Da die Lungen hinten tiefer reichen als vorne, müssen alle CT-Schichtbilder des Brustkorbs einen Teil des Bauchraumes einschließen, damit die Lungen vollständig geröntgt werden. Teile der Leber, des Magens und der Nieren wurden erfasst. Und an der rechten Niere befand sich ein Klumpen in der Größe eines Golfballs. Es war fast mit Sicherheit Krebs. Das war eine Überraschung. Ein Patient, der über Heiserkeit geklagt hatte, bekam die Diagnose »Nierenkrebs« gestellt.
Ich habe diese Geschichte im Laufe der Jahre bei einigen Ärztetagungen erzählt und immer die gleiche Reaktion erlebt: Gelächter. Das soll nicht heißen, dass Ärzte gefühllos sind oder sich über das Unglück anderer freuen. Nein, sie lachen, weil sie solche absurden Situationen kennen. Wir alle waren an ähnlichen diagnostischen Kaskaden beteiligt und sind auf Anomalien gestoßen, die eindeutig nichts mit dem ursprünglichen Problem zu tun hatten. Und wir alle standen vor der heiklen Frage, was wir als Nächstes tun sollten.
Vielleicht erinnern Sie sich daran, dass ich einmal ein kleines Experiment machte und meine Nebenhöhlen röntgen ließ, obwohl ich keine Symptome hatte. Ich wurde mit der überraschenden Diagnose »Sinusitis« belohnt. Doch überraschende Befunde kommen auch bei Patienten mit Symptomen vor. Sie überraschen uns, weil zwischen den Anomalien und den Symptomen keinerlei Zusammenhang besteht. Der typische Überraschungsfund ist ein kleiner Knoten, der auf einem Schichtbild entdeckt wird – ein Patient bekommt mitgeteilt, auf der Leber, der Lunge oder der Niere sei ein »Fleck«. Solche Knoten können Karzinome sein. Aber sie sind es fast nie. Deshalb nennen Radiologen sie Inzidentalome nach dem englischen Begriff incidentaloma (incidental bedeutet »zufällig« oder »beiläufig«).
Die folgenden Beispiele zeigen, worum es geht:
- • Eine Frau hatte einen epileptischen Anfall. Bei einer Kernspinuntersuchung wird eine Zyste in einer Nebenhöhle entdeckt. Die Zyste steht in keinerlei Zusammenhang mit dem Anfall.
- • Ein Mann ist auf Eis ausgerutscht und lässt sich die Rippen röntgen. Man findet einen Fleck auf seiner Lunge. Der Fleck auf der Lunge hat nichts mit dem Sturz zu tun.
- • Eine Frau hat Atembeschwerden. Eine CT wird vorgenommen, und das Bild zeigt einen kleinen Knoten in der Leber. Dieser Knoten hat nichts mit ihren Atemproblemen zu tun.
CT- und MRT-Schichtaufnahmen liefern viele Überraschungsfunde. Manchmal machen wir eine CT, um den Bauchraum zu untersuchen, und finden etwas im Brustkorb, und manchmal machen wir eine CT, um uns den Brustkorb anzusehen, finden aber etwas im Unterleib. Für die Patienten sind Überraschungsfunde immer das, was ihr Name schon sagt; aber wir Ärzte begegnen ihnen so häufig, dass wir uns nicht mehr sonderlich wundern.
Es gibt einen Grund für diese vielen Überraschungen: Eine CT enthüllt selbst winzige anatomische Details. Sie besteht nämlich aus einer Serie von Röntgenaufnahmen des menschlichen Körpers, im Querschnitt aufgenommen, wobei die einzelnen Schichten bis zu einem Millimeter dünn sein können. Die typische CT besteht aus fünfzig bis hundert Schichtaufnahmen; es kann allerdings sein, dass der Radiologe nur einen Teil von ihnen prüft. Ein Computer setzt diese Bilder zusammen und projiziert sie auf einen großen Monitor. Der Radiologe kann einzelne Elemente vergrößern und die Helligkeit oder den Kontrast verändern, um bestimmte Organe besser zu sehen. Er erkennt Anomalien, die einen bis zwei Millimeter groß sind, etwa so groß wie die Spitze eines Kugelschreibers.
Dank der CT haben wir eine Menge darüber gelernt, was im kranken Körper vor sich geht. Sie zeigt uns eine Blinddarmentzündung (Appendizitis), eine Gehirnblutung und eine Entzündung der Bauchspeicheldrüse (Pankreas), und sie enthüllt, ob ein Krebs sich in andere Körperteile ausgebreitet hat. Wie alle Diagnosetechniken kann jedoch auch die CT zu viel zeigen, zu viele Überraschungsfunde liefern, die den diagnostizierenden Arzt zu erdrücken drohen.
Inzidentalome
Am häufigsten werden Inzidentalome in den Lungen entdeckt. Kleine Lungenknoten sind bei Nichtrauchern auf rund 15 Prozent und bei Rauchern auf bis zu 50 Prozent aller CT-Bilder zu sehen.1 Die große Mehrheit dieser Knoten wird nie bösartig. Das Gleiche gilt für die anderen häufig gefundenen Inzidentalome, nämlich jene in der Leber, den Nieren, der Schilddrüse und den Nebennieren. Dennoch sind diese zufälligen Funde ein Problem. William Black, einer meiner engsten Kollegen, ist ein Radiologe, der viel über dieses Thema nachgedacht hat. Er schätzt, dass auf mindestens tausend von zehntausend CT-Aufnahmen Inzidentalome zu sehen sind.2 Die meisten von ihnen entwickeln sich nie zu einem Karzinom, aber es gibt eine oder zwei Ausnahmen. Was sollen wir tun? Selbst wenn fünf Inzidentalome sich als klinisch bedeutsam herausstellen, bleiben immer noch 995 Patienten mit Überdiagnosen übrig. Wir wissen nicht, welche Patienten in welche Kategorie gehören. Und wir wissen erst recht nicht, ob wir den fünf Krebskranken helfen können. Vielleicht hätten wir ihren tödlichen Krebs rechtzeitig entdeckt, vielleicht nicht.
Sollen Radiologen jeden Patienten über sein Inzidentalom informieren? Sollen sie mit allen diesen Patienten einen Termin für eine Nachuntersuchung vereinbaren? Genau das empfehlen einige Berufsverbände.3 Dann machen sich mit Sicherheit viele Patienten grundlos Sorgen, und einige müssen unnötige invasive diagnostische Prozeduren oder Operationen über sich ergehen lassen. Und wir wissen nicht, ob die Entdeckung eines Inzidentaloms wirklich jemandem hilft.
Ein Kollege und ehemaliger Kommilitone ist jetzt Chirurg und muss entscheiden, ob Inzidentalome biopsiert werden sollen. Neulich schrieb er mir, wie oft er sich mit Inzidentalomen herumplagen muss.
Ungefähr zweimal im Monat sehe ich einen Patienten, bei dem eine CT vorgenommen wurde, um ein Symptom abzuklären, das vor der Einführung der Tomografie einfach beobachtet worden wäre, ohne dass sich daraus Folgen ergeben hätten. Meist handelt es sich um eine junge Frau. Sie ist gesund, hat aber eine zufällig entdeckte Anomalie in der Leber. Wenn sie in meine Praxis kommt, hat sie oft schon andere Untersuchungen hinter sich. Im Bericht des Radiologen lese ich: »Unklare Anomalie in der Leber; Metastasen oder primärer Tumor nicht auszuschließen. MRT empfohlen.« Natürlich ergibt die MRT nicht das Geringste – abgesehen von 500 bis 1000 Dollar Kosten.
Dann kommt die Patientin zu mir, und ich muss ihr versichern, dass die Anomalie nicht bösartig ist. Aber könnte es nicht ein Zelladenom sein? Das ist kein Krebs, doch es könnte einer werden. Also führen wir weitere Tests durch. Niemand will sich vorwerfen lassen, er habe eine möglicherweise bösartige Geschwulst bei einer jungen Frau übersehen. Darum machen wir vielleicht eine Leberbiopsie – erneut mit einem meist unklaren Ergebnis: Wahrscheinlich kein Krebs, könnte jedoch einer sein – und riskieren dabei eine Blutung, die sogar zum Tod führen kann. Oder wir machen vier oder fünf weitere CT-Bilder, obwohl die Strahlenbelastung durch die vielen Untersuchungen steigt, was die Frau und die Eizellen in ihren Ovarien gefährdet. Ganz zu schweigen vom psychischen Stress, dem die Patientin ausgesetzt ist.
Mit diesem Problem haben immer mehr Ärzte zu kämpfen. Wir fühlen uns von Zufallsfunden unter Druck gesetzt. Und wir fühlen uns verpflichtet, sie zu untersuchen, obwohl wir befürchten, nicht im eigentlichen Interesse des Patienten zu handeln. Wir wissen, dass diese Funde viele unnötige Sorgen und hohe Kosten verursachen, und wir wissen zudem, dass blutigere Eingriffe die Folge sind, verbunden mit einem realen Risiko: Sie können dem Patienten schaden oder ihn das Leben kosten. Einerlei, wie selten das vorkommt, es kommt vor. Das Risiko, durch eine Leberbiopsie zu sterben, mit der wir ein Inzidentalom genauer untersuchen wollen, ist etwa gleich hoch (ungefähr ein Todesfall auf eine oder zwei von tausend Biopsien4) wie das geschätzte Risiko, dass das Inzidentalom ein tödliches Karzinom ist.
Woher wissen wir, dass die meisten Inzidentalome nicht bösartig sind?
Kürzlich fragte mich ein Reporter, woher Ärzte wissen, dass die übergroße Mehrzahl aller Inzidentalome auf Überdiagnosen beruht. Das ist eine gute Frage. Zunächst einmal wissen wir, dass es viel mehr radiologische Anomalien – das Reservoir für Inzidentalome – gibt als Menschen, die an den jeweiligen Karzinomen sterben. Weil der Unterschied so groß ist, können wir daraus schließen, dass eine Anomalie (zum Beispiel ein kleiner Knoten) sich extrem selten zu einem tödlichen Krebs entwickelt. Wir können sogar damit beginnen, die obere Grenze dieses Risikos zu berechnen, das höchstmögliche Risiko, und uns dabei auf versicherungsmathematische Daten aus dem 17. Jahrhundert stützen.5 Wenn wir annehmen, dass die Zahl der Menschen, die an einer bestimmten Krankheit sterben, konstant bleibt, steht die Wahrscheinlichkeit dafür, dass ein Mensch, bei dem die Anomalie entdeckt wird, eines Tages daran sterben wird, in umgekehrtem Verhältnis zur Zahl der entdeckten Anomalien. Angenommen, 10 Prozent der Bevölkerung sterben am Krebs X und 10 Prozent der Bevölkerung haben Inzidentalome, die auf Krebs hindeuten. Dann ist es durchaus plausibel, dass jeder, bei dem dieses Inzidentalom vorhanden ist, daran stirbt:
Nun stellen wir uns vor, dass wir mehr Inzidentalome finden. Immer noch sterben 10 Prozent der Bevölkerung am Krebs X. Aber jetzt nehmen wir an, dass 50 Prozent der Bevölkerung Inzidentalome haben, die auf Krebs X schließen lassen. Plötzlich ist es nicht mehr plausibel, dass jeder mit diesem Inzidentalom daran sterben könnte. Tatsächlich könnten höchstens 20 Prozent der Menschen mit dem Inzidentalom daran sterben:

Auf der Grundlage dieser Berechnungen können Sie aus Tabelle 7.1 ablesen, wie hoch das geschätzte höchstmögliche Risiko eines durchschnittlichen Fünfzigjährigen ist, innerhalb von zehn Jahren an verschiedenen Inzidentalomen zu sterben.6
Tabelle 7.1 Risiko für einen durchschnittlichen 50-Jährigen, dass ein Inzidentalom ein tödlicher Krebs ist7
Anteil der Menschen mit einem Inzidentalom auf dem CT-Bild |
10-Jahres-Risiko für Krebstod |
Höchstmögliches Risiko, dass das Inzidentalom ein tödlicher Krebs ist |
Wahrscheinlichkeit, dass das Inzidentalom kein tödlicher Krebs ist |
|
Organ |
(a) |
(b) |
(c = b/a) |
(d = 1-c) |
Lunge |
50 % |
1,80 % |
3,60% |
96,40% |
(Raucher) |
||||
Lunge |
15 % |
0,10 % |
0,70% |
99,30% |
(Nichtraucher) |
||||
Niere |
23 % |
0,05 % |
0,20% |
99,80% |
Leber |
15 % |
0,08 % |
0,50% |
99,50% |
Schilddrüse |
67 % |
0,01 % |
<0,01 % |
>99,99 % |
(Ultraschalldiagnose) |
Mit Ausnahme der Lungenknoten bei Rauchern können weniger als 1 Prozent dieser Inzidentalome tödliche Karzinome sein. In über 99 Prozent aller Fälle brauchen wir also nichts zu unternehmen.
Natürlich sind das nur Schätzungen. Vor allem die zweite Spalte (sie nennt den Anteil der Menschen mit Inzidentalomen) unterscheidet sich von Gruppe zu Gruppe. Diese Daten stammen im Wesentlichen aus einer Studie, an der über tausend Menschen beteiligt waren, die sich einer Ganzkörper-CT unterzogen.8 Die Daten werden sich in verschiedenen Bevölkerungsgruppen unterscheiden, besonders in unterschiedlichen Altersgruppen (Inzidentalome kommen zunehmend häufiger vor, wenn wir altern, und auch das Risiko, daran zu sterben, nimmt zu). Und da wir mehr Inzidentalome finden, wenn wir intensiver nach ihnen suchen, hängen diese Zahlen auch von der Gründlichkeit der Radiologen ab.
Die dritte Spalte enthält Daten über das Sterberisiko eines Durchschnittsamerikaners innerhalb von zehn Jahren, abgesehen davon, dass beim Lungenkrebs zwischen Rauchern und Nichtrauchern unterschieden wird.9 Vielleicht fragen Sie nun, ob ein Inzidentalom auch nach zehn Jahren noch zum Tod führen kann. Doch selbst wenn wir einen Zeitrahmen von zwanzig Jahren wählen (und wieder zwischen Rauchern und Nichtrauchern unterscheiden) würden, könnten weniger als 2 Prozent dieser Inzidentalome metastasieren und sich zu einem tödlichen Krebs entwickeln.
Berechtigt wäre auch die Frage, warum die Daten in Tabelle 7.1 die höchstmöglichen Schätzungen wiedergeben. Die Berechnungen gehen davon aus, dass alle tödlichen Karzinome sich aus Inzidentalomen entwickeln, die ein Jahrzehnt früher sichtbar waren. Das ist eindeutig unzutreffend. Mit der Zeit können sich andere Inzidentalome bilden und irgendwann zum Krebstod führen. Dadurch verringert sich die Wahrscheinlichkeit noch mehr, dass ein bestimmtes Inzidentalom ein tödliches Karzinom ist.10
Die obigen Zahlen sind demnach Schätzungen; aber sie vermitteln dennoch eine Vorstellung von der Größenordnung des Problems, vor dem Radiologen und andere Ärzte stehen, wenn sie Inzidentalome entdecken.
Wie ging es mit Mr. Baker weiter?
Ich sprach mit mehreren Ärzten über Mr. Bakers Nieren-Inzidentalom. Im Gegensatz zu den meisten anderen Krebsarten werden Nierenkarzinome nicht immer biopsiert, weil die Schichtbilder uns meist sagen, was wir wissen wollen. Und aufgrund der Bilder, die wir von Mr. Baker hatten, waren die Urologen sich darüber einig, dass die Niere entfernt werden musste. Aber der Radiologe und ich waren uns nicht so sicher. Das war in den neunziger Jahren, als in der medizinischen Literatur die ersten Berichte über ein erhebliches Reservoir von Nierenkarzinomen erschienen. Außerdem machten wir uns Sorgen, weil Mr. Bakers andere Niere ziemlich klein war. Dadurch stieg die Gefahr, dass er mit einer Niere nicht zurechtkommen würde.
Ich sprach mit Mr. Baker über das Dilemma. Statt für die Entfernung seiner Niere – das ist eine große Operation, bei der 2 Prozent der Patienten sterben11 – entschieden wir uns lediglich dafür, sein Inzidentalom im Auge zu behalten. Das war gewiss nicht die übliche Vorgehensweise, schon gar nicht damals. Ehrlich gesagt fiel die Entscheidung Mr. Baker leichter als mir und Dr. Woloshin, der ihn in meinem Forschungsjahr betreute. Wir ließen seine Niere alle sechs Monate röntgen. Auf einigen Schichtaufnahmen sah es so aus, als wäre das Inzidentalom ein wenig gewachsen. Ich erinnere mich daran, dass die Radiologen es mit ihren Greifzirkeln maßen und erklärten, es sei möglicherweise einen halben Zentimeter größer. Auf anderen Bildern schien es überhaupt nicht gewachsen zu sein.
Vor ein paar Jahren starb Mr. Baker. Ich nahm an der Autopsie teil, die bestätigte, dass eine ausgedehnte Lungenentzündung die Todesursache gewesen war. Am meisten interessierte mich jedoch seine Niere. Die fünf Zentimeter große Geschwulst, die wir auf dem Schichtbild gesehen hatten, war jetzt mit bloßem Auge erkennbar. Nachdem der Pathologe sie unter dem Mikroskop studiert hatte, war die Diagnose einfach: Nierenkarzinom. Der Pathologe untersuchte Gewebeproben aus der ganzen Leiche, auch aus dem Gehirn, fand aber keinen Krebs außer dem in der Niere. Mr. Baker hatte laut Diagnose etwa ein Jahrzehnt lang mit Nierenkrebs gelebt, aber er wurde nie deswegen behandelt, litt nie an Symptomen von Nierenkrebs und starb nicht an Nierenkrebs. Er war Opfer einer Überdiagnose geworden.
Ich bin froh, dass er nie behandelt wurde. Es wäre eine große Operation gewesen, die möglicherweise sein Leben verkürzt hätte. Aber ich wünschte, sein Brustkorb wäre nie geröntgt worden; denn das Röntgenbild hatte zur Entdeckung seines Inzidentaloms geführt. Deswegen hatte er sich viele Jahre lang alle sechs Monate einer CT unterzogen und, wichtiger noch, zehn Jahre lang unnötig Angst gehabt.
Nierenkrebs – das größere Bild
Was Mr. Baker widerfahren ist, kommt in den Vereinigten Staaten immer häufiger vor – so oft, dass es in den landesweiten Daten sichtbar wird. Abbildung 7.1 zeigt die SEER-Daten für Nierenkrebs.
Diese Grafik sollte Ihnen inzwischen vertraut vorkommen. Aber etwas ist hier anders. Dieses Bild ist nicht das Produkt von Vorsorgeuntersuchungen auf Nierenkrebs, sondern das Produkt vieler Tomografien anderer Körperteile – meist des Brustkorbs, des Bauchraumes oder des Beckens–, bei denen Nierenkrebs entdeckt wurde. Mit anderen Worten, es spiegelt die Epidemie von Inzidentalomen wider.

Abbildung 7.1 Neue Nierenkrebsdiagnosen und Todesfälle in den Vereinigten Staaten von 1975 bis 2005
Immer mehr Mediziner erkennen, dass Nierenkrebs überdiagnostiziert wird. Eine Studie untersuchte im Jahr 2009, wie schnell dreiundfünfzig Nierenkarzinome wuchsen. Die Forscher stellten fest, dass die Tumore sich sehr unterschiedlich entwickelten.12 Sieben (14 Prozent) wurden sogar kleiner – sie bildeten sich zurück. Einundzwanzig (40 Prozent) wuchsen so langsam, dass sie mehr als sechs Jahre gebraucht hätten, um ihre Größe zu verdoppeln. Das bedeutet, dass beispielsweise ein Tumor, der einen Zentimeter groß ist, länger als zwölf Jahre benötigen würde, um vier Zentimeter groß zu werden. Wichtig ist hierbei, dass diese langsam wachsenden Tumore bei älteren Menschen häufiger vorkamen. Ein erheblicher Teil der Nierentumore beruht also auf Überdiagnosen, entweder weil der Tumor überhaupt nicht wächst, oder weil er so langsam wächst, dass er keine Symptome verursacht und der Patient an anderen Krankheiten stirbt. Informationen wie diese haben Urologen kürzlich zu der Empfehlung bewogen, kleine Nierenkarzinome nicht sofort zu behandeln, sondern mithilfe regelmäßig angefertigter CT-Schichtaufnahmen zu beobachten, um herauszufinden, ob sie schnell genug wachsen, um eine Behandlung zu rechtfertigen.13
Dies ist eindeutig ein Schritt in die richtige Richtung; aber ich bin nicht sicher, ob die Beobachtung von Inzidentalomen immer die richtige Maßnahme ist. Ich glaube, wir müssen eine wichtigere Frage stellen: Sollen Radiologen sie überhaupt als Anomalien bezeichnen? Sobald sie dies tun, setzen sie einen Kreislauf in Gang: mehr Untersuchungen, mehr Angst, mehr Kosten und vor allem mehr Schaden. Und das alles sehr wahrscheinlich ohne Nutzen. Zwar scheint die Situation hier ein wenig anders zu sein, als wenn es darum geht, Diabetes oder Bluthochdruck anhand von Zahlen zu definieren; dennoch stehen wir vor der gleichen grundlegenden Frage: Was ist anormal? Mediziner legen fest, wann der Blutdruck, der Cholesterinspiegel und der Blutzuckerspiegel zu hoch sind; also sollten Radiologen entscheiden, welche Anomalien von Bedeutung sind, anstatt jede einzelne zu melden. Da wir ständig über Inzidentalome stolpern, lohnt es sich auf jeden Fall, darüber nachzudenken.
Meiner Meinung nach sollten wir Inzidentalome als einfache Funde anlässlich einer Vorsorgeuntersuchung betrachten. Wir untersuchen zwar absichtlich, während die Inzidentalome Zufallsfunde sind, aber das ist der einzige Unterschied. Der Patient hat keine Krebssymptome. Deshalb sollten unsere Erkenntnisse über die Früherkennung den Radiologen sagen, wie sie mit Inzidentalomen umzugehen haben. Um zu verstehen, was ich meine, nehmen wir einmal an, Sie entdecken ein Inzidentalom und fragen sich: »Was ist für den Patienten am besten?« (In dieser Übung sollten Ärzte so tun, als lebten sie in einer Fantasiewelt ohne Anwälte.) Lassen Sie mich diese Frage in drei verschiedenen Situationen beantworten:
- 1. Wir wissen, dass die Vorsorgeuntersuchung die Krebssterblichkeit senkt: Das ist einfach – hier liegt eine Anomalie vor, und ich behandle sie. Wir wissen, dass die Brustkrebsfrüherkennung die Brustkrebssterblichkeit verringert (zumindest bei älteren Frauen). Das heißt, wenn ich in der Brust eine Anomalie entdecke, die nach Krebs aussieht, informiere ich die Patientin, erörtere das Für und Wider mit ihr und ermögliche ihr auf diese Weise eine vernünftige Entscheidung. Hier winken echte Vorteile. Doch leider ist dies kein typischer Fall.
- 2. Wir kennen den Wert der Vorsorgeuntersuchung nicht: Das ist schwierig, und es kommt darauf an, wo die Beweislast liegt. Man könnte von einer Anomalie sprechen, den Patienten davon unterrichten und mit ihm gemeinsam entscheiden (manche würden sagen, dass Ärzte auf diese Weise schwierige Entscheidungen vermeiden). Aber in diesem Fall haben wir einen Teil des Schadens bereits angerichtet: Der Patient fürchtet, Krebs zu haben.14 Da Radiologen meiner Meinung nach verpflichtet sind, den Nutzen der Diagnose zu beweisen, sollten sie ernsthaft überlegen, Inzidentalome dieser Kategorie zu ignorieren, weil sie sehr wahrscheinlich nicht wichtig genug sind, um in einem Bericht erwähnt zu werden.
- 3. Wir wissen, dass die Vorsorgeuntersuchung die Sterblichkeit nicht reduziert: Ich finde, das ist ebenfalls einfach – ignorieren Sie den Befund. Bezeichnen Sie ihn nicht als Anomalie, sondern nennen Sie ihn normal. Schützen Sie den Patienten vor Überdiagnose und Überbehandlung. Erwähnen Sie den Befund im radiologischen Bericht nicht, und erwähnen Sie ihn auch nicht gegenüber der Allgemeinärztin, damit diese sich nicht verpflichtet fühlt, den Patienten zu informieren. Wie Grenzfälle von hohem Blutzucker, hohem Cholesterinspiegel oder Bluthochdruck könnte der Radiologe entscheiden, dass ein Inzidentalom schlicht zu klein ist, um eine Erwähnung zu verdienen.
Ich hoffe, Sie verstehen inzwischen meine Gründe für diese letzte Antwort. Und ich hoffe, sie hört sich absolut vernünftig an. Aber Sie sollten auch wissen, dass sie radikale Folgen für unseren derzeitigen Umgang mit dem häufigsten Inzidentalom hätte: dem Knoten auf einem Röntgenbild des Brustkorbs.
Die Diagnose »Lungenknoten« wird jedes Jahr bei Hunderttausenden von Amerikanern gestellt.15 Sie löst eine Flut von weiteren Röntgenuntersuchungen aus. Wichtiger noch, sie ängstigt den Patienten, an Lungenkrebs erkrankt zu sein. Einer meiner Patienten lässt sich seit Jahren alle sechs Monate röntgen, weil auf einem Röntgenbild seines Brustkorbs, das angefertigt wurde, als er Lungenentzündung hatte, ein Knötchen zu sehen war. Er macht sich ständig Sorgen wegen dieses »Flecks auf meiner Lunge«. Es ist mir nicht gelungen ihm (oder seinen Fachärzten) diese Nachuntersuchungen auszureden, mit denen man feststellen will, ob der Knoten wächst, die jedoch eine unerwünschte Nebenwirkung haben: Sie vergrößern die Wahrscheinlichkeit erheblich, dass irgendwann ein zweites Inzidentalom gefunden wird. Diese Vorgehensweise kommt mir deshalb besonders unvernünftig vor, weil der Patient an einem schweren Emphysem leidet, einer Lungenkrankheit, die eine Operation unmöglich machen würde, wenn man bei ihm irgendeinen Krebs fände. Immerhin will niemand den nächsten Schritt wagen – eine Biopsie des Knotens –, und zwar ebenfalls wegen seines Emphysems. Aber viele Patienten mit Knoten werden biopsiert.
Leider ist die Lunge eines der Organe, die am schwierigsten zu biopsieren sind. Man sticht eine Nadel durch die Brustwand oder schiebt ein Fiberendoskop in die Luftröhre. Beide Methoden sind mit der Gefahr verbunden, dass die Lunge punktiert wird, was katastrophale Folgen haben kann, vor allem bei einem schweren Emphysem. Aber wir wissen, dass das Röntgen des Brustkorbs im Rahmen einer Lungenkrebsvorsorge mehr schadet als nützt16 – darum empfiehlt es niemand und darum tun wir es nicht. Warum führen wir dann so viele Nachuntersuchungen wegen eines Inzidentaloms in der Lunge durch, im Bemühen, Lungenkrebs zu heilen? Wenn wir wissen, dass Röntgenvorsorgeuntersuchungen im Allgemeinen die Sterblichkeit nicht verringern, warum sollten dann Folgeuntersuchungen eines zufällig entdeckten Lungenknotens wirksamer sein? Wäre es nicht am besten, den Knoten als normal einzustufen?
Natürlich vereinfache ich hier zu stark. Erstens gibt es in der realen Welt rechtliche Probleme: Ärzte werden nicht für Überdiagnosen bestraft, wohl aber für nicht gestellte Diagnosen. Darum fällt es Ärzten schwer, Inzidentalome zu ignorieren. Zweitens wissen wir oft nicht, ob ein Befund wirklich ein Zufallsbefund ist. Es ist nicht immer klar, dass ein Symptom keinen plausiblen Zusammenhang mit einem Befund hat. Manche Befunde sind zweideutig. Wenn die Annahme vernünftig ist, dass ein Zufallsbefund mit einem Symptom zusammenhängt, ist die Chance größer, dass der Patient von weiteren Untersuchungen profitiert (und die Gefahr einer Überdiagnose wird geringer). Außerdem ist eine bessere Feinabstimmung möglich. Wir könnten kleinere, weniger beunruhigende Inzidentalome ebenso ignorieren wie jene, die wir bei Patienten finden, die wahrscheinlich an einer anderen Krankheit sterben werden (zum Beispiel ältere Patienten oder mein Patient mit dem schweren Emphysem). Wenn wir größere, besorgniserregendere Inzidentalome bei Patienten mit höherer Lebenserwartung finden, könnten wir handeln, wenn auch umsichtig (zum Beispiel, indem wir sie beobachten und nach Anzeichen für ein Wachstum Ausschau halten, bevor wir zu drastischeren Maßnahmen greifen).
Immer mehr Ärzte bekennen sich dazu, dass es meist umsichtiger ist, Inzidentalome zu beobachten, als sie sofort operativ zu entfernen. Zur Zeit werden sogar Leitlinien erstellt, die genau das empfehlen, wenn ein Inzidentalom auf Lungen- oder Nierenkrebs hinweist.17 Ich glaube, wenn wir auf Inzidentalome weniger aggressiv reagieren würden, wäre den Patienten damit mehr gedient.
Die meisten Überdiagnosen sind die Folge bewusster Entscheidungen. Eine Organisation ändert die Grenzwerte, die festlegen, was anormal ist, eine andere empfiehlt Vorsorgeuntersuchungen, oder ein Arzt sucht nach einer Erklärung für ein Symptom und schickt einen Patienten zur CT. Niemand plant, ein Inzidentalom zu finden. Es ist einfach eine Nebenwirkung hochauflösender bildgebender Verfahren. Viele Ärzte halten es für richtig, Grenzwerte zu senken, um Krankheiten zu diagnostizieren, oder sie sind entschiedene Befürworter der Früherkennung; aber ich kenne keinen, der die Entdeckung von Inzidentalomen für einen großen Fortschritt hält. Den meisten Ärzten sind sie lästig. Viele begreifen, dass sie zu einem echten Problem geworden sind.
Dennoch erinnern sich manche Ärzte auch an einen oder zwei Fälle, in denen sie und ihre Patienten davon überzeugt waren, dass die Entdeckung eines Inzidentaloms ein Leben rettete. Diese dramatischen Anekdoten erschweren jede Veränderung noch mehr. Wichtiger noch, solche Geschichten berücksichtigen die Alternativen nicht: Der Patient könnte trotzdem an dem Krebs sterben; der Krebs wäre vielleicht ebenso gut behandelbar gewesen, wenn er klinisch aufgefallen wäre; oder der Krebs hätte nie einer Behandlung bedurft – das Problem der Überdiagnose. Die Wahrheit ist: Es fällt uns sehr schwer, etwas zu ignorieren, was wir entdeckt haben, selbst wenn dies die richtige Entscheidung wäre. Aber diese Entscheidung würde einen enormen gesellschaftlichen und gerichtsmedizinischen Wandel voraussetzen. Es ist viel einfacher, einen Patienten gar nicht erst zu untersuchen. Natürlich ist es möglich, auf eine Vorsorgeuntersuchung zu verzichten. Aber wir können keinesfalls alle diagnostischen Untersuchungen vermeiden, und niemand will das (allerdings könnten wir sicherlich sorgsamer mit ihnen umgehen). Und solange wir diagnostische Scans vornehmen, müssen wir uns mit dem Problem der Inzidentalome auseinandersetzen.
Die Patienten könnten uns dabei helfen, wenn sie vom Scannen im Allgemeinen etwas weniger begeistert wären. Vor allem sollten sie auf Ganzkörper-Scans verzichten, weil diese eine Pandorabüchse voller Inzidentalome öffnen können. Auch mit anderen Scans könnten sie ein wenig zögerlicher umgehen und, wenn sie die Wahl haben, eine Untersuchung verlangen, die sich möglichst präzise auf eine bestimmte Körperregion beschränkt, um Zufallsfunde außerhalb dieses Bereichs zu vermeiden. Bei einer Darmspiegelung wird beispielweise mit einem Kolonoskop nach Krebs im Dickdarm gesucht, nirgendwo sonst. Seit einiger Zeit wächst die Begeisterung für eine virtuelle Darmspiegelung, nicht weil sie besser wäre als die normale, sondern weil sie weniger invasiv ist. Bei der virtuellen Darmspiegelung verwendet man einen CT-Scanner, der hochauflösende Aufnahmen vom Dickdarm macht, aber auch Bilder von der Leber, den Nieren und sogar der Lungenbasis liefert. Und etwa die Hälfte der virtuellen Darmspiegelungen enthüllt Anomalien außerhalb des Dickdarms.
Die große Mehrzahl dieser Inzidentalome ist nicht bösartig. Einige können es sein. Aber wenn wir sie alle abklären, müssen viele Patienten unnötige Ängste, Untersuchungen und Eingriffe erdulden. Das ist nichts weiter als eine andere Dimension des Problems der Überdiagnose.