Kapitel 3
Wir können mehr sehen
Wie apparative Untersuchungen Ihnen Gallensteine, Knorpelschäden im Knie, Bandscheibenvorwölbungen, Bauchaortenaneurysmen und Blutgerinnsel anhängen
Die Unterscheidung zwischen anormal und normal kann recht willkürlich sein. Sie hängt oft von einer einzigen Zahl ab, für die sich die Ärzte entschieden haben. Wenn Ihr Nüchternblutzucker 126 beträgt, haben Sie Diabetes, wenn er 125 beträgt, haben Sie keinen. Viele unserer Diagnosen basieren jedoch nicht auf Zahlen, sondern auf dem, was wir sehen. Früher hätte ich gesagt: was wir mit dem bloßen Auge sehen. Heute haben verschiedene bildgebende Verfahren die Situation drastisch verändert. Röntgenapparate, Ultraschallgeräte, Computertomografen (CTs), Positronen-Emissions-Tomografen (PETs) und Kernspintomografen (MRTs) sind wunderbare Geräte. Mithilfe von Strahlung, Schallwellen, Magnetfeldern und elektrischer Energie können diese Scanner anatomische Strukturen detailliert abbilden. Leistungsfähige Computer digitalisieren die Daten und ermöglichen dreidimensionale Rekonstruktionen der Bilder, die man vergrößern und drehen kann. So können Ärzte die Dimensionen anatomischer Strukturen, die Stoffwechselaktivität des Gewebes und die Durchblutung präzise messen. Und die Auflösung dieser Bilder wird jedes Jahr besser.
Bildgebende Verfahren helfen uns sehr, Anomalien zu finden, die Menschen krank machen. Aber sie sind auch immer häufiger in der Lage, Anomalien bei Menschen zu entdecken, denen es gut geht. Die Mechanismen sind anders als im vorigen Kapitel, das Problem ist das gleiche. Werden Anomalien anhand von Zahlen definiert, ändern Ärzte die Regeln. Werden Anomalien anhand der »Sehfähigkeit« der Ärzte definiert, ändern technische Apparate die Regeln. Aber das Endresultat ist das gleiche: mehr Diagnosen und mehr Patienten. Manchen wird vielleicht geholfen, andere werden Opfer von Überdiagnosen – das heißt, ihnen wird mitgeteilt, man habe bei ihnen eine Anomalie festgestellt; aber von dieser Anomalie ist nicht zu erwarten, dass sie sich verschlimmert, Symptome verursacht oder zum Tod führt.
Wir sehen zu viel
Während meines letzten Studienjahres hatte ich Gelegenheit, sowohl in hochtechnisierten akademisch-medizinischen Zentren (in San Francisco und Boston) als auch in technisch schlecht ausgestatteten ländlichen Krankenhäusern (in Alaska und Sambia) zu arbeiten. Das war eine prägende Erfahrung für mich. Der Sprung vom medizinischen Zentrum der University of California in San Francisco und dem Massachusetts General Hospital in Boston, die beide auf der Liste der besten Krankenhäuser des U.S. News & World Report stehen, zum Alaska Area Native Health Service und danach ins anglikanische Missionskrankenhaus in Katete, Sambia, zeigte mir, dass die Medizin unter verschiedenen Bedingungen sehr unterschiedlich praktiziert wird – teilweise beschränkt sie sich auf das, was möglich ist. Aber ich hatte nicht den Eindruck, dass die modernste Technik immer überlegen ist. Verstehen Sie mich nicht falsch; manchmal konnten wir Patienten dank bildgebender Verfahren eindeutig besser versorgen; doch es war ebenso klar, dass diese Techniken bisweilen Verwirrung stifteten, die Behandlung verzögerten und den Patienten schadeten. Selbst technisch rückständige Krankenhäuser nutzten allerdings in gewissem Umfang bildgebende Verfahren – Röntgengeräte gibt es fast überall –, und ich lernte auch, dass sogar ein einfaches Röntgenbild mitunter zu viel sieht.
Nach dem Studium arbeitete ich als Assistenzarzt abwechselnd in der Pädiatrie, in der Chirurgie, in der Geburtshilfe und in der inneren Medizin. Danach bekam ich eine Stelle im öffentlichen Gesundheitsdienst der USA und wurde in Bethel, Alaska, an der Küste der Beringsee als Amtsarzt eingesetzt. Nach zwei Jahren in Alaska arbeitete ich an mehreren anderen Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitsdienstes in den Kernstaaten der USA. Die eine war eine kleine Klinik mit drei Ärzten im Reservat Warm Springs in Zentral-Oregon. Im Wesentlichen leisteten wir die übliche Grundversorgung bei Bluthochdruck, Rückenschmerzen, kleinen Wunden, Geschlechtskrankheiten und natürlich Erkältungen. Viele Patienten klagten nicht nur über typische Symptome wie Halsschmerzen, Husten und laufende Nase, sondern auch über Nebenhöhlenbeschwerden. Diese Patienten schickten wir routinemäßig zum Röntgen. Ich war erstaunt (ehrlich gesagt auch frustriert) darüber, dass fast jede Aufnahme der Nebenhöhlen mit dem Vermerk »Sinusitis« zurückkam. Hatte wirklich jeder, der Schmerzen in den Nebenhöhlen spürte, eine Nebenhöhlenentzündung? Ich bat den Klinikdirektor, mir ein kleines Experiment zu erlauben – ich wollte meine Nebenhöhlen röntgen lassen. Er war einverstanden.
Ärzte, die sich röntgen lassen wollten, mussten ein Antragsformular ausfüllen. Ich fühlte mich wohl, trug aber in der Spalte »Grund des Antrags« ein, was ich in dieser Situation für einen Patienten eingetragen hätte: »33 Jahre alt, Nebenhöhlenschmerzen« (außerdem machte ich ein Kreuz im Kästchen »nicht schwanger«). Die Durchleuchtung war schnell, einfach und schmerzlos. Sechs Tage später erhielt ich die Stellungnahme des Radiologen (die Filme wurden in ein etwa achtzig Kilometer entferntes Krankenhaus gebracht, wo er arbeitete; er prüfte sie, versah sie mit einem Kommentar und schickte sie dann zurück). Er schrieb, auf dem Bild sei »eine eiförmige Schwärzung am unteren Rand der linken Oberkiefernebenhöhle zu sehen. Seine Schlussfolgerung? Es könnte sich durchaus um einen Polypen als Folge einer chronischen Oberkiefersinusitis handeln.« Wenn Ihnen nicht klar ist, was das bedeutet, machen Sie sich keine Sorgen – mir war es ebenfalls nicht klar. Aber es hörte sich nicht gut an.
Das war vor über zwanzig Jahren. Ich habe nie Nebenhöhlenbeschwerden gehabt, weder damals noch heute. Wenn ich tatsächlich einen Polypen habe, hat er mich kein einziges Mal belästigt. Offenbar war ich das Opfer einer Überdiagnose, und das auf der Grundlage eines schlichten Röntgenbildes.
Der Befund »Sinusitis« kam für mich völlig unerwartet. Ich hatte keine Symptome; die Anomalie war eine totale Überraschung. Überraschende Befunde sind, wie Sie sich denken können, häufig Überdiagnosen. Wenn Menschen Symptome aufweisen, sind die Anomalien, die unsere Diagnosetechnik entdeckt, möglicherweise keine völlige Überraschung, aber sie können dennoch zweifelhaft sein. Vielleicht erklären die Anomalien die Symptome, vielleicht nicht. Genau das ärgerte mich in der Klinik Warm Springs. Bei allen meinen Patienten mit Erkältungssymptomen schienen die Röntgenbilder der Nebenhöhlen Anomalien zu zeigen. Aber war Sinusitis wirklich die Erklärung für ihre Symptome?
Die klassischen Symptome der Sinusitis überschneiden sich zu einem großen Teil mit denen des Schnupfens: laufende Nase, Niesen, Husten und Kopfschmerzen. Als ich in der Klinik Warm Springs arbeitete, basierte die Diagnose »Sinusitis« auf einem Symptomkomplex und dem Befund gewöhnlicher Röntgenaufnahmen. Heute benutzen wir Computertomografen. Sie können eine Menge Anomalien in den Nebenhöhlen feststellen. Wegen der Überschneidung der Symptome untersuchte eine Studie erkältete Menschen mit einem Computertomografen (CT), um herauszufinden, ob sie auch an Sinusitis litten. Die Forscher gaben eine Anzeige auf, die »Freiwillige mit einer frischen Erkältung« suchte, und einunddreißig junge Erwachsene meldeten sich.1 Jeder Teilnehmer hatte seit weniger als vier Tagen Erkältungssymptome gehabt, und jeder stimmte einer CT-Aufnahme seiner Nebenhöhlen zu. Die Ergebnisse waren verblüffend: Bei 87 Prozent (siebenundzwanzig von einunddreißig) der Freiwilligen war auf den Bildern eine Nebenhöhlenentzündung erkennbar. Mit anderen Worten: Wenn wir gründlich genug nachforschen, hat fast jeder, den ein Schnupfen plagt, auch Sinusitis.
Aber die meisten Ärzte würden sagen, dass Sinusitis und Schnupfen zwei verschiedene Diagnosen sind. Wir würden sagen: Erkältungen kommen viel häufiger vor und sind weniger gefährlich als Sinusitis, und die meisten erkälteten Menschen haben keine Sinusitis. Und wir behandeln beide Gruppen mit Sicherheit unterschiedlich: Nebenhöhleninfekte werden in der Regel mit Antibiotika behandelt, Erkältungen nicht. Aber eine CT-Aufnahme macht die Situation zweideutig. Wenn wir diese Diagnosetechnik verwenden, können wir offenbar bei den meisten erkälteten Menschen auch Sinusitis diagnostizieren. Aber das wäre eine Überdiagnose – der Zustand fast aller Studienteilnehmer normalisierte sich innerhalb von zwei Wochen, und keiner hatte Antibiotika bekommen.
Bei Erkältungen lassen nur wenige Ärzte eine CT-Aufnahme anfertigen; aber bei chronischen Nasenbeschwerden benutzen wir dieses diagnostische Instrument häufig. Immer mehr Hals-Nasen-Ohren-Ärzte verwenden in ihrer Praxis spezielle Nebenhöhlen-Tomografen (googeln Sie mal office sinus CT). Wenn ein einfaches Röntgenbild imstande ist, bei Menschen, die nicht einmal krank sind (so wie ich), eine chronische Sinusitis zu entdecken, kann man sich vorstellen, was eine CT-Aufnahme bei Menschen mit vagen Symptomen alles findet. Es überrascht daher nicht, dass die Computertomografie zu viel mehr Sinusitisdiagnosen führt.
Mehr sehen, mehr entdecken, mehr tun
Sinusitis ist nur ein Beispiel für ein allgemeines Problem. Unsere Diagnosetechnik ist derart ausgefeilt, dass wir mehr zweideutige und überraschende Anomalien entdecken. Beide können einen Kreislauf in Gang setzen: Weitere Tests – einschließlich neuer CT-Aufnahmen – enthüllen noch mehr zweideutige und überraschende Befunde. Und mehr Befunde führen letztlich zu mehr Behandlungen, obwohl viele auf Überdiagnosen beruhen.
Um diesen Kreislauf – mehr sehen, mehr entdecken, mehr tun – in Gang zu setzen, müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein: 1. Ärzte müssen den Computertomografen häufiger einsetzen (oder Tomografen mit höherem Auflösungsvermögen benutzen), und es muss 2. ein Reservoir von Anomalien geben, die der Tomograf finden kann.
Mehr CT-Schichtaufnahmen
Zweifellos machen wir jedes Jahr mehr CT-Aufnahmen, und deren Auflösung wird immer besser (ob das wirklich besser ist, überlasse ich Ihrem Urteil). Wissenschaftler haben durch Befragungen festgestellt, dass die Zahl der CT-Aufnahmen in den Vereinigten Staaten von rund drei Millionen im Jahr 1980 (damals waren Computertomografen noch ziemlich selten) auf über zweiundsechzig Millionen im Jahr 2006 gestiegen ist.3 Wenn das stimmt, würde sich jedes Jahr etwa einer von fünf Amerikanern einer Computertomografie unterziehen (natürlich wird bei manchen Leuten mehr als eine Aufnahme gemacht).
Die zuverlässigsten Daten liefert das Medicare-Programm, weil es die CT-Aufnahmen fast aller Amerikaner ab fünfundsechzig aktenkundig macht (und bezahlt). Und die verstärkte Nutzung der Computer- und Magnetresonanztomografie (MRT) setzte sich lange nach ihrer Einführung fort.4 Seit Anfang der neunziger Jahre hat sich die Zahl der CT-Aufnahmen des Kopfes pro Einwohner verdoppelt. Die Zahl der CT-Aufnahmen des Unterleibs hat sich verdreifacht, und die Zahl der CT-Aufnahmen des Brustkorbs hat sich verfünffacht. Die Magnetresonanztomografie (auch Kernspintomografie oder -untersuchung genannt) wird derzeit zwar seltener eingesetzt als die Computertomografie, aber die Zahl der MRT-Aufnahmen insgesamt steigt noch schneller: Gehirn-MRTs haben sich im gleichen Zeitraum vervierfacht, Wirbelsäulen-MRTs haben sich versechsfacht, und Hüft- und Knie-MRTs haben sich mehr als verzehnfacht.
Es besteht kein Zweifel: Wir scannen immer häufiger.
Ein riesiges Reservoir von Anomalien
Wenn wir mehr Anomalien finden, liegt das nicht nur daran, dass wir mehr scannen. Es muss ein Reservoir von Anomalien in der Bevölkerung geben, die wir mit solchen Tests entdecken können – Anomalien, von denen wir ansonsten nie erfahren hätten.
- • Gallensteine: Rund 10 Prozent aller Menschen ohne Symptome einer Gallenblasenerkrankung (zum Beispiel Schmerzen, Übelkeit oder Probleme mit fetten Speisen) haben Gallensteine, wenn man sie mit Ultraschall untersucht.5
- • Beschädigte Knieknorpel: Bei etwa 40 Prozent aller Menschen ohne Knieschmerzen oder frühere Knieverletzungen sind durch eine MRT Meniskusschäden feststellbar.6
- • Bandscheibenvorfall: Bei über 50 Prozent aller Menschen ohne Rückenschmerzen sind durch eine MRT Bandscheibenvorwölbungen feststellbar.7
Natürlich verschleiert diese knappe Übersicht einige wichtige Einzelheiten: Die Prozentsätze sind bei jüngeren Menschen niedriger und bei älteren höher (Gallensteine kommen bei jungen Frauen häufiger vor als bei jungen Männern). Beispielsweise werden nur bei 2 Prozent der Männer, die unter vierzig sind und keine Symptome haben, durch eine Ultraschalluntersuchung Gallensteine entdeckt, während 80 Prozent der über fünfzigjährigen Männer und Frauen ohne Symptome Bandscheibenschäden haben, wenn man eine MRT durchführt.
Selbst wenn Sie sich wohlfühlen, entdecken diese Scanner also eine Menge Anomalien bei Ihnen. Aber diese Anomalien lösen später nur selten Beschwerden aus. Moderne bildgebende Verfahren können zu vielen Überdiagnosen – und zu vielen unnötigen Gallenblasen-, Knie- und Rückenoperationen – führen.
Doch selbst wenn Sie tatsächlich Symptome haben, ist die Gefahr von Überdiagnosen durch bildgebende Verfahren beträchtlich. Angenommen, Sie haben Knieschmerzen, und eine MRT enthüllt einen Knorpelschaden – einen Riss im Meniskus. So wie es verführerisch sein mag zu behaupten, eine Sinusitis sei die Ursache von Nebenhöhlenbeschwerden, ist es auch sehr verführerisch, den Meniskusschaden für Ihre Schmerzen verantwortlich zu machen. Aber viele Menschen – immerhin 40 Prozent – ohne Knieschmerzen haben Meniskusrisse. Mit anderen Worten: Beschädigte Knorpel lösen oft keine Symptome aus. Es kann also durchaus sein, dass Ihr Meniskusschaden nicht die Ursache Ihrer Symptome ist, zumal es für Knieschmerzen noch viele andere Ursachen gibt: Arthritis, Sehnenentzündung und Muskelzerrungen, um nur einige zu nennen. Wenn der beschädigte Knorpel Ihre Symptome nicht verursacht, dann ist eine Diagnose, die das behauptet, eine Überdiagnose. Jetzt sehen Sie, warum Überdiagnosen ein Problem sind. Wenn ein Knorpelschaden die Ursache Ihrer Schmerzen ist, könnte eine arthroskopische Operation helfen; aber wenn Arthritis die Ursache ist, nützt ein solcher Eingriff überhaupt nichts und kann Ihnen sogar schaden.8
- 1. Die Existenz eines großen Reservoirs von beschädigtem Knorpelgewebe bei Menschen ohne Symptome macht also den Befund »beschädigter Knorpel« bei Menschen mit Symptomen fragwürdig. Vielleicht ruft der beschädigte Knorpel die Symptome hervor – vielleicht aber nicht.
- 2. Für Ärzte ist es sehr schwierig zu beurteilen, ob eine Anomalie tatsächlich die Ursache eines Symptoms ist. Im New England Journal of Medicine beschrieb ein Orthopäde vor Kurzem, wie er mit zweideutigen Befunden auf MRT-Aufnahmen des Knies umgeht.9 Er erklärte, ein beschädigter Knorpel sei mit größerer Wahrscheinlichkeit die Ursache der Schmerzen (und der Patient profitiere daher mit größerer Wahrscheinlichkeit von einer Operation), wenn der Patient jünger sei, erst seit relativ kurzer Zeit (gemessen in Monaten, nicht in Jahren) Schmerzen habe und das erste Auftreten der Schmerzen eindeutig auf eine Verletzung zurückführen könne. Aber er räumte auch ein, diese Richtlinien seien zu stark vereinfacht, es seien zahlreiche Feinheiten zu beachten, wenn man die Ursache irgendeines Symptoms bestimmen wolle, und Ärzte müssten ihre Entscheidungen letztlich auf ihr gesundes klinisches Urteil stützen. Die Medizin ist keine exakte Wissenschaft. Es ist oft unklar, was wir tun sollen.
Ein letztes Beispiel für das riesige Reservoir von Anomalien überraschte sogar mich. Es betrifft Schlaganfälle, die fast alle Ärzte für ziemlich dramatisch und eindeutig halten, wenn sie sich ereignen. Aber eine neuere Studie, in der Mediziner bei über zweitausend Menschen – ohne klinische Schlaganfalldiagnose – Gehirn-MRTs vornahmen, weckt Zweifel an diesen Annahmen. Die Teilnehmer waren Einwohner von Framingham in Massachusetts, die sich für die berühmte Framingham-Herzstudie gemeldet hatten. Diese noch laufende Studie gilt als eine der am besten konzipierten Studien, die Einwohner einer ganzen Stadt beobachtet – Menschen, die sich wohlfühlen. Die Forscher wollen herausfinden, bei wem Herz- und Gefäßkrankheiten auftreten, und dadurch mehr über Risikofaktoren erfahren.10
Was die MRTs dokumentierten, ist kaum zu glauben: Mehr als 10 Prozent dieser gesunden Teilnehmer hatten einen Schlaganfall erlitten. Die Forscher sprachen von stummen Schlaganfällen. Wie Abbildung 3.1 zeigt, steigt das Risiko, einen stummen Schlaganfall zu erleiden, mit dem Alter. Was mich wirklich verblüffte war die Feststellung, dass es bei 7 Prozent der Teilnehmer unter fünfzig Jahren Anzeichen für einen Schlaganfall gab. Das ist in der Tat unglaublich. Doch ob wir stumme Schlaganfälle behandeln sollten, ist eine andere Frage.
Das Reservoir von Anomalien in der allgemeinen Bevölkerung geht weit über Gallensteine, Schäden des Bewegungsapparates und Schlaganfälle hinaus. Vor einigen Jahren war die Begeisterung für Ganzkörper-CTs groß. Einige Radiologen richteten gewinnorientierte Privatkliniken ein, die detaillierte Bilder des Innenlebens gesunder Menschen anboten. Einer dieser Fachärzte, der mehr als zehntausend Personen gescannt hatte, bemerkte: »Tatsache ist, dass ich mit dieser modernen Technik noch keinen normalen Patienten gesehen habe.« Das dürfte stimmen. Vor Kurzem wurden im Rahmen einer Studie bei über tausend Menschen ohne Symptome Ganzkörper-CTs gemacht, und mehr als 86 Prozent wiesen mindestens eine Anomalie auf. Da im Verlauf der Studie so viele Anomalien entdeckt wurden – mehr als dreitausend –, kamen die Forscher zu dem Ergebnis, dass bei einem Teilnehmer im Durchschnitt 2,8 Anomalien vorlagen!12

Abbildung 3.1 Reservoir von stummen Schlaganfällen, durch MRT entdeckt
Bildgebende Verfahren entdecken immer mehr Anomalien und immer subtilere Abweichungen und verschieben so den diagnostischen Grad der Anomalien. Dadurch verringern sie zugleich die Bedeutung eines typischen Befundes. Mit anderen Worten: Je mehr wir sehen, desto weniger bedeutet die typische Anomalie, die wir entdecken. Unter den Anomalien, die nur dank der neuen bildgebenden Techniken feststellbar sind, befinden sich meist auch weniger schwere Abweichungen, die mit geringerer Wahrscheinlichkeit Symptome oder den Tod verursachen. Das Grundproblem verdeutlichte ein Experte für fraktale Geometrie, der die täuschend einfache Frage stellte: »Wie viele Inseln umgeben Großbritanniens Küste?«13 Es gibt keine einzige korrekte Antwort, denn die Antwort hängt davon ab, wie viele Inseln Sie sehen. Die Zahl der Inseln steigt mit der Auflösung der Karte, die man verwendet. Aber wenn die Zahl der Inseln dank besserer Auflösung steigt und viele bislang unentdeckte Inseln auftauchen, nimmt die durchschnittliche Größe der Inseln ab.
Prüfen Sie es mit Google Earth nach. Falls Sie England nicht mögen, können Sie versuchen, die Seen in Utah zu zählen. Auf einer Karte der Vereinigten Staaten sehen Sie nur einen See, und zwar einen großen: den Großen Salzsee. Vergrößern Sie nun die Karte. Jetzt sehen Sie zwei weitere Seen: den Utah-See bei Provo und den Bären-See an der Grenze zu Idaho bei Wyoming. Vergrößern Sie weiter. Plötzlich erscheinen zahlreiche Seen im Gebiet der Uinta Mountains, der Wasatchkette und des Aquarius-Plateaus. Aber diese Seen sind kleiner. Zoomen Sie weiter, und Sie finden noch mehr Seen. Aber einige von ihnen haben einen Durchmesser von etwa dreißig Metern und sind nur einen Meter oder einen halben Meter tief. Sind das noch Seen? Irgendwann müssen Sie sich mit der Frage auseinandersetzen, was ein See ist.14
Wenn Sie Zeit haben, wiederholen Sie die Übung in Minnesota …
Fallgeschichte: Bauchaortenaneurysmen
Da Ärzte immer mehr sehen können, entdecken sie immer häufiger Anomalien, die immer weniger bedeuten. Das ist eindeutig ein Problem in der klinischen Medizin, vor allem, wenn der Ernst eines Zustandes von der Größe einer Anomalie abhängt. Bauchaortenaneurysmen sind ein klassisches Beispiel dafür.
Die Aorta ist das größte Blutgefäß im Körper. Sie versorgt den Kopf, die Arme, den Verdauungskanal, die Nieren und die Beine mit Blut. Sie hat ihren Ursprung im Herzen, verläuft im Brustkorb nach oben, macht einen Bogen nach unten in den Bauch und endet, wenn sie sich in zwei Gefäße verzweigt, die jeweils ein Bein versorgen. Der Teil im Unterleib wird Bauchaorta genannt.
Wenn ein Teil eines Blutgefäßes aus irgendeinem Grund – zum Beispiel wegen Bluthochdruck – gestreckt und geschwächt wird, kann sich eine ballonförmige Wandausbuchtung, Aneurysma genannt, bilden. Reißt ein solches Aneurysma in der Bauchaorta, können ein erheblicher Blutverlust und ein plötzlicher Tod die Folge sein. Die Wahrscheinlichkeit dafür hängt unmittelbar von der Größe des Aneurysmas ab. Ein großes Aneurysma reißt leichter als ein kleines. Deshalb sollten Ärzte ein großes Aneurysma auf jeden Fall behandeln. Ob sich die Behandlung kleinerer Aneurysmen lohnt, ist ungewiss.
Früher wurden Bauchaortenaneurysmen vor allem durch Abtasten entdeckt – die Ärzte untersuchten den Unterleib der Patienten mit den Händen. Unter den günstigsten Bedingungen kann ein Arzt ein Aneurysma ertasten, das einen Durchmesser von nur fünf Zentimetern hat. Die Erfolgsquote variiert natürlich: Wenn Ärzte angewiesen werden, eine körperliche Untersuchung vorzunehmen und dabei nach einem Aneurysma Ausschau zu halten, entdecken sie es mit viel größerer Wahrscheinlichkeit, als wenn sie nicht danach suchen. Bei einer Routineuntersuchung muss die Anomalie auffälliger sein, damit sie ertastet wird. Heute werden allerdings die meisten Bauchaortenaneurysmen durch eine Ultraschalluntersuchung oder eine CT entdeckt, weil diese Schichtbilder Strukturen zeigen, die viel kleiner sind als drei Zentimeter (das ist der Durchmesser einer normalen Aorta). Ein Unterschied von zwei Zentimetern mag sich gering anhören, aber er ist bedeutsam.
Eine klassische Studie mit 201 Männern im Alter zwischen sechzig und fünfundsiebzig Jahren belegte, wie stark Ultraschalluntersuchungen sich auf die bekannte Zahl von Aneurysmen auswirken.15 Die Teilnehmer litten an Bluthochdruck und/oder Herzkrankheiten, gehörten also zu der Bevölkerungsgruppe, bei der Aneurysmen am häufigsten vorkommen. Bei körperlichen Untersuchungen wurden in dieser Gruppe fünf Aneurysmen gefunden, eine Ultraschalluntersuchung enthüllte achtzehn. Mit anderen Worten: In derselben Gruppe stieg die Zahl der Bauchaortenaneurysmen nach der Ultraschalluntersuchung um mehr als das Dreifache.

Abbildung 3.2 Zahl und Größe von Bauchaortenaneurysmen, die in derselben Gruppe von Männern gefunden wurden. Angewandt wurden zwei Methoden: körperliche Untersuchung und Ultraschall
Abbildung 3.2 zeigt das Ergebnis der Studie. Die meisten Aneurysmen, die bei einer körperlichen Untersuchung entdeckt wurden, waren relativ groß; deshalb war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie reißen würden. Natürlich entdeckt man solche Aneurysmen auch auf einem Ultraschallbild (Sonogramm) – aber man findet dort auch viele kleine Aneurysmen, bei denen die Gefahr einer Ruptur gering ist. Von den dreizehn Aneurysmen, die nur durch Ultraschalldiagnostik feststellbar waren, war eines groß (5 Zentimeter oder größer), vier waren mittelgroß (4 bis 5 Zentimeter), und acht waren klein (3,6 bis 4 Zentimeter). Für den Kliniker, der seine Patienten abtastet, hatten 2,5 Prozent dieser älteren Männer mit Bluthochdruck – die einer Hochrisikogruppe angehörten – ein Aneurysma, und die meisten Aneurysmen waren größer als 5 Zentimeter. Für den Facharzt, der mit Ultraschall untersuchte, ergab sich ein anderes Bild: In derselben Gruppe hatten 9 Prozent der Männer ein Aneurysma, und die meisten Aneurysmen waren kleiner als vier Zentimeter.
Die Auswirkungen der Ultraschalluntersuchung (und in geringerem Umfang der CT) auf das Vorkommen und die Größe von Bauchaortenaneurysmen erklären, warum die Zahl der Aneurysmen, die in der Mayo-Klinik in Rochester, Minnesota, gezählt wurden, zwischen 1950 und 1980 um das Siebenfache stieg. Am stärksten stieg die Zahl der kleineren Aneurysmen: um mehr als das Zehnfache.16 Etwa zweihunderttausend Amerikaner werden jedes Jahr mit Bauchaortenaneurysmen diagnostiziert, und fast alle Aneurysmen – rund 90 Prozent – erreichen nicht die Größe, ab der eine Operation empfohlen wird.17 Wenn wir moderne bildgebende Verfahren häufiger benutzen, finden wir also mehr Anomalien – aber kleinere. Die neu identifizierten Patienten gehören zu der Gruppe, bei der das Risiko für Komplikationen am geringsten und das Risiko für Überdiagnosen am höchsten ist.
Von der klassischen Diagnose zum Scannen
Dieses Prinzip gilt weit über Bauchaortenaneurysmen hinaus. Der Wechsel von der klinischen Untersuchung (Informationen aus der Krankengeschichte, Symptome und körperliche Untersuchung) zur Diagnosetechnik hat sich in verschiedenen Studien als sehr folgenreich erwiesen. Nehmen wir die Diagnose tiefer Venenthrombosen (Blutgerinnsel in den Beinvenen) als Beispiel. Diese Thrombosen kommen bei Menschen vor, die sich aus irgendwelchen Gründen wenig bewegen. Betroffen sind meist gebrechliche ältere Menschen, manchmal auch jüngere, die längere Zeit sitzen (zum Beispiel während eines Fluges nach Australien) oder wegen einer Verletzung im Bett liegen.
Große Blutgerinnsel führen zu geschwollenen, schmerzenden Beinen, kleine Gerinnsel lösen bisweilen weder Schmerzen noch Schwellungen aus. Studien mit Menschen, die bei Unfällen verletzt wurden, belegen, dass sich bei diesen Traumapatienten nur sehr selten große Gerinnsel bilden, die geschwollene, schmerzende Beine hervorrufen. Das gilt für klinische Untersuchungen. Werden Traumapatienten jedoch mit Duplex-Sonografie untersucht, findet man bei mehr als der Hälfte von ihnen Gerinnsel, wenn auch kleine.18 Seitdem wir Ultraschalluntersuchungen haben, ist das durchschnittliche Blutgerinnsel viel kleiner und viel weniger wichtig geworden.
Die schlimmste Folge einer tiefen Venenthrombose ist eine Lungenembolie: Ein Blutgerinnsel wird von einer Beinvene weggerissen, wandert zum Herzen und verstopft dann eine Lungenarterie. Infolgedessen gelangt zu wenig Sauerstoff ins Blut, und der Blutdruck sinkt drastisch. Das kann sogar zum Tod führen. (So erging es David Bloom, einem jungen NBC-Korrespondenten, der die amerikanischen Truppen beim Einmarsch in den Irak begleitete. Er war viele Stunden lang in einem Panzer gefahren.) Wie Sie sich denken können, beeinflussen bildgebende Verfahren auch die Zahl der festgestellten Lungenembolien. Relativ wenige Patienten mit Blutgerinnseln in den Beinen haben Atemprobleme, und bei klinischen Untersuchungen werden nur wenige Lungenembolien entdeckt. Aber mithilfe eines Ventilations-Perfusions-Scanners (damit werden Belüftung und Durchblutung der Lungen gemessen) findet man bei über 50 Prozent der Patienten mit Blutgerinnseln in den Beinen auch kleine Gerinnsel in den Lungen.19 Auch hier gilt: Wenn wir Scanner verwenden, wird das durchschnittliche Blutgerinnsel in den Lungen viel kleiner und viel weniger wichtig.
Die Einführung neuer bildgebender Verfahren mit hoher Auflösung hat die Zahl der diagnostizierten Lungenembolien weiter vergrößert. Die Ventilations-Perfusions-Diagnostik wurde durch die Spiral-CT ersetzt. Diese entdeckt ein Drittel mehr Gerinnsel in den Lungen von Patienten mit Blutgerinnseln in den Beinen.20 Die Folgen der vermehrten Nutzung der Spiral-CT waren dramatisch: In weniger als fünf Jahren stieg die Zahl der Menschen, bei denen in Pennsylvania eine Lungenembolie diagnostiziert wurde, um 34 Prozent.21 Die durchschnittliche Lungenembolie ist heute also noch geringfügiger und weniger wichtig als vor fünf Jahren.
Tabelle 3.1 fasst die Zahlen aus diesen Studien über Aneurysmen und Blutgerinnsel zusammen.
Tabelle 3.1 Folgen des Einsatzes diagnostischer Techniken auf die Zahl der festgestellten Anomalien
Anomalie (Situation) |
Häufigkeit der Anomalien, festgestellt durch |
Zunahme durch Scanner |
|
Klinische |
Scanner |
||
Bauchaortenaneurysmen (201 Männer mit hohem Risiko) |
2,5 % |
9 % (Bauch-Ultraschall) |
3,6-fach |
Blutgerinnsel im Bein (349 Traumapatienten) |
1 % |
58 % (Duplex-Ultraschall) |
58-fach |
Blutgerinnsel in den Lungen (44 Patienten mit Bein-Gerinnseln) |
16 % |
52 % (Ventilations-Perfusions-Scan) |
3,3-fach |
70 % (Spiral-CT) |
4,4-fach |
Was für Diagnosen galt, die auf numerischen Regeln basierten (zum Beispiel Bluthochdruck und Diabetes), gilt also auch für Diagnosen, die sich auf das stützen, was wir Ärzte sehen können. Da kleinere Anomalien seltener Symptome oder den Tod verursachen als größere, profitieren Menschen mit kleineren Anomalien weniger von einer Behandlung. Zudem ist die Zahl der Menschen mit kleineren Anomalien viel größer. Das alles erklärt, warum kleinere Anomalien häufiger zu Überdiagnosen führen.
Wenn Ärzte mehr sehen können, werden manche Entscheidungen viel schwieriger. Bisweilen ist es wirklich schwer herauszufinden, ob man festgestellte Anomalien behandeln sollte oder ob es besser gewesen wäre, wenn man sie gar nicht entdeckt hätte. In dieses Dilemma geraten wir Ärzte meist, wenn wir eine Tomografie verordnen, um ein Symptom besser einschätzen zu können – nicht, weil wir glauben, das Symptom deute auf eine Anomalie hin, sondern weil wir nicht wissen, was wir sonst tun sollen. Nennen Sie es eine »Schnüffeltour«. Wenn wir bei einer Schnüffeltour mehr sehen, kann Verwirrung die Folge sein. Sie führt oft zu zweideutigen Befunden – zur Entdeckung von Anomalien, die möglicherweise für die Symptome verantwortlich sind – und zu Überdiagnosen.
Vor etwa zehn Jahren hatte meine Mutter einen schlechten Tag. Sie war fast achtzig, aber im Großen und Ganzen robust (damals wanderte sie in den Bergen von Colorado), und ich hatte sie nie zuvor über einen schlechten Tag klagen hören. Sie konnte mir nicht sehr genau beschreiben, was sie damit meinte (und ich vermute, dass es ihr bei ihrem Arzt nicht besser ging). Sie konnte sich nicht sonderlich gut an diesen Tag erinnern. Sie sei eben »erschöpft«, erklärte sie – müde von Kopf bis Fuß und unfähig, klar zu denken. Sie bestritt, klare Symptome (Brustschmerzen, Taubheit, Benommenheit, Fieber, Übelkeit und so weiter) zu haben. Ein paar Tage später, als sie sich besser fühlte, ging sie zum Arzt. Dieser ließ ein Ultraschallbild ihrer Halsschlagadern anfertigen – der Arterien, die das Gehirn mit Blut versorgen. Ich glaube, er rechnete nicht wirklich damit, dass sie einen Schlaganfall oder auch nur einen Mini-Schlaganfall (eine transitorische ischämische Attacke – das ist der vorübergehende Zustand, der einen Schlaganfall ankündigen kann) gehabt hatte. Vermutlich klammerte er sich an einen Strohhalm und erwartete die üblichen Probleme alter Leute. Das kann ich ihm nicht verübeln – auch ich habe schon solche unlogischen Tests angeordnet.22
Aber bei der Untersuchung wurde eine Anomalie festgestellt: eine moderate Gefäßblockade an einer Halsseite. Ich bin sicher, dass der Befund nichts mit ihrem schlechten Tag zu tun hatte. Das behaupte ich sowohl wegen der Dauer der Symptome (zu lange für eine transitorische ischämische Attacke und zu kurz für einen echten Schlaganfall) als auch wegen ihres Charakters (nicht herdförmig, nur ein allgemeines Krankheitsgefühl). Nachdem sie und ich lange über die Vor- und Nachteile einer Operation diskutiert hatten (das ist eine sehr schwere Entscheidung bei Patienten, die wie meine Mutter keine Schlaganfallsymptome haben),23 beschloss sie, nichts zu tun.
Das war vor über einem Jahrzehnt. Sie hatte nie einen Schlaganfall. Aber diese Diagnose blieb an ihr haften und wurde von anderen Ärzten, die sie seither behandelt haben, einige Male angesprochen. Manche empfahlen einen Eingriff, andere rieten ihr, Medikamente (nicht nur Aspirin) zu nehmen, wieder andere unterstützten ihren Entschluss, nichts zu tun. Der Befund war zweideutig. Und heute wissen wir, dass es sich fast mit Sicherheit um eine Überdiagnose gehandelt hat.
Was meine Mutter erlebte, geschieht immer wieder. Viele symptomlose Patienten haben irgendwelche Anomalien. Viele Menschen haben gelegentlich vage Bauchschmerzen. Wenn wir sie alle mit Ultraschall untersuchen, entdecken wir eine Menge Gallensteine. Aber wir werden auch feststellen, dass die meisten dieser Gallensteine nichts mit den Bauchschmerzen zu tun haben. Viele Menschen haben manchmal Knie- und Rückenbeschwerden. Wenn wir sie alle mit Kernspintomografen untersuchen, finden wir viele beschädigte Knorpel und Bandscheibenvorwölbungen. Aber wir werden auch feststellen, dass die meisten Anomalien nicht an den Knie- und Rückenbeschwerden schuld sind. Und viele Menschen haben schlechte Tage.
Relativ wenige Menschen werden für krank erklärt, wenn Ärzte sie äußerlich untersuchen; aber relativ viele gelten als krank, nachdem Scanner ihr Inneres durchleuchtet haben. Die Aufnahmen der Ultraschallgeräte und der Computer- und Magnetresonanztomografen sind eindrucksvoll. Ärzte können darauf Anomalien aller Art sehen. Das Problem ist, dass wir zu viel sehen. Vielen Menschen wird heutzutage mitgeteilt, sie hätten Bauchaortenaneurysmen, Sinusitis, Bandscheibenvorfälle oder -vorwölbungen, Knieschäden, Schlaganfälle oder Blutgerinnsel in den Lungen und Beinen, was früher niemals diagnostiziert worden wäre. Wenn wir die Grenzwerte – zum Beispiel für den Blutdruck – ändern, schreiben wir gewissermaßen die Medizingesetze um. Wenn bildgebende Techniken die Regeln ändern, sind die Folgen willkürlicher: Ärzte haben unterschiedliche Gewohnheiten, was solche Untersuchungen anbelangt; sie interpretieren die Ergebnisse unterschiedlich und geben auf der Grundlage der Resultate unterschiedliche Empfehlungen. Manchen Patienten kann der technische Fortschritt zweifellos helfen. Aber er fordert auch seinen Tribut – denn anderen wird gesagt, sie hätten Anomalien, obwohl diese Anomalien geringfügig sind und nie Symptome verursachen werden. Diesen Menschen nützt eine Behandlung nichts; sie kann ihnen nur schaden. Das Problem ist noch größer, wenn wir Gesunde systematisch ermutigen, sich vorsorglich untersuchen zu lassen, um herauszufinden, ob sie tatsächlich krank sind. Und wenn Ärzte an Vorsorgeuntersuchungen denken, geht es meist um Krebs.