Kapitel 6
Wir suchen intensiver nach Brustkrebs
Ich dachte, ich sollte den Brustkrebs zum Schluss besprechen. Er ist zweifellos der Krebstyp, von dem die Amerikaner am meisten hören, weil er in den Nachrichten am häufigsten auftaucht und weil die Farbe Rosa (die Farbe der amerikanischen Kampagne für Brustkrebsvorsorge) allgegenwärtig ist. Warum geben wir uns solche Mühe, die Menschen auf Brustkrebs aufmerksam zu machen? Wegen der Mammografie.
Bevor ich fortfahre, möchte ich den Unterschied zwischen der diagnostischen Mammografie und dem Mammografie-Screening (der Mammografie als Vorsorgeuntersuchung) betonen. Mit einer diagnostischen Mammografie untersuchen wir eine Frau, die einen neuen Brustknoten hat. In diesem Fall hilft uns die Mammografie herauszufinden, was das für ein Knoten ist. Einer solchen Mammografie unterzog sich meine Frau vor etwa zehn Jahren. Sie hatte einen neuen Knoten in der Brust ertastet. Der Befund lautete: Tumor der Klasse fünf. Das bedeutete, dass der Knoten fast mit Sicherheit bösartig war. Wie sich herausstellte, handelte es sich tatsächlich um Krebs, der sich bereits in einige Lymphknoten ausgebreitet hatte. Ich hatte Angst um meine Frau und machte mir Sorgen darüber, ob ich unsere zehn Jahre alte Tochter alleine großziehen konnte. Meine Frau wurde operiert, mit Chemotherapie behandelt und bestrahlt. Zum Glück geht es ihr gut.
Ein Mammografie-Screening ist etwas anderes. Diese »mammografische Früherkennung« ist ein Test für Frauen, die keinen Grund zur Annahme haben, dass etwas nicht in Ordnung ist. Lassen Sie mich klarstellen: Im Folgenden geht es um dieses Mammografie-Screening, nicht um die diagnostische Mammografie.
Es gibt keine andere Krebsart, bei der die Früherkennung genauer unter die Lupe genommen wurde, als der Brustkrebs. Angeblich haben sich Wissenschaftler mit der Mammografie gründlicher befasst als mit allen anderen Vorsorgeuntersuchungen. Bisher sind dazu zehn randomisierte Studien veröffentlicht worden, jede mit einer etwa zehnjährigen Verlaufsuntersuchung. Und an diesen Studien haben sich erstaunlich viele Frauen beteiligt. Mehr als 600 000 wurden nach dem Zufallsprinzip ausgewählt.
Es gibt auch keine andere Krebsart, über die derart heftig gestritten wird. Die Mammografie ist seit Jahrzehnten ein heiß diskutiertes Thema, aber mehrere meiner Forscherkollegen sind vom Niveau der Diskussion so entmutigt, dass sie sich nicht mehr daran beteiligen. Die Mammografie ist mit Sicherheit ein Minenfeld innerhalb der Vorsorgeprogramme.
Dass eine derart hitzige Debatte einer so intensiven wissenschaftlichen Forschung gegenübersteht, sollte uns etwas sagen: Zwischen den Vor- und Nachteilen der Mammografie besteht ein fragiles Gleichgewicht. Verschiedene Frauen in genau der gleichen Situation (das heißt im gleichen Alter und mit den gleichen Risikofaktoren für Brustkrebs) können mit guten Gründen unterschiedliche Entscheidungen treffen, was die Mammografie anbelangt. Es ist eine schwierige Entscheidung. Und einer der Gründe dafür sind Überdiagnosen.
Die endlose Debatte
Die erste randomisierte Studie über die Mammografie (und die einzige, die jemals in den Vereinigten Staaten durchgeführt wurde) begann 1963 unter der Leitung des Health Insurance Plan of Greater New York (HIP) in Zusammenarbeit mit dem Nationalen Krebsinstitut (NCI). Heute ist sie als HIP-Studie bekannt. Etwa 62 000 Frauen wurden nach dem Zufallsprinzip ausgewählt. Die Interventionsgruppe unterzog sich einmal im Jahr einer Mammografie und einer klinischen Brustuntersuchung (meist von einem Chirurgen vorgenommen). Die Kontrollgruppe wurde nicht untersucht und wusste nicht einmal, dass sie an einer Studie teilnahm, bei der es um Brustkrebsfrüherkennung ging. Aufgrund dieses Konzepts konnte die HIP-Studie leider nicht feststellen, welchen Nutzen die Mammografie alleine hatte; stattdessen untersuchte sie, welche Auswirkungen drei Maßnahmen zusammen hatten: die Mammografie, die klinische Brustuntersuchung und die Aufklärung der Frauen über die Notwendigkeit, Brustkrebs frühzeitig zu behandeln (das Letztere war in den sechziger Jahren möglicherweise ein sehr wichtiger Teil der Strategie). Nach einer zehnjährigen Anschlussstudie stellte man fest, dass die Brustkrebssterblichkeit bei den Frauen in der Interventionsgruppe, die fünfzig Jahre alt oder älter waren, um 30 Prozent niedriger war. Bei Frauen in den Vierzigern sank die Sterblichkeit nicht.
Gestützt auf die HIP-Studie starteten das Nationale Krebsinstitut und die Amerikanische Krebsgesellschaft im Jahr 1973 ein landesweites Mammografieprogramm. Obwohl ein Nutzen für jüngere Frauen nicht bewiesen war, wurden alle Frauen im Alter von fünfunddreißig Jahren und darüber zur Teilnahme aufgefordert. Bald gab es indessen Bedenken wegen der Strahlenbelastung – nicht nur, weil die Brust bekanntermaßen empfindlich auf Strahlung reagiert, sondern auch, weil die Strahlendosis bei der Mammografie damals deutlich höher war als heute. Das galt vor allem für junge Frauen, denen mehr Mammografien bevorstanden als den älteren, sodass sie auch der höchsten kumulativen Strahlendosis ausgesetzt sein würden. Als Reaktion auf diesen Einwand schlossen das NCI und die Amerikanische Krebsgesellschaft im Jahr 1976 Frauen unter fünfzig von dem Programm aus.1
Im Jahr 1988 revidierten beide Organisationen ihre Entscheidung und empfahlen nun allen Frauen in den Vierzigern, sich einer Mammografie zu unterziehen. Man versicherte den Frauen, die Strahlenbelastung sei inzwischen erheblich geringer als früher. Zudem hatte das NCI die HIP-Studie noch einmal geprüft und war zu dem Schluss gekommen, dass Frauen in den Vierzigern doch von der Mammografie profitierten. Aber die Gemüter beruhigten sich nicht. Im Jahr 1992 wurden die Ergebnisse einer großen randomisierten Studie in Kanada veröffentlicht.2 Das Konzept ähnelte dem der HIP-Studie, was nicht verwunderlich war, da der Leiter dieser Studie auch an der HIP-Studie mitgewirkt hatte. Die Interventionsgruppe erhielt eine Mammografie und eine klinische Untersuchung, die Kontrollgruppe wurde nicht untersucht. Anders als die HIP-Studie konzentrierte sich die kanadische Studie auf Frauen im Alter von vierzig bis neunundvierzig. Das Ergebnis war eine Überraschung: Die Mammografie verringerte die Brustkrebssterblichkeit nicht.
Ende 1992 waren neun der zehn randomisierten Studien zur Mammografie beendet und in der medizinischen Literatur veröffentlicht. Keine dieser Studien (einschließlich der kanadischen) konnte einen Rückgang der Sterblichkeit bei jüngeren Frauen feststellen. Erneut zogen einige Forscher daraus den Schluss, dass eine Mammografie bei Frauen unter fünfzig nutzlos sei. Andere waren davon nicht überzeugt und wiesen darauf hin, dass man einen Nutzen wegen der geringen Zahl von jüngeren Teilnehmerinnen nicht ausschließen könne. Im Februar 1993 bekräftigte die Amerikanische Krebsgesellschaft ihre Empfehlung, auch jüngere Frauen in das Mammografieprogramm einzubeziehen.
Drei Wochen später veranstaltete das Nationale Krebsinstitut ein internationales Arbeitstreffen, um aus den Studien ein Fazit zu ziehen.3 Man wollte das vorhandene Wissen bewerten und Probleme benennen, die genauer untersucht werden mussten. Es ging nicht darum, Empfehlungen zur Mammografie auszusprechen. Die Wissenschaftler kamen zu dem Ergebnis, dass die Studien einen Nutzen für Frauen ab fünfzig belegten, nicht aber bei Frauen in den Vierzigern. Außerdem bestätigten sie, dass die Mammografie auch Nachteile hatte. Zwar erwähnten sie nur die falsch-positiven Befunde und die unnötigen Biopsien, aber einer meiner Kollegen, der damals anwesend war, räumte ein, dass auch das Problem der Überdiagnosen diskutiert worden sei.
Im Jahr 1997 wurde die Kontroverse hitziger. Der Direktor des NCI wollte die Ungewissheit beenden und berief ein Gremium von dreizehn unparteiischen medizinischen Experten und Verbraucherschützern ein, um alle Daten zu prüfen und den Amerikanerinnen einvernehmliche Empfehlungen zu geben.4 Das war eine bewährte Methode, schwierige Probleme zu lösen; sie wurde von allen National Institutes of Health (Behörden des Gesundheits- und Sozialministeriums der USA) angewandt, auch vom NCI. In der Vergangenheit hatte es mehr als hundert solche Konsensgremien gegeben. Dieses Gremium entschied, dass die Daten, die für eine Mammografie bei Frauen zwischen vierzig und fünfzig Jahren sprachen, dürftig waren. Es war nicht klar, ob die Mammografie Leben rettete. Und wenn sie Frauen rettete, dann waren es wenige: Nicht einmal eine von tausend Frauen, die sich im Laufe von zehn Jahren einer Mammografie unterzogen, verdankte ihr Leben dieser Maßnahme. Was die Nachteile anbelangte, drückte sich das Gremium deutlicher aus: Bei rund einem Drittel der Frauen kam es zu mindestens einem falsch-positiven Befund, und eine erhebliche Zahl von Frauen erhielt die Diagnose »Krebs« (und wurde wegen Krebs behandelt), obwohl eine Überdiagnose vorlag. Bei diesen Frauen war der Nutzen der Mammografie völlig unklar. Deshalb lehnte das Gremium es ab, für Frauen in den Vierzigern eine Empfehlung auszusprechen, weder für noch gegen die Mammografie. Stattdessen rieten die Experten jeder Frau, ihre eigene Entscheidung zu treffen.
Dieser Rat löste einen Sturm der Entrüstung aus. Ein Befürworter der Mammografie behauptete, das Gremium verurteile amerikanische Frauen zum Tode. Ein anderer nannte den Bericht fehlerhaft und wies (mit Recht) darauf hin, dass sich im Alter von fünfzig Jahren nichts Magisches ereigne. Der Direktor des NCI erklärte, er sei »erschrocken« über den Bericht seines Gremiums, was viele zu der Frage veranlasste, warum er es überhaupt einberufen hatte, wenn er die richtige Antwort bereits kannte. Bernadine Healy, die ehemalige Leiterin der National Institutes of Health und prominente Befürworterin der Vorsorgeuntersuchungen für Frauen, sagte zu einem Reporter der New York Times, sie sei »sehr beunruhigt darüber, dass eine Gruppe sogenannter Experten den Sinn der Früherkennung bezweifelt«. Allerdings räumte sie ein, den Bericht nicht gelesen zu haben.5
Die Politiker benahmen sich nicht viel besser. Senator Arlen Specter (ein Republikaner aus Pennsylvania) zitierte den Vorsitzenden des Gremiums herbei, damit er den Bericht bei einer speziellen Anhörung vor dem Senats-Unterausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales rechtfertigte. Der Senat fasste einen nicht verbindlichen Beschluss, in dem er die Mammografie für Frauen in den Vierzigern unterstützte. Das Abstimmungsergebnis lautete 98 zu 0. Niemand wollte auf der falschen Seite stehen. Der Direktor des NCI, der jetzt unter erheblichem politischem Druck stand, bat seinen Beirat, den Bericht des Gremiums noch einmal zu überdenken. Zunächst lehnten die Beiratsmitglieder das ab, weil sie nicht in ein altbewährtes Verfahren eingreifen wollten; doch schließlich empfahlen sie mit 17 zu 1 Stimmen allen Frauen in den Vierzigern eine Mammografie.
Zwölf Jahre später, 2009, kam es zu einem ähnlichen Aufstand, als die amerikanische Preventive Services Task Force (PSTF, ein von der Regierung einberufenes Expertengremium, das sich mit vorbeugenden Maßnahmen in der Medizin befasst) zu dem Schluss kam, dass Frauen nicht ab vierzig, sondern erst ab fünfzig Jahren an der Brustkrebs-Vorsorgeuntersuchung teilnehmen sollten.6 Das Timing hätte nicht schlechter sein können. Obwohl die Mitglieder der PSTF von der Regierung Bush berufen worden waren und ihre Schlüsse schon vor einem Jahr gezogen hatten, veröffentlichten sie ihren Bericht erst, als die Regierung Obama sich bemühte, das Gesundheitssystem zu reformieren. Jetzt wurden die Empfehlungen zur Mammografie mit einem viel größeren Problem durcheinandergebracht: mit der Eindämmung der Gesundheitskosten. Obwohl die PSTF-Mitglieder ausdrücklich erklärten, die Kosten hätten bei ihren Empfehlungen keine Rolle gespielt, bezeichneten Regierungskritiker ihren Bericht als Beginn der Rationierung und als Vorspiel zu einer schönen neuen Welt von »Todesgremien«.
Gesundheitsministerin Kathleen Sebelius distanzierte sich rasch von den Empfehlungen der PSTF, und im Senat wie im Repräsentantenhaus wurden hastig Anhörungen anberaumt, bei denen es um die Zukunft der PSTF selbst ging. Immerhin stimmten führende Gruppen, die sich mit Frauengesundheit befassten, den PSTF-Empfehlungen zu: die Breast Cancer Action, die National Breast Cancer Coalition und das National Women’s Health Network. Dennoch tobte der Streit weiter. Viele Politiker, politische Entscheidungsträger und Ärzte wollten das heiße Eisen offenbar nicht anfassen – also wählten sie die sichere Alternative und lehnten die Empfehlungen der PSTF ab.
Vorteile und Nachteile
Natürlich ist Brustkrebs für das öffentliche Gesundheitswesen ein sehr ernstes Problem und wahrscheinlich der häufigste Krebstyp bei Nichtraucherinnen. Bei keiner anderen Krebsart ist das Sterberisiko so hoch. (Bei Raucherinnen und Rauchern ist Lungenkrebs bei Weitem die gefährlichste Krebsart.) Jedes Jahr sterben in den Vereinigten Staaten etwa 40 000 Frauen an Brustkrebs. Deshalb müssen wir auf jeden Fall über die Vorsorgeuntersuchung nachdenken. Aber jedes Jahr wird bei etwa einer Viertelmillion Amerikanerinnen Brustkrebs diagnostiziert – das sind etwa sechsmal mehr als daran sterben. Der Unterschied ist nicht so dramatisch wie beim Schilddrüsenkrebs oder beim Melanom; dennoch wirft er die Frage auf, ob auch hier Überdiagnosen vorliegen.
Um die Debatte zu verstehen, müssen Sie die wahren Vor- und Nachteile der Mammografie kennen. Das ist gar nicht so einfach; denn die Mammografie hat zwar echte Vorteile, doch einige verbreitete Vorstellungen über ihren Nutzen sind einfach nicht wahr. Viele Leute kennen die offensichtlichen Nachteile der Mammografie, aber der größte Nachteil ist am wenigsten bekannt. Meiner Meinung nach werden die Vorteile systematisch übertrieben, während man die Nachteile herunterspielt oder, schlimmer noch, verheimlicht. Und noch einer unbequemen Wahrheit müssen wir ins Auge schauen: Die randomisierten Studien liefern keine eindeutigen Antworten, trotz des enormen Aufwandes und der gewaltigen Zahl von Frauen, die daran teilgenommen haben.
Der wahre Nutzen der Mammografie
Gestützt auf alle Studien schätzte die PSTF, dass die Mammografie das Risiko, an Brustkrebs zu sterben, um etwa 15 Prozent senkt.7 Um mögliche Ungenauigkeiten zu berücksichtigen (und mit einer hübschen runden Zahl arbeiten zu können), gehe ich von einer optimistischeren Schätzung aus: von einer Reduzierung um 20 Prozent. Würden alle Frauen an Brustkrebs sterben, wäre dies ein gewaltiger Nutzen – wir bräuchten nur fünf Frauen zu untersuchen, um einen Todesfall zu verhindern. Natürlich sterben die meisten Frauen nicht an Brustkrebs; daher kann die Mammografie ihnen nicht helfen.
Die Situation ist mit der Beziehung zwischen dem Grad der Anomalie und dem Nutzen der Behandlung vergleichbar: Menschen mit geringeren Anomalien profitieren logischerweise weniger von der Therapie als jene mit schweren Anomalien. Bei der Vorsorgeuntersuchung sollten wir an das Spektrum des Risikos denken: Menschen mit geringem Erkrankungsrisiko haben von der Untersuchung notwendigerweise einen geringeren Nutzen als eine Hochrisikogruppe. Deshalb tritt niemand für eine Mammografie bei Männern ein, obwohl auch Männer an Brustkrebs sterben, wenngleich selten.
Mit Ausnahme einiger relativ seltener Genmutationen ist das Alter der bei Weitem wichtigste Risikofaktor für Brustkrebs bei Frauen. Die beste Methode, den Nutzen der Mammografie zu messen, besteht also darin, ihn mit dem Alter in Beziehung zu setzen, wie in Tabelle 6.1.
Tabelle 6.1 Der Nutzen der Mammografie8
Von 1000 Frauen, die 10 Jahre lang geröntgt werden, haben |
||
Alter |
einen Nutzen (Tod durch Brustkrebs wird verhindert) |
keinen Nutzen |
40 |
0,5 |
999,5 |
45 |
0,7 |
999,3 |
50 |
1 |
999 |
55 |
1,4 |
998,6 |
60 |
1,7 |
998,3 |
65 |
2 |
998 |
70 |
2,3 |
997,7 |
Zwei Fakten stechen in der Tabelle hervor. Erstens: Die meisten Frauen haben von der Mammografie keinen Nutzen. Zum Beispiel müssen wir rund zweitausend Vierzigjährige zehn Jahre lang röntgen, damit eine Frau davon profitiert. Der Grund dafür ist einfach: Die meisten Frauen bekommen keinen Brustkrebs. Und von den wenigen, die ihn bekommen, können wir mehr als zwei Drittel genauso gut behandeln, einerlei, wie die Krankheit diagnostiziert wird.9 Das heißt, dass noch weniger an Brustkrebs sterben. Und die Mammografie hilft nur einer von fünf dieser Frauen, dem Tod zu entrinnen.
Zweitens: Obwohl der Nutzen mit dem Alter steigt, gibt es kein bestimmtes Alter, ab dem wir parallel zur Größe des Nutzens eine Linie ziehen könnten. Der Nutzen steigt stetig, aber nie drastisch. Das liegt zum Teil an der künstlichen Annahme, dass wir die Zahl der Todesfälle in jedem Alter gleich stark verringern können. Aber es gibt einige Gründe zu der Annahme, dass die Mammografie bei Frauen in den Vierzigern weniger effektiv ist. Diese Frauen haben meist ein dichteres Brustgewebe (in dem Knoten schwieriger zu entdecken sind), und bei den wenigen jungen Frauen, die an Brustkrebs erkranken, wachsen die Tumore meist schnell (dieser Krebstyp wird beim Röntgen häufiger übersehen, weil er zwischen den Untersuchungen auftritt). Doch selbst wenn die Zahl der Frauen in den Vierzigern, die von einer Mammografie profitieren, ein wenig sinken würde,10 müssten wir auf die Frage, ob sie sich einer Mammografie unterziehen sollten oder nicht, wahrscheinlich antworten: Das hängt eher von der persönlichen Einstellung ab als vom Alter. Es kommt darauf an, wie eine Frau die Vor- und Nachteile abwägt.
Angebliche, aber nicht reale Vorteile der Mammografie
Ich werde oft nach drei angeblichen Vorteilen der Mammografie gefragt: weniger Metastasen, eine weniger aggressive Therapie und das wichtige Gefühl, dass alles in Ordnung ist. Leider lassen die Fakten darauf schließen, dass diese »Vorteile« begrenzt oder gar nicht vorhanden sind.
Man nimmt oft an, dass die Mammografie nicht nur die Brustkrebssterblichkeit senkt, sondern auch die Gefahr einer Metastasenbildung. Damit ist ein Karzinom gemeint, das sich über die Brust hinaus ausbreitet und andere Organe erfasst, zum Beispiel die Lungen, die Knochen, das Gehirn oder die Leber. Die randomisierten Studien befassen sich nicht speziell mit dieser Frage. Leider sind Metastasen und Tod durch Brustkrebs ziemlich genau das Gleiche. Mit anderen Worten: Die meisten Frauen mit metastasierendem Brustkrebs sterben letztlich an Brustkrebs (den SEER-Daten zufolge sind es etwa 90 Prozent). Das geringere Risiko der Metastasenbildung ist demnach größtenteils bereits im verringerten Sterberisiko enthalten. Trotzdem können wir vielleicht einige wenige Frauen, die letztlich an anderen Krankheiten sterben, vor einer Metastasenbildung bewahren. Aber diesen kleinen zusätzlichen Nutzen, der möglicherweise existiert, habe ich schon über Gebühr berücksichtigt, indem ich die Senkung des Sterberisikos mit 20 statt 15 Prozent angesetzt habe. Sie können also davon ausgehen, dass die Zahlen in Tabelle 6.1 nicht nur die Reduzierung der Todesfälle widerspiegeln, sondern auch das geringere Risiko einer Metastasenbildung.
Oft wird auch behauptet, die Mammografie ermögliche eine weniger aggressive Therapie. Der Gedankengang ist einfach: Dank der Mammografie wird der Krebs entdeckt, bevor sich bei einer Frau ein Knoten oder andere Symptome entwickeln; und weil der Krebs früher entdeckt wird, ist er leichter zu behandeln. Die Folge sollten weniger Mastektomien (operative Entfernung der Brust) sein. Das mag bei einigen Frauen zutreffen; aber die randomisierten Studien zeigen, dass die Mammografie im Allgemeinen die gegenteilige Wirkung hat: Sie führt zu rund 20 Prozent mehr Mastektomien, nicht weniger.11 Die Mammografie erhöht nämlich sowohl die Zahl der Frauen, bei denen ein invasiver Brustkrebs diagnostiziert wird, als auch die Zahl der Frauen, bei denen man mehrere kleine, im gesamten Brustgewebe verteilte Tumore entdeckt (in diesem Fall wird eine Mastektomie empfohlen).
Aber die bei Weitem häufigste Frage, die mir gestellt wird, lautet: »Warum weisen Sie nicht öfter darauf hin, dass auch eine normale Mammografie nützlich ist, weil es eine Frau beruhigt?« Meiner Meinung nach wäre es beruhigend, wenn wir einer Frau sagen könnten, dass sie jetzt keinen Brustkrebs hat und in naher Zukunft auch keinen bekommen wird – aber, offen gesagt, ich glaube, wir überschätzen die Möglichkeiten dieser Untersuchung.
Der Idealfall wäre eine eindeutige Mammografie. Aber rund ein Viertel der Tumore, die während des Folgejahres auftreten, sind auf der Mammografie nicht erkennbar.12 Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens kann das Bild (oder der Radiologe, der es prüft) einen Tumor »übersehen«, und zweitens sind manche Tumore zur Zeit der Mammografie noch nicht vorhanden, sondern beginnen kurze Zeit später zu wachsen. Leider weist dieser zweite Grund auf einen aggressiveren Krebs hin, der häufiger zum Tod führt.13 Eine normale Mammografie bedeutet also nicht, dass eine Frau im nächsten Jahr keinen Krebs bekommt. Es kann jedoch durchaus bedeuten, dass die Gefahr in diesem Jahr um etwa drei Viertel geringer ist – bis zur nächsten Mammografie.
Sagt eine normale Mammografie etwas über die Zeit jenseits dieser Periode aus? Ich fürchte, die Antwort lautet nein. Eine normale Mammografie in diesem Jahr hat für das nächste Jahr kaum einen prognostischen Wert. Tatsache ist, dass den meisten bei einer Mammografie entdeckten Tumoren normale Mammografien im Jahr davor vorausgingen. Eine langfristige Anschlussstudie bei über 215 000 Frauen, die in New Mexico (einem der Staaten mit hervorragenden Krebsdaten und einem der ersten SEER-Register) normale Mammografien hatten, zeigt, dass ihr Risiko, in den folgenden sieben Jahren an Krebs zu erkranken, fast genauso groß war wie bei den Frauen der Gesamtbevölkerung im vergleichbaren Alter.14 Eine normale Mammografie kann einer Frau zwar eine gewisse Beruhigung verschaffen, weil ihr Risiko, vor der nächsten Mammografie mit der Diagnose »Krebs« konfrontiert zu werden, geringer ist; aber darüber hinaus hat es wenig Informationen zu bieten. Wer einer Frau langfristige Prognosen stellt, nährt weitgehend eine Illusion.
Ich vermute, dass ein großer Teil der Gefühle, die mit dem Wort Beruhigung verbunden sind, eher mit Erleichterung zu tun haben – Sie sind erleichtert darüber, dass Sie jetzt keinen Krebs haben. Natürlich kann die Furcht vor Krebs auch auf die Mammografie selbst zurückzuführen sein; denn Sie können nicht erleichtert sein, wenn Sie zuvor keine Angst vor Brustkrebs gehabt haben. Ich glaube, dass ein Teil – vielleicht der Großteil – der Furcht vor Brustkrebs die Folge der Vorsorgeuntersuchung ist. Das ist in etwa so, als würde man ein paar Leute einen Test schreiben lassen und ihnen vorher sagen, dass einige durchfallen werden. Diejenigen, die den Test bestehen, werden erleichtert sein. Aber man könnte auf diese Erleichterung verzichten, wenn der Test gar nicht erst stattfände. Es muss einen anderen Grund für den Test geben. Der Grund für die Mammografie ist das Bemühen, den Tod durch Brustkrebs zu verhindern. Das ist der Sinn einer Vorsorgeuntersuchung.
Die Nachteile der Mammografie
Viele Menschen haben irgendwann im Leben mit Brustkrebs zu tun – sie haben ihn oder sie kennen jemanden, der ihn hat, oder sie haben Angst, ihn zu bekommen. Diese Tatsache spiegelt teilweise die Verbreitung der Krankheit wider, vor allem aber den Einsatz der Mammografie. Damit Frauen sich röntgen lassen, muss man ihnen das Thema »Brustkrebs« bewusster machen, und die wirksamste Methode besteht darin, ihnen Angst einzujagen. In den Vereinigten Staaten wurde den Frauen eingeredet, dass es gefährlich ist, sich nicht röntgen zu lassen. Eine alte Anzeige der Amerikanischen Krebsgesellschaft deutete sogar an, Frauen, die eine Mammografie ablehnten, seien nicht ganz richtig im Kopf: »Wenn eine Frau keine Mammografie hat, muss sie mehr als ihre Brüste untersuchen lassen.« Die erste schädliche Wirkung der Mammografie besteht also drin, dass die Werbung die Bevölkerung ängstlicher macht.
Die Untersuchung selbst ist nicht harmlos. Viele Frauen halten die Mammografie zwar für erträglich, aber andere finden sie mehr als unangenehm oder gar schmerzhaft. Hinzu kommt, dass Mammografien zu oft als anormal gelten. Das ist in den USA besonders problematisch, denn Schätzungen zufolge wird hier bei fast der Hälfte der Frauen, die sich zehn Jahre lang einmal jährlich untersuchen lassen, eine Abweichung entdeckt.15 Manchen wird eine sofortige zweite Untersuchung empfohlen, anderen rät man, damit sechs Monate zu warten. Bei einigen wird eine Biopsie vorgenommen, und einige wenige haben bald den Eindruck, in einen endlosen Kreislauf von Untersuchungen geraten zu sein, weil ihre Aufnahmen irgendwie verdächtig sind. Und alle fürchten, Brustkrebs zu haben. Aber die große Mehrheit hat keinen.
Dann gibt es noch das Problem der falsch-positiven Ergebnisse. Die Mammografie ist positiv (das heißt, man findet Anomalien), aber es ist kein Krebs feststellbar – das positive Resultat war also ein Irrtum. Man könnte hier von falschem Alarm sprechen. Die wenigen Studien zu diesem Thema lassen darauf schließen, dass die meisten Frauen diesen Nachteil hinnehmen. Doch während ich diese Zeilen schrieb, hatte ich zufällig ein Gespräch mit einer künftigen Angestellten, die mir sagte, sie werde sich aus genau diesem Grund nicht mehr röntgen lassen. Eine ihrer Mammografien war verdächtig gewesen. Sie war einige weitere Male untersucht worden, und zum Schluss hatte ihr Arzt eine schmerzhafte (und entstellende) offene Biopsie vorgenommen. Sie kannte die Vorteile der Vorsorgeuntersuchung, doch nun hatte sie auch einen ihrer Nachteile kennengelernt. Darum beschloss sie, künftig auf beides zu verzichten.
Ein weiterer Nachteil der Mammografie wird seltener erwähnt: Die Diagnose »Krebs« wird früher gestellt, ändert aber nichts an den langfristigen Folgen. Man kann die Karzinome, die durch Mammografie entdeckt werden, in drei Gruppen einteilen: 1. klinisch bedeutsamer Krebs, der leichter zu behandeln ist, weil er früher entdeckt wurde (dies ist der Nutzen der Mammografie); 2. überdiagnostizierter Krebs (darauf gehe ich gleich ein); 3. klinisch bedeutsamer Krebs, der nicht besser behandelt werden kann, obwohl man ihn früher entdeckt hat. Die meisten durch die Mammografie entdeckten Karzinome – mehr als 90 Prozent – fallen in eine der beiden letzten Kategorien.16 Die Patientin, die der letzten Gruppe angehört, wird vielleicht geheilt, einerlei, ob ihr Krebs klinisch (nach dem Auftreten von Symptomen) oder durch die Mammografie entdeckt wurde; oder sie stirbt an Krebs, unabhängig davon, wann und wie er diagnostiziert wurde. Der Nutzen der Mammografie für diese Gruppe ist einfach zu beschreiben: Frauen erfahren, dass sie Brustkrebs haben und werden früher behandelt, als es ohne die Mammografie der Fall gewesen wäre. Aber sie haben keinen Vorteil von der Früherkennung, sondern werden lediglich in jüngeren Jahren zu Brustkrebspatientinnen.
Die stellvertretende Leiterin der Brustkrebsstudie war dankbar dafür, dass ihr dieser Ärger erspart blieb. Im Alter von neunundsechzig Jahren suchte sie einen Chirurgen auf, um einen Knoten in ihrer Brust untersuchen zu lassen. Auf einer diagnostischen Mammografie wurde eindeutig Krebs entdeckt. Die folgende Operation bestätigte die Diagnose. Der Krebs befand sich im Frühstadium, und es gab keine Anzeichen für Metastasen. Sie hatte also gute Chancen, geheilt zu werden. Der Chirurg prüfte ihre früheren Mammografien, und auch hier war der Tumor erkennbar, wenn auch kleiner. Er war nicht übersehen worden. Sie hatte sich nach sechs Monaten noch einmal röntgen lassen und erfahren, dass der Tumor nicht gewachsen war. Bemerkenswert ist, dass diese Aufnahmen neun Jahre alt waren. Sie hätte also im Alter von sechzig Jahren zur Patientin werden können, und die Folgen wären die Gleichen gewesen. Nun war sie froh darüber, dass die Diagnose erst später gestellt worden war.17
Mammografie und Überdiagnosen
Verbreitete Angst vor Brustkrebs, mehr Fälle von falschem Alarm und Frauen, die zu früh zu Patientinnen werden – das alles sind Nachteile der Mammografie. Für jeden einzelnen Patienten aber ist keiner von ihnen so schädlich wie die Überdiagnose. Und wie Sie wissen, ist ein unentdecktes Krankheitsreservoir die Voraussetzung für eine Überdiagnose.
Mir liegen sieben Studien vor, deren Autoren mehr als tausend Frauen obduzierten, die keine Brustkrebspatientinnen gewesen und nicht an Brustkrebs, sondern aus anderen Gründen gestorben waren. Bei 2 bis 40 Prozent dieser Frauen fanden Pathologen Beweise für Brustkrebs.18 Zugegeben, 2 bis 40 Prozent sind eine ziemlich große Bandbreite. Dafür gibt es mehrere Erklärungen. Die einzelnen Studien haben verschiedene Gruppen von Frauen untersucht, vor allem Frauen unterschiedlichen Alters. Wie die meisten Krebsarten kommt auch Brustkrebs häufiger bei älteren Menschen vor. Zudem wenden verschiedene Pathologen zweifellos unterschiedliche Kriterien an, wenn sie entscheiden, welche Anomalien (vor allem kleine Anomalien) als Krebs gelten. Und schließlich waren die Autoren dieser Studien nicht alle gleich gründlich – manche suchten intensiver nach Krebs als die anderen. Eine Forschergruppe untersuchte mehr als zweihundert histologische Schnitte je Brust, eine andere weniger als zehn.
Doch einerlei, wie variabel die Befunde sein mögen, sie zeigen, dass manche Frauen Brustkrebs haben, ohne es je zu erfahren, es sei denn, wir suchen wirklich gründlich danach. Und jetzt gibt es auch überzeugende Beweise dafür, dass die Mammografie immer mehr Karzinome entdeckt.
In ganz Europa – einschließlich Dänemark, Italien, Norwegen, Schweden und Großbritannien – stieg die Zahl der auf Mammografien entdeckten Tumore in den achtziger und neunziger Jahren erheblich. Die untersuchten Frauen sind in Europa meist fünfzig Jahre alt oder älter, und die Kosten übernimmt die Krankenversicherung.19 Für die Forschung ist dies eine sehr günstige Ausgangslage: Ab einem Alter von fünfzig Jahren nehmen die meisten Frauen an der Mammografie teil, während die meisten Jüngeren nicht teilnehmen.
Gäbe es keine Überdiagnosen, bliebe die Gesamtzahl der Frauen, bei denen Krebs diagnostiziert wird, trotz der Vorsorgeuntersuchung unverändert. Zwar ist zu erwarten, dass die Zahl der Brustkrebsfälle nach dem Beginn der Mammografie zunimmt (einige Frauen haben Krebs, der später offenkundig geworden wäre, aber durch die Mammografie früher entdeckt wird);20 doch wenn es wirklich keine Überdiagnosen gäbe, würde dieser Anstieg dadurch ausgeglichen, dass man später weniger Tumore entdecken würde. Mit anderen Worten: Wenn alle Tumore, die durch Mammografie früher entdeckt werden, eines Tages klinisch offenkundig würden (meist dann, wenn eine Frau einen neuen Knoten in der Brust findet und deshalb zum Arzt geht), müsste die Zahl der Tumore zurückgehen, die zu einem späteren Zeitpunkt klinisch diagnostiziert werden. Da die Tumore klinisch entdeckt und behandelt werden und die betroffenen Frauen sich im Mammografiealter befinden, sollte dieser Rückgang offenkundig werden, sobald die Frauen wegen ihres Alters nicht mehr zur Mammografie gehen (in Europa meist im Alter von etwa siebenundsechzig bis siebzig). Aber dieser Rückgang ist nirgendwo in Europa zu beobachten.
Abbildung 6.1 zeigt, was ich meine. Die Daten stammen aus Großbritannien.21 Die gestrichelten Linien sind »Trendlinien« – sie spiegeln die prognostizierte Brustkrebshäufigkeit wider, die sich aus der Entwicklungstendenz vor Einführung der Mammografie ergibt. Die untere durchgezogene Linie zeigt, was bei Frauen im Alter von fünfzig bis vierundsechzig Jahren (die Mammografie-Altersgruppe) tatsächlich geschah. Bald nach Einführung der Mammografie stieg die Zahl der Brustkrebsfälle stark an. Das war zu erwarten. Unerwartet war, dass die Zahl nicht zurückging: Heute erkranken Frauen im Alter von fünfzig bis vierundsechzig Jahren in Großbritannien praktisch genau so oft an Brustkrebs wie Frauen, die etwa zehn Jahre älter sind und nicht geröntgt wurden.

Abbildung 6.1 Zahl der Brustkrebsfälle in Großbritannien
Dieser Anstieg ist an sich noch kein Beweis für Überdiagnosen. Es könnte sein, dass die Diagnose in dieser Altersgruppe dank der Mammografie früher gestellt wird und dass diese Krebsfälle ohne die Vorsorgeuntersuchung erst in der Altersgruppe fünfundsechzig bis fünfundsiebzig entdeckt worden wären. Doch sollte die Zahl der Krebsfälle in der Gruppe, die für eine Mammografie zu alt ist, dann nicht sinken? Aber wie Sie sehen, ändert die Mammografie nichts an der Zahl der Krebserkrankungen bei Frauen im Alter von fünfundsechzig bis fünfundsiebzig Jahren.
Das sind überzeugende Beweise für Überdiagnosen, und viele europäische Vorsorgeexperten machen sich deswegen Sorgen. Einige Tumore, die man durch Mammografie entdeckt, werden mit Sicherheit nie wachsen und klinisch nie auffällig werden. Ein erheblicher Teil von ihnen scheint sogar zu schrumpfen.22
In den Vereinigten Staaten sieht es noch düsterer aus. Wir haben nie ein landesweites Vorsorgeprogramm eingeführt, und selbst wenn wir es tun würden, gäbe es kein Gesundheitssystem, das alle teilnahmeberechtigten Frauen gleichzeitig erreichen würde. Deshalb können wir nicht genau sagen, wann die Vorsorgeuntersuchungen für Brustkrebs in den Vereinigten Staaten begonnen haben. In den siebziger und achtziger Jahren unterzogen sich nach und nach immer mehr Frauen einer Mammografie. Abbildung 6.2 zeigt deren Einfluss auf die Brustkrebsdiagnosen. Die Grafik stützt sich auf die SEER-Daten.
Die kleine Spitze im Jahr 1974 hat einen interessanten Hintergrund. Vielleicht haben Sie bemerkt, dass die Grafik zwei Jahre früher beginnt als die Grafiken in den bisherigen Kapiteln, nämlich 1973 statt 1975. Da ich wusste, dass diese Spitze vorhanden war, verlangte ich auch die Daten für 1973 und 1974. Die Spitze spiegelt den Betty-Ford-Effekt wider.
Davon erfuhr ich als Student im Fachbereich öffentliche Gesundheit an der University of Washington. Bei Betty Ford wurde 1974 Brustkrebs diagnostiziert – wenige Wochen, nachdem ihr Mann Präsident der Vereinigten Staaten geworden war. (Ironischerweise wurde zwei Wochen später auch bei Happy Rockefeller, der Frau des Vizepräsidenten, Brustkrebs festgestellt.) Betty Ford redete sehr freimütig über ihre Diagnose. Bis dahin war kaum öffentlich über Brustkrebs gesprochen worden. Angeblich war sie die erste Prominente, die ihren Brustkrebs mit der Welt teilte und öffentlich für die Früherkennung eintrat.
Die Publicity rund um ihren Krebs gab der müden Kampagne für die Teilnahme am Mammografieprogramm des Nationalen Krebsinstituts und der Amerikanischen Krebsgesellschaft einen enormen Schub. Kurz gesagt, im Jahr 1974 unterzogen sich viele Frauen zum ersten Mal einer Mammografie, und die Zahl der Krebsdiagnosen schnellte nach oben. Der Betty-Ford-Effekt erinnert uns nachhaltig daran, dass die Zahl der Krebsfälle, die wir finden, davon abhängt, wie intensiv wir suchen.

Abbildung 6.2 Neue Diagnosen und Brustkrebs-Todesfälle in den Vereinigten Staaten von 1973 bis 2005
Schauen wir uns nun das Gesamtbild näher
an. Als die Mammografie in den siebziger und achtziger Jahren
eingeführt wurde, erhöhte sich die Zahl der Brustkrebsdiagnosen um
rund 50 Prozent. Ein Teil dieses
Anstiegs könnte auf einer echten Zunahme der Erkrankungen beruhen.
Mögliche Ursachen dafür waren zusätzliche Risikofaktoren wie
spätere Schwangerschaften und die häufigere Anwendung der
Hormonersatztherapie. Aber die meisten Forscher, die das Phänomen
zu erklären versuchten, räumten ein, dass die Mammografie dabei
eine große Rolle spielte.23 (Die
neuerdings sinkende Beteiligung
an der Mammografie könnte der Grund für den Rückgang der Neudiagnosen nach 2000 sein,
ebenso die seltenere Anwendung der Hormonersatztherapie.)
Es gibt noch mehr Hinweise auf Überdiagnosen, aber diese können Sie auf der Abbildung nicht sehen. Bei vielen neuen Diagnosen handelt es sich um duktale Karzinome in situ (Oberflächenkarzinome in den Milchgängen), abgekürzt DCIS. Ein DCIS ist ein winziger Brustkrebs, der sich im Gegensatz zum invasiven Brustkrebs nicht über den Milchgang hinaus ausgebreitet hat. Im Grunde gibt es nur eine Möglichkeit, die Diagnose »DCIS« zu bekommen: mithilfe einer Mammografie. Manche Ärzte glauben, dass sich daraus meist ein invasiver Krebs entwickelt; andere sind der Ansicht, dass das bei weniger als einem Drittel der Fall ist.24 Die klinische Realität aber sieht so aus: Wir behandeln DCIS fast ebenso aggressiv wie den invasiven Brustkrebs.
Nur eine der zehn randomisierten Studien zur Mammografie liefert Informationen darüber, ob es sich lohnt, winzige Brustkarzinome wie DCIS aufzuspüren: die zweite kanadische Studie, an der sich Frauen im Alter von fünfzig bis neunundfünfzig Jahren beteiligten. Bei den Mitgliedern der Kontrollgruppe wurde die Brust jedes Jahr klinisch untersucht. Dabei handelte es sich um eine sehr gründliche Untersuchung, die sorgfältig standardisiert wurde, fünf bis fünfzehn Minuten dauerte und meist von speziell ausgebildeten Krankenschwestern vorgenommen wurde. Die Mitglieder der Interventionsgruppe wurden einmal jährlich nach den gleichen Standards klinisch untersucht und unterzogen sich zusätzlich einer Mammografie. Hier wurde also in Wirklichkeit der zusätzliche Nutzen der Mammografie im Vergleich zur gründlichen klinischen Untersuchung getestet. Mit anderen Worten: Die Forscher prüften, ob die Entdeckung von nicht tastbaren Anomalien einen zusätzlichen Nutzen hat. Es gab jedoch keinen Unterschied bei der Brustkrebssterblichkeit in den beiden Gruppen. Meiner Meinung nach erteilt uns diese kanadische Studie eine wertvolle Lektion: Die Diagnose von Brustkarzinomen, die so klein sind, dass man sie nicht ertasten kann – so wie die meisten DCIS –, hat keinen offensichtlichen Nutzen.
Wichtig ist, dass Überdiagnosen sich nicht auf DCIS beschränken. Es gibt auch Überdiagnosen beim invasiven Brustkrebs. Vor einigen Jahren traf ich zwei norwegische Forscher, die sich eine sehr elegante Studie ausgedacht hatten, um dieses Problem zu untersuchen.25 Sie verglichen zwei Gruppen von Frauen, die in denselben Verwaltungsbezirken lebten und fünfzig bis vierundsechzig Jahre alt waren, in zwei aufeinanderfolgenden sechsjährige Perioden. Eine Gruppe, die aus 109 784 Frauen bestand, wurde von 1992 bis 1997 beobachtet. Gegen Ende der Periode wurden fast alle einmal geröntgt, da das nationale Vorsorgeprogramm 1996 begann. Diese Gruppe war die Kontrollgruppe. Die zweite Gruppe, die aus 119 472 Frauen bestand, wurde von 1996 bis 2001 beobachtet. Allen wurden drei Mammografien (alle zwei Jahre eine) als Teil des nationalen Programms angeboten, und fast alle nahmen daran teil. Diese Gruppe war die Testgruppe.
Die Wissenschaftler erwarteten, in beiden Gruppen ungefähr gleich viel invasive Brustkarzinome zu finden, entweder am Ende der Periode oder früher. Abbildung 6.3 zeigt, was tatsächlich geschah: Bei den Frauen, die regelmäßig geröntgt wurden, war die Zahl der invasiven Brustkarzinome um 22 Prozent höher: 1909 von 100 000 Frauen erkrankten daran. Von den Frauen, die nicht regelmäßig zur Mammografie gingen, erkrankten 1564 an invasivem Brustkrebs. Obwohl es sich nicht um eine randomisierte Studie handelte, waren sich die Frauen in jeder Hinsicht erstaunlich ähnlich, abgesehen davon, dass die Mitglieder der Kontrollgruppe nur einmal geröntgt wurden, nämlich gegen Ende der sechs Jahre, während die Mitglieder der Interventionsgruppe im Laufe von sechs Jahren dreimal geröntgt wurden. Nach Ansicht der norwegischen Forscher – die ich teile – wurden durch die Mammografie während der Interventionsjahre einige invasive Brustkarzinome entdeckt, die bis zur abschließenden Mammografie verschwunden wären. Mit anderen Worten: Manche invasive Brustkarzinome bilden sich anscheinend zurück.
Überdiagnosen, sei es bei DCIS, sei es beim invasiven Krebs, sind ein echter Nachteil der Mammografie. Die betroffenen Frauen werden wegen Brustkrebs behandelt. Die Überdiagnose ist ein wichtiger Grund dafür, dass Frauen, die regelmäßig zur Mammografie gehen, nicht seltener, sondern häufiger operiert werden als Frauen, die sich am Mammografieprogramm nicht beteiligen. Aber betrachten Sie noch einmal Abbildung 6.2; sie spiegelt nicht nur Überdiagnosen wider. Die Zahl der Frauen, die an Brustkrebs sterben, geht zurück – seit 1990 um etwa 25 Prozent. Das ist eine gute Nachricht. Dank der randomisierten Studien wissen wir, dass die bessere Therapie ein wichtiger Grund für diesen Rückgang ist. Wirksam sind vor allem Tamoxifen und ähnliche Östrogenrezeptormodulatoren, die das Sterberisiko bei Brustkrebspatientinnen nachweislich um 30 Prozent verringern. Aber auch die Früherkennung spielt wahrscheinlich eine Rolle, besonders die Mammografie. Was die Mammografie anbelangt, müssen wir also abwägen; denn sie verringert zwar die Sterblichkeit beim Brustkrebs, führt aber auch zu Überdiagnosen.

Abbildung 6.3 Auswirkung einer regelmäßig vorgenommenen Mammografie auf die Zahl der entdeckten invasiven Brustkarzinome
Da Überdiagnosen sich nicht unmittelbar nachweisen lassen, ist es sehr schwierig, ihre Häufigkeit genau zu bestimmen. Zudem ist die Zahl der Überdiagnosen zweifellos unterschiedlich, je nachdem wann ein Radiologe eine Aufnahme für abnorm erklärt und wann er eine Anomalie als Krebs bezeichnet. Die einzige randomisierte Studie, die eine langfristige Verlaufsbeobachtung einschließt, stellte fest, dass tatsächlich eines von vier Karzinomen auf einer Überdiagnose beruht. Denken Sie daran, dass die meisten übrigen Karzinome ebenso gut behandelbar sind, wenn sie klinisch auffallen. Aber einigen wenigen Frauen wird geholfen, und zwar in erheblichem Ausmaß; denn sie entrinnen dem Tod durch Brustkrebs. Unsere besten Schätzungen der Vor- und Nachteile der Mammografie liegen innerhalb einer große Bandbreite: Auf eine Brustkrebspatientin, die vor dem Tod gerettet wird, kommen zwei bis zehn Frauen mit Überdiagnosen.
Das Problem mit den Überdiagnosen ist die Überbehandlung. Die Mammografie führt dazu, dass mehr Frauen eine Lumpektomie (brusterhaltende Entfernung eines kleinen Tumors), eine Brustamputation, eine Strahlentherapie oder eine Chemotherapie über sich ergehen lassen müssen. Das hat Iona Heath – Ärztin und Präsidentin des Royal College of General Practitioners (Berufsverband der britischen Allgemeinärzte) – dazu bewogen, Einladungen zur Mammografie »fröhlich auszuschlagen«. Sie versteht das Anliegen des Vorsorgeprogramms, und sie weiß sehr gut, wie schrecklich Brustkrebs sein kann; denn sie hat Frauen daran sterben sehen. Aber sie weiß auch, dass die Mammografie diese Situation kaum ändern kann und echte Nachteile hat.
Sie fasst die Daten der Cochrane Reviews so zusammen:
»Die Metaanalyse deutet darauf hin, dass von 2000 Frauen, die zehn Jahre lang zur Mammografie eingeladen werden, eine vor dem Tod durch Brustkrebs gerettet werden kann und dass bei zehn gesunden Frauen fälschlich Brustkrebs diagnostiziert wird. Man schätzt, dass diese Überdiagnosen zu sechs zusätzlichen Tumoroperationen und vier zusätzlichen Brustamputationen führen und dass 200 Frauen mit erheblichen seelischen Störungen rechnen müssen, weil die zusätzlichen Untersuchungen wegen einer Anomalie auf der Mammografie Angst auslösen.«
Iona Heath fürchtet, dass sie ihren Entschluss, nicht mehr an der Mammografie teilzunehmen, auf der Grundlage von Informationen gefasst hat, die ihren Patientinnen kaum zugänglich sind.
Wenn Sie Nichtraucherin sind, ist Brustkrebs die Krebsart, über die Sie sich die meisten Gedanken machen sollten. Lassen Sie einen neuen Knoten in der Brust mit einer diagnostischen Mammografie untersuchen. Die meisten Frauen mit Brustkrebs werden geheilt (glücklicherweise auch meine Frau). Einige sterben jedoch daran. Deshalb ist es sicherlich vernünftig, über eine Vorsorgeuntersuchung nachzudenken, um die Brustkrebssterblichkeit zu senken. Aber die Mammografie erhöht eine andere Gefahr: die Gefahr von Überdiagnosen.
Es ist schwierig, sich vernünftig über die Mammografie zu unterhalten. Viele Ärzte und Behörden glauben, die Öffentlichkeit komme mit der Tatsache nicht zurecht, dass die Mammografie einigen nützt und anderen schadet. Sie fürchten, die Frauen von der Teilnahme an der Untersuchung abzuschrecken. Das könnte erklären, warum keines der öffentlich geförderten Vorsorgeprogramme in sieben europäischen Ländern in seinen Informationsbroschüren das Risiko der Überdiagnose erwähnt.27 Aber wer dieses Problem vertuscht, verschärft es. Wenn die Bevölkerung nichts von den Überdiagnosen erfährt, verschlimmern wir das Problem mit vereinten Kräften. Radiologen prüfen die Röntgenbilder genauer, Pathologen untersuchen die Gewebeproben gründlicher – nicht weil sie Überdiagnosen fürchten, sondern weil sie fürchten, einen Krebs zu übersehen. Ärztezeitschriften ziehen daraus automatisch den Schluss, dass der beste Test immer derjenige ist, der mehr Krebsfälle aufdeckt, nicht weniger. Das Gleiche gilt für die Nachrichtenmedien.
Natürlich gelten diese Bedenken für die Krebsfrüherkennung im Allgemeinen. Ermutigend ist immerhin, dass die Erfahrungen mit dem Prostatakrebs die Haltung der Experten allmählich zu ändern scheinen. Wahrscheinlich hat keine Organisation sich in der Vergangenheit so sehr für die Vorsorgeuntersuchung eingesetzt wie die Amerikanische Krebsgesellschaft. Aber ihr derzeitiger Leiter spricht das unvermeidliche Problem der Überdiagnosen häufig an, sowohl gegenüber den Ärzten als auch in der Öffentlichkeit. Die Centers for Disease Control (die Seuchenschutzbehörde der USA) räumen in ihrem Leitfaden für die Vorsorgeuntersuchung bei Prostatakrebs neuerdings Überdiagnosen ein. Und das amerikanische Nationale Krebsinstitut informiert Ärzte und Patienten über das Problem der Überdiagnosen bei einigen Krebsvorsorgeuntersuchungen. Ich bin vorsichtig optimistisch und gehe davon aus, dass die Diskussion über die Mammografie bald ausgewogener wird.
Wenn es so kommen sollte, frage ich mich, ob wir zu einer weiteren randomisierten Studie bereit sind. Ich glaube, wir könnten Überdiagnosen (und die Häufigkeit von Fehlalarm) verringern und dennoch die Sterblichkeit senken, wenn wir weniger intensiv nach Brustkarzinomen suchen würden. Die zweite kanadische Studie belegt, dass die Mammografie als Vorsorgeuntersuchung gegenüber einer sorgfältig standardisierten körperlichen Untersuchung der Brust keinen Vorteil hat. Doch in der Praxis ist es viel einfacher, die Untersuchungsmethoden relativ weniger Radiologen zu standardisieren als die Methoden sehr vieler Allgemeinärzte (die zudem wenig Zeit haben). Darum würde ich gerne eine Studie sehen, die unsere heutige Mammografiepraxis mit einer konservativeren Vorgehensweise vergleicht: Wie wäre es, wenn wir eine Mammografie nur als krebsverdächtig einstufen und nur dann eine Biopsie vornehmen würden, wenn die entdeckte Anomalie aller Wahrscheinlichkeit nach ertastet werden könnte (das heißt, größer als etwa einen Zentimeter wäre)?28
Die Krebsvorsorgeuntersuchung – die gezielte Suche nach Krebs im Frühstadium bei Gesunden – führt zu vielen Überdiagnosen. Doch manchmal stolpern wir auch über ein Karzinom, wenn wir gar nicht danach suchen.