Kapitel 11

Durchschauen Sie das System

Wie kommt es zu Überdiagnosen? Zuallererst haben die Ärzte ein natürliches Interesse an Diagnosen. Dafür werden wir ausgebildet: Wir hören den Patienten zu, untersuchen und testen sie, um herauszufinden, was ihnen fehlt. Immer häufiger machen wir uns jedoch Gedanken darüber, was ihnen in Zukunft fehlen könnte – das heißt, wir denken über Früherkennung nach. Deshalb sind Überdiagnosen möglich. Überdiagnosen kommen nur vor, wenn wir Diagnosen stellen und Menschen als anormal oder als gefährdet einstufen, noch bevor sie Symptome haben.

Aber was treibt uns dazu, mehr Frühdiagnosen zu stellen? Wenn Sie nur eines der kritischen Bücher über das Gesundheitssystem gelesen haben, kennen Sie wahrscheinlich eine Antwort: Es geht nur ums Geld, und die Hauptschuldige ist die Pharmaindustrie. Mehr Diagnosen bedeuten mehr verordnete Medikamente und mehr Profit. Wenn Sie einen Arzt nach dem Grund der vielen Frühdiagnosen fragen, wird er wahrscheinlich auf die Rechtsanwälte verweisen (mit ein paar saftigen Adjektiven). Vielleicht hören Sie auch den Ausdruck Patientenwillen. Und wenn Sie mit einem Vertreter des Gesundheitswesens sprechen oder mit einer Organisation, die sich für Menschen mit bestimmten Krankheiten einsetzt, hören Sie eine weitere plausible Antwort: echte Überzeugung. Viele Leute glauben wirklich, dass mehr frühe Diagnosen uns helfen, länger und glücklicher zu leben. Die Wahrheit ist, dass alle diese Antworten teilweise richtig sind. Es gibt ein komplexes Gemenge von Kräften, das der Früherkennung und folglich auch den Überdiagnosen den Treibstoff liefert.

Therapien für Gesunde

Obwohl ich nicht so oft fliege wie viele meiner Kollegen (weil der nächste richtige Flughafen anderthalb Stunden von Dartmouth entfernt und das Autofahren im Norden von Neuengland im Winter kein Spaß ist), sitze ich ab und zu neben interessanten Leuten im Flugzeug. Vor Kurzem war ein Pharmavertreter mein Nachbar. Da ich für das Veteranenministerium arbeite, begegne ich am Arbeitsplatz selten Pharmavertretern. Das Ministerium hat strenge Regeln, die Vertretern den Zugang erschweren, und weil unsere Krankenhäuser ohnehin nur wenige Medikamente lagern, sind sie keine sehr guten Kunden für die neuen, teuren Arzneimittel. Die wenigen Kontakte, die ich mit Pharmavertretern hatte, waren meist angenehm. Sie sind eine interessante Berufsgruppe. Die meisten von ihnen sind schlau, erstaunlich gut mit der biomedizinischen Forschung vertraut, die für ihre Medikamente relevant ist, und überaus geschickte Verkäufer. Es gehört zu ihrem Job, Ärzte in anregende Gespräche zu verwickeln. Darin sind sie sehr gut.

Zehntausend Meter über der Erdoberfläche erzählte mir dieser Vertreter von einem neuen Medikament namens Forteo (in Deutschland unter dem Namen Forsteo bekannt), einem Arzneimittel gegen Osteoporose. Es war ihm wichtig, mir klarzumachen, dass diese Krankheit erhebliche Folgen für die Volksgesundheit hat. Millionen von Frauen haben diese Krankheit (er hätte auch sagen können: leiden daran). Forteo ist ein synthetisierter Teil des natürlich vorkommenden Nebenschilddrüsenhormons PTH, das die Knochenbildung anregt – genau wie Forteo. Das Thema interessierte mich. Aber ich wollte wissen, ob das Medikament wirklich half. Er berichtete mir von einer randomisierten Studie mit über 1600 Frauen, die teils Forteo, teils ein Placebo einnahmen.1 Das Medikament habe die Knochendichte, das Knochenvolumen und die Knochenmasse signifikant vergrößert. Bei fast allen Frauen, die Forteo eingenommen hatten, sei anhand von Röntgenaufnahmen und Scans nachgewiesen worden, dass die Knochen jetzt dichter seien. Aber ich wollte immer noch wissen, ob jemand von dem Medikament profitiert hatte. Wir behandeln Osteoporose nicht, damit die Knochen auf einem Schichtbild besser aussehen (das bedeutet nicht unbedingt, dass es einer Patientin besser geht oder dass sie besser aussieht). Es gibt nur einen einzigen Grund, Osteoporose zu behandeln: Wir wollen die Zahl der Knochenbrüche verringern. Er räumte ein, das sei ein gutes Argument. Und er war darauf vorbereitet. Er legte mir Zahlen vor, die nachwiesen, dass Forteo die Zahl der Kompressionsbrüche an den Wirbelkörpern reduzierte.

Wie ernst sind Kompressionsbrüche an Wirbelkörpern? Das ist unterschiedlich. Ein Kompressionsbruch ist eine Quetschung eines einzelnen Rückenwirbels. Die Rückenwirbel gleichen einem Turm aus Hohlziegeln, der das Körpergewicht trägt. Zu einem Kompressionsbruch kommt es, wenn einer dieser Ziegel vom Körpergewicht zusammengedrückt wird. Solche Frakturen sind bisweilen sehr schmerzhaft; aber die meisten bleiben symptom- und schmerzfrei. Betroffene erfahren von einem solchen Bruch meist nur, wenn er auf einem Röntgenbild entdeckt wird. Trägt Forteo dazu bei, die Zahl der Brüche zu verringern, die tatsächlich Beschwerden verursachen? Oder reduziert das Medikament nur die Zahl der Brüche, von denen die Betroffenen ohne eine Röntgenaufnahme nie etwas bemerkt hätten?2 Offenbar verringerte Forteo das Vorkommen von »neuen und sich verschlimmernden Rückenschmerzen« im Laufe von etwa zwei Jahren von 23 auf 17 Prozent.

Aber was mich wirklich interessierte, waren nicht Kompressionsbrüche, sondern Hüftfrakturen. Bei diesen Brüchen gibt es keinen Zweifel – sie sind nie symptomfrei, also immer wichtig. Menschen mit gebrochener Hüfte können nicht gehen, und fast alle werden in ein Krankenhaus eingeliefert. Man muss Nadeln in die Hüfte stechen oder die Hüftgelenke ersetzen. Und es gibt kaum Zweifel daran, dass eine Hüftfraktur zum Tod führen kann. Der Pharmavertreter sagte, die Studie habe diese Frage nicht untersucht. »Aber«, sagte er, »es gibt keinen Menschen auf diesem Planeten, der nicht glaubt, dass dieses Medikament das Risiko für Hüftfrakturen erheblich verringert.«

Ich versicherte ihm, er sitze neben einem solchen Menschen. Das brachte ihn zum Lachen, und sein Gebaren änderte sich merklich. Wie sich herausstellte, war er ein ziemlich netter Kerl. Mit Interesse nahm er zur Kenntnis, dass viele andere Ärzte ihm ähnliche Fragen stellen würden. Dann wurde er offener. »Wissen Sie, wenn wir wirklich Hüftfrakturen verhindern wollten, würden wir es anders anpacken. Patienten brechen sich die Hüften, weil sie stürzen. Wenn wir Stürze bei älteren Menschen verhindern könnten, würden wir die Zahl der Hüftfrakturen stärker verringern als mit jedem Medikament der Welt.« Wie gesagt, diese Leute sind schlau. Aber letztlich sind sie Verkäufer, Männer und Frauen, deren Aufgabe es ist, den Gewinn der Pharmaunternehmen zu mehren. Und Pharmakonzerne sind aus finanziellen Gründen sehr daran interessiert, dass Krankheiten aller Art möglichst früh behandelt werden.

Übrigens wurde die Forteo-Studie früh beendet. Es sollte eine dreijährige Studie werden, aber sie wurde nach knapp zwei Jahren gestoppt, weil das Medikament in einer Langzeitstudie Knochenkrebs bei Ratten verursachte. Die amerikanische Arzneimittelzulassungsbehörde FDA ließ das Medikament zwar zu, verlangte von der Firma jedoch eine zehnjährige Studie, um herauszufinden, ob Anwender häufiger an Knochensarkomen erkranken (in der Zwischenzeit verbot die FDA der Firma, kostenlose Ärztemuster zu verteilen oder direkt bei den Konsumenten zu werben). Leider waren fast zehn Jahre später keine Ergebnisse der Langzeitstudie bekannt. Während ich dies schreibe, ist Forteo immer noch auf dem Markt (dasselbe gilt für Forsteo in Deutschland).

Geld

Ich habe nichts dagegen, dass die Leute Geld verdienen.3 So funktioniert nun einmal unsere Wirtschaft. Es freut mich, dass Apple Geld verdienen möchte. Ich verwende Produkte dieser Firma, weil sie meiner Meinung nach besser sind als andere (darum zahle ich sogar höhere Preise). Dank Apple sind Computer besser, als sie ohne dieses Unternehmen wären. Wir bekommen diese ausgezeichneten Produkte, weil Apple Geld verdienen will. Ich bin froh, dass
Priceline.com (eine Website, auf der man Gebote für Reisedienste abgeben kann) Geld verdienen möchte. Ich nutze ihr Produkt, weil es mir hilft, Geld zu sparen, wenn ich ein Auto miete (und weil ich William Shatner, den Captain Kirk aus Raumschiff Enterprise, in dem Priceline-Werbespot gerne wieder im Fernsehen sehe). Autovermieter nutzen Priceline aus dem einfachen Grund, weil es ihnen hilft, mehr Autos zu vermieten. Wir haben diesen effizienteren Markt, weil Priceline Geld verdienen will.

Im Gegensatz zu den meisten meiner Kommilitonen im Fachbereich Medizin hatte ich auf dem College weder Biologie noch Biochemie als Hauptfach. Mein Hauptfach war Volkswirtschaft. Ich lernte etwas über den Wert des freien Marktes – wie es ihm gelingt, die Güter und Dienstleistungen zu liefern, die wir in der richtigen Menge und zu einem möglichst niedrigen Preis haben wollen. Ich lernte auch etwas über die »unsichtbare Hand«4: Menschen, die ihre eigenen Interessen verfolgen und nach Geld streben, können dem Wohl der Gesellschaft dienen. Allerdings glaube ich, dass Geldgier zu einer Gefahr für die Gesundheitsfürsorge geworden ist.

Das Problem besteht darin, dass die Gesundheitsfürsorge alles andere als ein freier Markt ist. In einem wirklich freien Markt, der in der klassischen Ökonomie vollkommener Markt heißt, nutzen die Käufer den Wettbewerb zwischen den Anbietern und suchen den besten Wert, einen Ausgleich zwischen Preis und Qualität. Aber in der Medizin bezahlen nur wenige Patienten die Anbieter direkt. Die meisten sind versichert und begleichen daher nicht den vollen Preis. Meist kennen sie den Preis für eine Dienstleistung gar nicht, es sei denn, sie finden ihn heraus, nachdem sie die Dienstleistung in Anspruch genommen haben. Das Gesundheitssystem verletzt mehrere Voraussetzungen des vollkommenen Marktes, wie die folgende Tabelle zeigt.

Tabelle 11.1 Die Voraussetzungen des vollkommenen Marktes und die Realität des Gesundheitssystems, das sie verletzt5

Voraussetzungen für einen vollkommenen Markt

Die Realität des Gesundheitssystems

Käufer zahlen den vollen Preis.

Patienten sind oft versichert und zahlen nicht den vollen Preis.

Käufer kennen den Preis.

Anbieter legen Preise nicht offen (und kennen sie vielleicht selbst nicht).

Käufer können die Qualität beurteilen.

Die meisten Patienten wissen nicht, welche Dienstleistungen sie brauchen, welche Optionen sie haben und welchen Nutzen sie vernünftigerweise erwarten können. Sie sind auf den Rat von Ärzten angewiesen, die ihnen sagen, was sie brauchen.

Käufer treffen vernünftige Entscheidungen über das Preis-Leistungs-Verhältnis.

Kranken und leidenden Patienten fällt es schwer, rational über ihre Optionen nachzudenken. Und nur wenigen Menschen gelingt das, wenn es um Tod oder Leben geht.

Verkäufer können die Nachfrage nach ihren Produkten nicht beeinflussen.

Anbieter können Nachfrage erzeugen, indem sie Patienten sagen, was sie »brauchen«.

Ein vollkommener Markt setzt beispielsweise voraus, dass die Käufer in der Lage sind, die Qualität der Produkte zu beurteilen. Innerhalb der Gesundheitsfürsorge ist Qualität ein weit gefasster Begriff – es geht um viel mehr als um technische Fertigkeiten (zum Beispiel um die Frage, wie schnell oder sicher ein Chirurg arbeitet). Dies ist ein anderer Markt als der Computer- oder Automarkt, wo die Konsumenten im Großen und Ganzen ihre Wahlmöglichkeiten kennen und wissen, was jede Option ihnen wert ist. Es ist zwar möglich (und wünschenswert), Patienten vor wichtigen Entscheidungen (zum Beispiel, ob sie sich ein künstliches Hüftgelenk einsetzen lassen oder ob sie an einer Vorsorgeuntersuchung teilnehmen sollen) mit Informationen zu versorgen; aber es gibt einfach zu viele Aspekte, die man berücksichtigen müsste, um vollständig über alle medizinischen Dienstleistungen informiert zu sein.

Vollkommene Märkte setzen zudem voraus, dass die Konsumenten eine rationale Entscheidung treffen; aber das ist viel verlangt, wenn ein Patient krank ist und leidet. Darüber hinaus hatten in der Vergangenheit die Patienten nie wirklich nennenswerte Möglichkeiten, an medizinischen Entscheidungen mitzuwirken. In der patriarchalischen Gesellschaft gaben die Ärzte Anweisungen, und die Patienten gehorchten. Das Mitbestimmungsmodell (und die Verbraucherbewegung im Allgemeinen) sind ziemlich neue Errungenschaften.

Aber der Hauptgrund dafür, dass die Medizin einem vollkommenen Markt nicht einmal nahekommt, ist die günstige Position der Verkäufer: Sie können für ihre Produkte Nachfrage erzeugen. Wie sie das machen? Sie beschließen, dass Sie ihre Produkte konsumieren müssen. Das verrät sogar der Medizinerjargon: Wir überweisen Patienten an Fachärzte, und wir veranlassen Tests oder Behandlungen. Das ist ganz gewiss kein Merkmal eines vollkommenen Marktes. Der Fairness halber sei erwähnt, dass nicht nur die Medizin Nachfrage erzeugen kann – auch mein Autohändler ist ziemlich geschickt darin. Aber die Medizin verschärft das Problem, weil alle oben erwähnten Faktoren zusammenkommen: Die Käufer zahlen nicht den vollen Preis (und kennen ihn nicht einmal); sie haben kaum eine Ahnung, welche medizinische Versorgung sie brauchen (oder welchen Nutzen sie vernünftigerweise davon erwarten können); und sie sind kaum in der Lage, über Wahlmöglichkeiten nachzudenken. Viele Patienten wissen nicht, ob eine Therapie ihnen nützt oder schadet (deshalb können sie ihren Wert nicht einschätzen). Das gilt vor allem für die Früherkennung. Menschen können sich nach einer Behandlung nicht wohler fühlen, wenn sie gar keine Symptome hatten. Und niemand kann erfühlen, ob das Risiko für eine ungünstige Prognose wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher geworden ist.

Es ist eine Verkettung unglücklicher Umstände. Die Verkäufer schaffen Nachfrage und nutzen die Käufer aus, um ihren Profit zu mehren. Es ist immer möglich, denjenigen, die bereits Käufer sind, noch mehr Behandlungen und Medikamente zu verkaufen; und es ist noch einfacher, den Markt zu vergrößern und neue Kunden zu gewinnen. Deshalb ist es so profitabel für Unternehmen, die Früherkennung auszuweiten und mehr Menschen zu Patienten zu machen. Die Unternehmen wollen den Markt für ihre Medikamente vergrößern, und dieser Wunsch ist eine wichtige treibende Kraft bei der Neudefinition von Krankheiten wie Bluthochdruck, Diabetes, Cholesterinüberschuss und Osteoporose. In jedem Konsensgremium, das diese Änderungen vorschlug, saßen Personen mit engen finanziellen Verbindungen zu den Verkäufern, die mit größter Wahrscheinlichkeit profitieren würden: den Pharmakonzernen.

Die pharmazeutische Industrie ist zum beliebtesten Prügelknaben geworden, wenn wir über den verderblichen Einfluss des Geldes in der Medizin diskutieren. Und die Firmen verdienen einen großen Teil dieser Kritik. Sie sind auf jeden Fall ein Problem, aber ich lege Wert auf die Feststellung, dass sie bei Weitem nicht das einzige Problem sind. Die größere Wahrheit lautet: Wenn mehr Diagnosen gestellt und neue Patienten geschaffen werden, profitiert der gesamte medizinisch-industrielle Komplex davon, nicht nur die Pharmabranche, sondern auch die Hersteller von diagnostischen und medizinischen Geräten, unabhängige Diagnosezentren, chirurgische Zentren, Krankenhäuser und sogar Universitätskliniken.

Nehmen wir das Screening als Beispiel. Es kann für Krankenhäuser ein wunderbarer Lockvogel sein. Lockvogelangebote sind Produkte, die ein Anbieter bewusst unterhalb des Herstellungspreises verkauft, um andere, profitable Verkäufe in der Zukunft anzukurbeln. In Supermärkten ist dies gang und gäbe, und Krankenhäuser versuchen es immer häufiger. Die Idee ist einfach: Wenn Krankenhäuser Vorsorgeuntersuchungen zu stark reduzierten Preisen oder, besser noch, kostenlos anbieten, gewinnen sie neue Patienten und verdienen an den nachfolgenden Behandlungen. Kaum zu glauben? Ich verweise an Dr. Otis Brawley, einen Onkologen und Epidemiologen, der heute leitender medizinischer Direktor der Amerikanischen Krebsgesellschaft ist. Vorher arbeitete er im Nationalen Krebsinstitut und war Direktor des Krebszentrums von Georgia in Emory. Dort kommentierte er im Mai 2003 in einem Interview mit Maryann Napoli die »kostenlose« Vorsorgeuntersuchung auf Prostatakrebs (Emorys Lockvogel):6

Wenn wir am kommenden Samstag in der North Lake Mall [einem Einkaufszentrum] tausend Männer untersuchen würden, könnten wir Medicare und den Krankenversicherungen nach unserer Schätzung 4,9 Millionen Dollar (für Biopsien, Tests, Prostataoperationen usw.) berechnen. Aber das große Geld machen wir später – wenn die Ehefrau in den nächsten drei Jahren medizinische Dienstleistungen in Anspruch nimmt, weil wir ihren Mann behandeln, und wenn er wegen Brustschmerzen in die Notaufnahme kommt, weil wir ihn vor drei Jahren untersucht haben. (…)

In Emory machen wir keine Vorsorgeuntersuchungen mehr, seit ich das Krebsbekämpfungsprogramm leite. Es störte mich allerdings, dass meine PR- und Finanzberater mir zwar sagen konnten, wie viel Geld uns das Screening einbringen würde, dass mir aber niemand sagen konnte, ob wir einem einzigen Menschen das Leben retten könnten. Tatsache ist, dass wir hätten schätzen können, wie viele Männer wir impotent machen würden … aber wir taten es nicht. Das ist ein großes ethisches Problem.

Er hat recht. Es ist ein großes ethisches Problem. Darum mache ich mir so große Sorgen wegen des korrumpierenden Einflusses der kommerzialisierten Medizin.7

Überzeugungstäter

Menschen, die Profit machen wollen, treiben den Trend zu immer mehr Diagnosen aus egoistischen Gründen voran. Überzeugungstäter treiben ihn aus selbstlosen Gründen voran. Sie glauben aufrichtig, dass mehr Diagnosen der Weg zu besserer Gesundheit für Individuen und für die Gesellschaft sind. Vor allem die Früherkennung ist für sie ein Allheilmittel. Ihrer Meinung nach kann sie fortgeschrittene, symptomatische Krankheiten verhindern. Und sie träumen von einem zweiten Vorteil der Früherkennung: Wenn wir die Kosten für die Behandlung von fortgeschrittenen, symptomatischen Krankheiten einsparen, steht unserem klammen Gesundheitssystem mehr Geld zur Verfügung.

Es gibt viele einflussreiche Überzeugungstäter: Politiker, Entscheidungsträger, Vertreter der Nachrichten- und Unterhaltungsmedien, Medizinforscher, ärztliche Leiter und Leiter von Selbsthilfegruppen, die für eine bessere Medizin oder für Kranke eintreten. Einige von ihnen verstehen im Großen und Ganzen die Probleme, die ich in diesem Buch erörtere. Sie sind sich über die Nachteile der Überdiagnosen völlig im Klaren, neigen aber dazu, die negativen Folgen für die Menschen zu unterschätzen. Stattdessen verfolgen sie nur ein einziges Ziel: alles zu tun, um fortgeschrittene Krankheiten zu verhindern, selbst wenn dabei einigen Menschen Schaden zugefügt wird. Die meisten Überzeugungstäter zweifeln nicht an der gängigen Lehre, dass Früherkennung stets besser ist. Vielleicht wurden viele von ihnen durch eigene Erfahrungen umgestimmt. Ärzte sind möglicherweise der Meinung, dass das Leben einiger ihrer Patienten durch Screening gerettet wurde, oder sie sind davon überzeugt, dass bestimmte Patienten mit fortgeschrittenen Krankheiten ihrem Schicksal durch Früherkennung entronnen wären. Auch andere Menschen mögen aus ihren Erfahrungen oder aus denen ihrer Freunde und Angehörigen ähnliche Schlüsse ziehen. Einige Überzeugungstäter sind sich der Überdiagnosen vielleicht vage bewusst, ziehen aber den einfachen Weg vor und beschäftigen sich nicht mit Details. Oder sie kennen das Problem nicht und wären überrascht, wenn sie davon erführen.

Eindeutig falsch ist ihre Überzeugung, durch Früherkennung ließen sich Kosten einsparen. Da Vorsorgeuntersuchungen immer dazu führen, dass viel mehr Menschen medizinische Leistungen in Anspruch nehmen, erhöht diese Strategie eher die Kosten. Mehr Menschen werden untersucht; mehr Anomalien (und Überraschungsfunde) werden entdeckt, die genauere Tests erfordern; mehr Menschen gehen zum Arzt oder in eine Klinik und lassen sich behandeln. Die Folge ist, dass die potenziellen Einsparungen bei den wenigen Leuten, die tatsächlich von der Früherkennung profitieren, von den Kosten für die vielen anderen, die keine Vorteile haben, zunichte gemacht werden.8

Ein komplexes Netzwerk

Die Aussicht auf hohe Profite und die Bemühungen der wahren Gläubigen beflügelte die Entstehung eines komplexen Netzwerks, das für mehr Diagnosen wirbt.

Alle wichtigen Spieler – Hersteller, Gesundheitsorganisationen, Wissenschaftler, Patientenvertreter und Politiker – werden von finanziellen Vorteilen und von wahrem Glauben beeinflusst, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Den Herstellern von Medikamenten und medizinischen Geräten geht es im Wesentlichen um den Profit. Einfach ausgedrückt: Mehr Diagnosen bedeuten für sie mehr Patienten und höhere Umsätze. Aber auch sie werden zweifellos ein wenig vom wahren Glauben beeinflusst. Und Sie sollten sich bewusst machen, dass eine solche Verbindung sehr mächtig ist, denn sie bietet die Möglichkeit, Gutes zu tun und sich dabei gut zu fühlen.

Die Mitglieder von Interessengruppen (zum Beispiel für Diabetiker oder Patienten mit Schilddrüsenkrebs) und politische Entscheidungsträger sind meist wahre Gläubige. Sie befürworten mehr Diagnosen, weil sie glauben, dies komme den Betroffenen und der Gesellschaft zugute. Auch sie profitieren allerdings von der Früherkennung. Versuchen Sie einmal, auf den Websites von Patientengruppen deren wichtigste Sponsoren ausfindig zu machen. Sie werden oft feststellen, dass es sich um einen Produzenten handelt, meist um ein Pharmaunternehmen, der ein unmittelbares finanzielles Interesse an der Behandlung der Krankheit hat. Selbst Politiker lassen sich vom Geld beeinflussen; denn Pharmakonzerne und Anbieter von medizinischen Dienstleistungen gehören zu den größten Parteispendern (in den USA kommen sie an dritter Stelle).9

Die Wissenschaftler finden wir irgendwo in der Mitte dieses Spektrums. Da ich selbst einer bin, kann ich Ihnen mehr über uns erzählen. Manche Wissenschaftler sind wahre Gläubige, manche nicht; aber wir alle werden vom Geld beeinflusst, besonders von Subventionen. Der typische Wissenschaftler bekommt Subventionen für spezifische Forschungsprojekte, und Fördermittel sichern oft einen erheblichen Teil seines Einkommens. Es gibt viele Quellen für Subventionen, von der Bundesregierung bis zu den Pharmakonzernen; aber der Bedarf ist stets größer als das Angebot. Es ist schwer, Subventionen an Land zu ziehen. Zunächst hat man eine Menge Schreibarbeit. Das kann kreativ sein, aber es kostet auch schrecklich viel Zeit und hält uns ironischerweise von der eigentlichen Arbeit ab. Danach kommt zusätzlicher Papierkram für die Behörden. Dokumente wie ein Lebenslauf, Empfehlungsschreiben, die Zustimmung der Institution, eine Beschreibung der Forschungsinfrastruktur, ein Anhang, in dem die bisherigen Arbeiten genau beschrieben werden, und so weiter. Ehrlich gesagt, ich habe keine große Lust dazu.

Und trotz aller Mühe werden die meisten Subventionsanträge abgelehnt. Deshalb denken die Wissenschaftler darüber nach, wie sie ihre Chance, Subventionsgutachter zu überzeugen, vergrößern können. Diese Gutachter sind meist die angesehensten Forscher auf ihrem Gebiet, und viele hängen an konventionellen Ideen und Methoden. Darum überrascht es nicht, dass Wissenschaftler sich meist davor hüten, Projekte vorzuschlagen, die die herkömmliche Meinung in Misskredit bringen könnten.10 In diesem Kontext ist ein Projekt zur Förderung der Früherkennung eine ziemlich sichere Sache. (Manche von uns pflegten zu scherzen, jedes Projekt, das die Beteiligung an der Mammografie vergrößern würde, könne Fördermittel erhalten, selbst wenn es darum gehe, Frauen Angst einzujagen, damit sie sich untersuchen lassen.) Eine Studie, die Nebenwirkungen der Früherkennung untersucht, hat dagegen eine viel geringere Aussicht, gefördert zu werden. Zugegeben, das ändert sich allmählich ein wenig. Manche Behörden, die Subventionen vergeben – vor allem Bundesbehörden –, stehen jetzt kritischen Studien zur Überdiagnose aufgeschlossener gegenüber. Dennoch gilt die Devise »Lieber auf Nummer sicher gehen« immer noch.

Große Unternehmen, die noch mehr Diagnosen befürworten, haben viele Möglichkeiten, die Bevölkerung und die Hausärzte in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die naheliegendste Methode ist die Werbung. Die Vereinigten Staaten sind eines von zwei Ländern auf der Welt, in denen es erlaubt ist, unmittelbar bei Patienten für verschreibungspflichtige Medikamente zu werben (das zweite Land ist Neuseeland).11 Die Ausgaben für diese Werbung sind in den vergangenen fünfzehn Jahren drastisch gestiegen (wenn Sie viel fernsehen, sind Sie sich dessen bestimmt schmerzlich bewusst), von wenigen Millionen Dollar im Jahr 1990 (bevor die FDA Richtlinien für die Fernsehwerbung herausgab) auf über fünf Milliarden Dollar im Jahr 2006.

Aber die Pharmaunternehmen sind nicht die Einzigen, die werben. Auch Einrichtungen der Gesundheitsfürsorge tun es immer häufiger. Wenn Sie heute durch eine amerikanische Stadt fahren, sehen Sie wahrscheinlich mindestens eine Plakatwerbung für jedes örtliche Krankenhaus. Aber auch Ambulanzen, Ärzte, unabhängige Diagnosezentren und Universitätskliniken machen Werbung – oft für Vorsorgeuntersuchungen.

Aufklärungskampagnen über Krankheiten sind eine besondere Form der Werbung. Früher handelte es sich um Aktionen, die von Behörden bezahlt wurden (Beispiele sind die Kampagnen gegen das Rauchen, um den Lungenkrebs zu bekämpfen). Das gibt es heute noch; aber diese Aufklärungskampagnen sind immer häufiger mit bezahlter Werbung verknüpft. Und anstatt eine gesunde Lebensweise zu fördern, wird immer öfter für die Früherkennung von Krankheiten geworben – Sie werden aufgefordert, sich auf eine ganze Reihe von Krankheiten untersuchen zu lassen. Die Geldgeber spiegeln diese Tatsache wider: Viele Kampagnen werden direkt oder indirekt von Pharmaunternehmen und Herstellern diagnostischer Geräte finanziert.

Obwohl Werbemaßnahmen und Aufklärungskampagnen vor allem die Allgemeinbevölkerung beeinflussen, erreichen sie auch Ärzte. Diese werden zusätzlich von der wissenschaftlichen Literatur beeinflusst, die ihrerseits von Produzenten beeinflusst sein kann, die Studien subventionieren. Die meisten medizinischen Studien werden heutzutage von der Industrie finanziert.12 Die Industrie bestimmt im Wesentlichen die Forschungsfragen (das erklärt, warum es viel mehr Studien zur Behandlung von Osteoporose gibt als zu der Frage, wie wir das Sturzrisiko bei älteren Menschen vermindern können). Regierungsberichte – die angeblich am wenigsten voreingenommen sind – können Ärzte ebenfalls beeinflussen.

Und dann gibt es noch die Medien. Nachrichten und Unterhaltungssendungen (zum Beispiel Talkshows) sind ständig auf der Suche nach interessanten, einfachen Geschichten. Geschichten über neue diagnostische Techniken oder den Wert der Früherkennung erfüllen diese Voraussetzung perfekt. Unternehmen, Wissenschaftler und Patientenvertreter wissen das und liefern gerne das Material. Leider enthalten solche Berichte meist eindrucksvolle, aber irreführende Anekdoten – am beliebtesten sind Aussagen von Stars und Politikern – und verzichten auf eine Diskussion der Details, die mit der Vorsorgeuntersuchung verbunden sind. Dies ist, kurz beschrieben, das System, das immer mehr Diagnosen generiert.

Menschen verfangen sich im Netz

Die Bevölkerung lässt sich von diesem komplexen Netzwerk umgarnen. Die Menschen hören die lautstarke Botschaft, dass sie sich Sorgen um ihre Gesundheit machen und sich untersuchen lassen sollen. Die meisten Amerikaner glauben, dass mehr Diagnosen in ihrem Interesse sind, dass sie der beste und sicherste Weg zu guter Gesundheit sind.

Als besonders nützlich gelten zusätzliche Untersuchungen, wenn sie Krankheiten aufspüren, die man mit gutem Grund heimliche Mörder nennen kann, weil sie keine Symptome auslösen, sodass Betroffene nichts davon wissen. Da die Öffentlichkeit dazu erzogen wurde, sich vor allem für die Früherkennung zu begeistern, gilt die Suche nach stummen Krankheiten allgemein als Dienst an der Gesellschaft. Aber wie Sie wissen, ist diese Suche auch die Quelle für Überdiagnosen. Vielleicht hoffen Sie, dass Ihre Ärztin ein Gegengewicht zu all diesen Kräften bildet; aber auch sie ist wahrscheinlich im Netz gefangen.

Ärzte im Netz

Manche Ärzte profitieren sehr davon, wenn sie mehr diagnostizieren. Zu den Ärzten, die sich aus finanziellen Gründen dafür einsetzen, gehören jene, die hauptsächlich diagnostizieren (zum Beispiel Gastroenterologen, die Endoskopien vornehmen, und Kardiologen, die Herzkatheter einsetzen), sowie jene, die Untersuchungsräume und -geräte besitzen (zum Beispiel Radiologen, die Eigentümer von Tomografiezentren sind, und Allgemeinärzte, denen die notwendige Ausrüstung gehört, um Labortests, Belastungstests, Echokardiogramme und Knochendichteuntersuchungen vorzunehmen). Bei vielen Ärzten sind die finanziellen Motive jedoch minimal, falls sie überhaupt existieren.

Manche Ärzte sind wahre Gläubige, aber viele fragen sich, ob das Screening inzwischen die Grenzen der Vernunft überschritten hat. Einige wissen sehr wohl, dass die Früherkennung zwei Seiten hat. Deshalb treten viele Allgemeinärzte – die sich unmittelbar um Menschen kümmern, denen weitere Diagnosen drohen – nicht blindlings für Vorsorgeuntersuchungen ein und haben auch keine finanziellen Interessen in diesem Bereich. Sie legen sehr pragmatische, völlig verständliche (wenn auch unerwünschte) Berechnungen vor, wenn man sie fragt, ob weitere Diagnosen sinnvoll sind. Ein offensichtlicher Faktor ist der Weg des geringsten Widerstandes. Allgemeinärzte sind sehr beschäftigt. Einen Patienten zum Screening zu schicken ist einfach und kostet wenig Zeit; ein Gespräch darüber, ob die Untersuchung dem Patienten nützt, ist zeitaufwendig und setzt voraus, dass der Arzt das Problem der Überdiagnose erläutert. Ärzte nehmen einfach an, dass ihre Patienten sich gerne untersuchen lassen (weil es eine konkrete Maßnahme ist) und dass sehr wenige dagegen sind.

Ein anderes Argument der Ärzte, die Untersuchungen veranlassen, ist der Öffentlichkeit weniger bekannt: Wir wollen gute Noten bekommen. Krankenhäuser, Kliniken und andere Einrichtungen haben ein immer größeres Interesse daran, die Qualität der medizinischen Versorgung zu messen. An für sich ist diese Idee lobenswert; doch wie so oft steckt der Teufel im Detail. Es ist sehr schwierig, die Qualität der Patientenbetreuung objektiv zu messen. Es erfordert eine genaue Kenntnis der Krankheit, um die es geht – aber auch anderer Krankheiten, die der Patient vielleicht hat –, und der Wünsche des Patienten. Zudem müssen wir wissen, wie eine hervorragende Versorgung in der konkreten Situation aussieht. Deshalb haben wir Ärger mit diesem Messproblem. Im Vergleich dazu ist es einfach, die Menschen zu zählen, die geimpft oder untersucht wurden (ob das ein Kriterium für die Qualität darstellt, ist eine andere Frage). Darum legte man bei der Bewertung der medizinischen Versorgung (Noten für Ärzte und Krankenhäuser finden Sie heutzutage auch im Internet) von Anfang an großen Wert auf Vorsorgeuntersuchungen, wobei die Mammografie als eine der wichtigsten galt. Wir Ärzte wurden von medizinischen Fakultäten wegen unseres Wunsches, gute Noten zu erhalten, ausgesucht. Wenn wir mehr Patienten zum Screening schicken müssen, um bessere Noten zu bekommen, dann tun wir es.

Schließlich ist noch die Devise »Sicherheit geht vor« zu berücksichtigen. Wir Ärzte mögen Anwaltswitze. (Mein Lieblingswitz: Was haben wir, wenn zwei Anwälte bis über den Hals im Sand vergraben werden? Nicht genug Sand.) Aber in Wahrheit haben Ärzte Angst vor Rechtsanwälten. Ich vermute zwar, dass das vermeintliche Risiko, wegen eines Behandlungsfehlers angeklagt zu werden, viel größer ist als das reale Risiko; aber hier kommt es auf das gefühlte Risiko an. Es gibt juristische Sanktionen wegen versäumter Diagnosen, aber keine wegen zu vieler Diagnosen. Darum ist es nicht sehr schwierig zu entscheiden, welches die »sicherste« Strategie ist.

Der Albtraum Ihres Arztes

Würde man Ärzte fragen, warum sie immer mehr Diagnosen stellen, würden die meisten wohl die Rechtslage nennen. Die Aussicht, verklagt zu werden, ist wahrlich beängstigend. Vor etwa zehn Jahren wurde ein enger Freund von mir verklagt, weil er es angeblich versäumt hatte, einen Prostatakrebs zu diagnostizieren. Der Kläger war ein Mann im mittleren Alter, der zweimal wegen einer Routineuntersuchung bei Joel gewesen war. Joel hatte ihn gefragt, ob er Beschwerden habe. Er sagte, es gehe ihm gut. Joel maß seinen Blutdruck und horchte seine Lungen ab. Beide waren normal. Er tastete nicht nur die Prostata durch den Mastdarm ab, sondern auch die Mastdarmwand (ebenfalls ein möglicher Krebsherd). Wie viele Männer in seinem Alter hatte auch dieser Patient eine vergrößerte, aber ansonsten normale Prostata. Beim ersten Besuch überwies Joel ihn außerdem an einen Facharzt, der eine Sigmoidoskopie vornahm, eine der Vorsorgeuntersuchungen auf Kolorektalkrebs. Auch diese blieb ohne Befund.

Sechs Monate später hatte der Patient Schwierigkeiten beim Wasserlassen. Wenn er ins Bad ging, fiel es ihm sehr schwer, mit dem Urinieren zu beginnen. Er suchte einen Urologen auf, der die Rektaluntersuchung wiederholte und die Prostata abtastete. Er spürte eine Geschwulst. Der PSA-Wert war sehr hoch, was darauf hindeutete, dass der Patient einen Tumor hatte, der sich über die Prostata hinaus ausgebreitet hatte. Als der Urologe hörte, dass der Patient zuvor bei Joel gewesen war, sagte er zu ihm: »Wenn Ihr Arzt vor sechs Monaten einen PSA-Test gemacht hätte, dann hätte er Ihnen das Leben gerettet.«

Auf die Gefahr hin, wie das Stereotyp eines Arztes zu klingen, der seinen Freund und seinen Beruf verteidigt, halte ich diese Aussage für unerhört. Unterziehen wir sie einmal einer Prüfung. Der wichtigste Punkt ist: Als die Diagnose gestellt wurde, gab es keinen Beweis dafür, dass ein PSA das Leben des Patienten gerettet hätte. Niemand sollte behaupten, jemandes Leben wäre gerettet worden, ohne Anhaltspunkte dafür zu haben, dass die Strategie der Früherkennung tatsächlich sinnvoll ist. Doch selbst wenn bewiesen wäre, dass PSA-Tests manche Prostatakarzinome rechtzeitig genug entdecken, um einige Menschenleben zu retten, wäre die Aussage des Urologen unverschämt. Sie unterstellt viel zu viel. Wenn der PSA-Test seinen Zweck erfüllt, kann es sein, dass er einen tödlichen Krebs sechs Monate früher aufgespürt hätte, als er besser behandelbar war. Aber es ist auch möglich, dass der Test diesem Patienten nichts genützt hätte. Vielleicht war das Karzinom vor sechs Monaten noch gar nicht da. Dann hätte kein Test irgendetwas entdeckt. Genau das kommt bei vielen schnell wachsenden, aggressiven Tumoren vor. Manche von ihnen sind sehr widerstandsfähig gegen eine Therapie, andere bilden schon früh Metastasen, wieder andere sind einfach nicht therapierbar, weil sie lebenswichtigen Organen so nahe sind, dass man sie nicht entfernen kann, ohne den Patienten zu töten.

Bei diesem Patienten hatte sich zweifellos ein sehr aggressiver Krebs entwickelt. Das ist schrecklich. Joel empfand Mitgefühl für den Mann. Uns allen geht es so, wenn einem Menschen ein solches Unglück widerfährt. Aber der Urologe verschlimmerte die Tragödie, als er einer immer beliebteren Geisteshaltung verfiel: Etwas Schlimmes ist geschehen, also muss jemand einen Fehler gemacht haben.

Der Fall kam in einer Kleinstadt in Vermont vor Gericht. Experten für die Prostatakrebs-Vorsorgeuntersuchung von der Universität des Staates Connecticut und von Harvard bestätigten, was wir damals wussten: dass Überdiagnosen ein echtes Problem waren und dass der Nutzen des PSA-Tests unbekannt war. Aber der örtliche Urologe erzählte den Geschworenen eine rührselige Geschichte: Dieser Arzt habe es versäumt, einen tödlichen Krebs zu diagnostizieren. Und auf der Bank saß ein realer Patient mit fortgeschrittenem Krebs, der noch schlimmer aussah, seitdem er an den Nebenwirkungen der Therapie litt. Es ging im Gerichtssaal recht theatralisch zu. Einmal erhob sich die Frau des Patienten, zeigte auf Joel und schrie: »Mörder!« Ich nehme an, das hatte der Anwalt ihres Mannes ihr geraten, so wie Joels Anwälte ihm geraten hatte, seine Frau und seine Tochter mitzubringen, um ihn menschlicher zu machen.

Den Rest der Geschichte können Sie sich wahrscheinlich denken. Die Geschworenen gaben dem Kläger recht. Joels Anwälte waren davon überzeugt, dass das Berufungsgericht ein vernünftigeres Urteil sprechen würde, aber die Kosten dieses Verfahrens wären wahrscheinlich höher gewesen als der Schadenersatz, den das Gericht vorgeschlagen hatte. Also nahm Joel das Urteil an und zahlte. Es überrascht nicht, dass er seither mehr PSA-Tests durchführen lässt. (Wenn ein Arzt verklagt wird, weil er angeblich ein Prostatakarzinom übersehen hat, lassen nicht nur der betroffene Arzt, sondern auch seine Kollegen den PSA-Wert ihrer Patienten häufiger messen. Es gibt einige Studien, die das belegen.13) Er überweist mehr Patienten an Urologen, und diese entdecken mehr Tumore. Einigen dieser Patienten wird vielleicht geholfen, aber viele leiden unter den Nebenwirkungen einer unnötigen Therapie.

Ich glaube, diese Erfahrung hat Joel verändert. Er will kein zweites Mal vor Gericht stehen. Er will sich nicht mehr vorwerfen lassen, er habe einen Test versäumt. Darum lässt er seine Patienten jetzt häufiger untersuchen. Das ist verständlich, denn bisher wurde noch kein Arzt wegen eines Tests verklagt. Es gibt viele gute Ärzte, die gerne das Richtige tun würden; doch Vorkommnisse wie dieses können selbst die Besten von ihnen beeinflussen. Ärzte machen gerne Rechtsanwälte für die Flut von diagnostischen Untersuchungen verantwortlich. Diese Ausrede sollten wir uns abgewöhnen.

Wenn die Politiker gegen Überdiagnosen vorgehen wollen, müssen sie sich dem Problem des asymmetrischen juristischen Risikos stellen: Wer zu wenig diagnostiziert, wird bestraft; wer zu viel diagnostiziert, wird nicht bestraft. Selbstverständlich kann man einen Arzt belangen, wenn er bei einem Patienten Krankheitssymptome beobachtet, aber keine Diagnose gestellt hat. Anders liegt der Fall jedoch, wenn ein Patient heute krank ist, aber vor einiger Zeit, als er einen Arzt besuchte, keine Symptome hatte. Alle Patienten waren im Verlauf einer Krankheit irgendwann symptomfrei, und die meisten waren auch in dieser Phase bei einem Arzt. Wenn »diagnostisches Versagen« auch in solchen Phasen möglich ist, könnte man es fast allen Ärzten vorwerfen. In vielen Fällen gibt es einfach keinen Beweis dafür, dass eine Vorsorgeuntersuchung das Fortschreiten einer Krankheit verhindern kann. Und selbst wenn es Beweise dafür gibt, dass sie einigen Menschen nützt, ist sie keine Hilfe für Patienten mit schnell wachsenden, aggressiven Tumoren, die zur Zeit der Untersuchung nicht diagnostizierbar waren oder die therapieresistent sind.

Trotz guter Untersuchungsmethoden können also Menschen, die untersucht wurden, an Krebs sterben. Die typischen Vorwürfe gegen Ärzte sind häufiger falsch als richtig. Das gilt sogar für die Mammografie, die am besten erforschte Vorsorgeuntersuchung. Von fünf Patientinnen, die unheilbar an metastasenbildendem Brustkrebs erkrankt sind, könnte nur eine mit Recht behaupten, ein Screening hätte sie gerettet.14 Die Furcht der Ärzte, wegen eines Behandlungsfehlers verklagt zu werden, sollte kein Grund dafür sein, Gesunde häufiger zu untersuchen. Es ist in Ordnung, wenn Gesunde sich untersuchen lassen wollen, nachdem sie über die potenziellen Vor- und Nachteile informiert wurden. Man sollte Ärzte dazu verpflichten, Patienten über erwiesene Folgen einer Früherkennung zu unterrichten, aber man sollte ihnen nicht vorwerfen, sie hätten bei einem Patienten ohne Symptome eine Diagnose versäumt.

Der letzte Joker: Ungewissheit wird nicht geduldet

Ich habe von den gesellschaftlichen Kräften gesprochen, die zu Überdiagnosen führen. Aber es gibt noch ein Motiv, das uns über Anomalien stolpern lässt. Viele Ärzte lassen einen Patienten intensiv untersuchen, wenn er vage Symptome aufweist, die offenbar nicht auf eine Krankheit hindeuten. Manchmal steckt natürlich die Furcht, verklagt zu werden, hinter diesem Verhalten; aber sie ist nicht das Hauptmotiv. Oft geht es einfach darum, dass wir Ungewissheit nicht tolerieren. Wir hoffen, durch diagnostische Untersuchungen nachweisen zu können, dass dem Patienten nichts fehlt. Dadurch wollen wir ihn und uns beruhigen.

Leider kann es sein, dass wir beide Ziele verfehlen und stattdessen mehr Ungewissheit und Angst heraufbeschwören. Fragen Sie Michael, einen Reporter, der für ein Männermagazin arbeitet. Er kam zu mir, um über die Vorsorgeuntersuchung auf Prostatakrebs zu sprechen; aber dann erzählte er mir eine Geschichte über eine Diagnose, die nichts mit Prostatakrebs zu tun hatte (zumindest nicht am Anfang). Michael ist ein im Wesentlichen gesunder Mann in den Vierzigern. Er ging zum Arzt, weil er leichte Schmerzen in der rechten Seite des Rückens spürte. Aber er war nicht krank; er hatte weder Fieber noch Husten, noch Atembeschwerden, und sein Appetit war normal. Er hatte nur diese Schmerzen, aber nur, wenn er tief Luft holte, hustete oder sich auf die rechte Seite legte.

Das hört sich nach Brustfellentzündung an. Wir wissen seit Jahren, dass diese bei jungen, gesunden Menschen in der Regel die Folge einer Virusinfektion ist. Früher hätten sich die meisten Ärzte mit dieser Verdachtsdiagnose begnügt und dem Patienten versichert, die Schmerzen würden bald verschwinden.

So war es in der Tat. Am nächsten Tag ging es Michael gut. Aber sein Arzt hatte ihn an eine Radiologin überwiesen, und diese hatte auf dem Röntgenbild Anzeichen für eine Lungenentzündung gefunden. Michaels Hausarzt konnte das nicht glauben, denn Michael hatte keine Symptome einer Lungenentzündung: kein Fieber, keinen Husten, keine Kurzatmigkeit. Also veranlasste der Hausarzt eine Computertomografie. Erneut entdeckte die Radiologin Anzeichen für eine Lungenentzündung, und wieder war Michaels Hausarzt nicht überzeugt. Er bat die Radiologin, das Schichtbild noch einmal zu prüfen.

Bei genauerer Untersuchung fand die Radiologin ein winziges Blutgerinnsel in einer der Arterien, die die Lungen versorgen. Vielleicht hatte es die Symptome verursacht, die inzwischen verschwunden waren. Dennoch, ein Blutklümpchen in den Lungen weckt die Aufmerksamkeit eines Arztes. Michael bekam sofort Heparin, ein Medikament, das die Blutgerinnung hemmt (wodurch Blutungen wahrscheinlicher werden). Man verfrachtete ihn in einen Krankenwagen, schloss ihn an einen Herzmonitor an, verabreichte ihm Sauerstoff und brachte ihn ins Krankenhaus.

Michael bekam allmählich Angst. Die Ärzte im Krankenhaus fanden keinen naheliegenden Grund für ein Blutgerinnsel. Aber sie erwähnten, dass ein versteckter Tumor bisweilen Blutgerinnsel verursacht. Jetzt ging es Michael noch schlechter.

Er ließ eine ganze Reihe von Untersuchungen auf Krebs über sich ergehen – Bluttests, CTs und eine Koloskopie. Während er in einem Krankenbett auf die Ergebnisse wartete, rasten seine Gedanken, und er spielte im Geiste die schlimmsten Szenarios durch: Was ist, wenn ein Tumor das Gerinnsel verursachte? Werde ich sterben? Was wird dann aus meiner Frau und den Kindern?

Michaels Angst vor Krebs wuchs; aber man fand keinen. Dennoch bekam er einen Termin bei einem Hämatologen. Dieser riet ihm, sein Leben lang Blutverdünner einzunehmen. Dadurch steige zwar das Risiko einer Blutung, aber das Medikament werde weitere Blutgerinnsel verhindern. Zum Glück war das nicht das Ende der Geschichte. Ein kluger Lungenspezialist hielt das alles für abwegig. Er erklärte Michael, dass moderne Scanner bei vielen Gesunden kleine Gerinnsel aufspüren. Bei ihm habe ein solches Blutklümpchen zufällig das Brustfell gereizt. Der Arzt meinte, die Gefahr eines gefährlichen Gerinnsels sei bei Michael äußerst gering und der Rat, lebenslang Blutverdünner einzunehmen, sei zu drastisch. Er empfahl Michael, das Medikament abzusetzen und einfach weiterzuleben.

Genau das tat Michael, und es geht ihm körperlich sehr gut. Doch obwohl er weiß, dass sein Risiko, an Krebs zu erkranken, durchschnittlich ist (vielleicht geringer, weil kaum eine familiäre Belastung vorliegt), plagt ihn immer noch der Gedanke, er habe vielleicht doch Krebs. Er wacht nachts auf und grübelt. Im Grunde hat er seit diesem Erlebnis eine Krebsphobie, so stark, dass er einen Psychologen konsultieren musste. Michael und seine Ärzte glauben, dass diese Phobie zu seiner neusten Diagnose geführt hat: chronisches Schmerzsyndrom des Beckens – eine andauernde Verspannung der Beckenbodenmuskeln löste Schmerzen im Beckenbereich, in den Lenden und in den Genitalien sowie Prostatitis-Symptome aus (obwohl keine Prostatainfektion oder -entzündung vorlag). Das kann einen Menschen entkräften. Und weil die Schmerzen sich auf das Becken konzentrieren, fürchtet er sich nun vor Prostatakrebs.

Ein winziges Blutgerinnsel in den Lungen, das nur einen Tag lang schmerzte, hat also eine Krebsphobie ausgelöst, die ihrerseits chronische Beckenschmerzen hervorrief. Und wegen der damit verbundenen Symptome hat Michael jetzt Angst vor Prostatakrebs. Er fragt sich oft, ob es nicht besser gewesen wäre, nie zu einem Arzt zu gehen.

Das Streben nach diagnostischer Gewissheit kann reale Folgen haben. Ich habe oft über diese Geschichte nachgedacht, seitdem Michael sie mir erzählt hat. Wo liegt der Fehler? Warum wurde eine CT gemacht? Warum hörte der Arzt nicht auf, obwohl es seinem Patienten gut ging? Vielleicht fürchtete er sich vor Rechtsanwälten; aber ich bezweifle es. Warum hörte die Radiologin nicht auf? Vielleicht gehörte ihr der CT-Scanner, und sie wollte Geld verdienen; aber auch das bezweifle ich. Ich habe vielmehr den Verdacht, dass beide Ärzte unbedingt herausfinden wollten, was mit Michael los war. Sie glaubten, das sei für ihn das Beste. Aber sie dachten nicht daran, dass das Streben nach diagnostischer Gewissheit Nachteile haben kann. Sie dachten nicht an das Problem der Überdiagnose.