Kapitel 2
Wir ändern die Regeln
Wie Zahlen geändert werden, damit Sie Diabetes, einen hohen Cholesterinspiegel und Osteoporose bekommen
Wie Sie im vorigen Kapitel gesehen haben, wird Bluthochdruck anhand von Zahlen definiert. Wenn Ihr Blutdruck einen bestimmten Wert übersteigt, haben Sie einen zu hohen Blutdruck. Wenn er unterhalb dieses Wertes bleibt, ist er nicht zu hoch. Aber Bluthochdruck ist nicht der einzige körperliche Befund, der mithilfe von Zahlen definiert werden kann, es gibt noch viele weitere Diagnosemöglichkeiten, nur weil Sie sich auf der falschen Seite eines Grenzwertes befinden – einerlei, ob Sie Symptome haben. Diabetes wird mithilfe einer Zahl für den Blutzuckerspiegel definiert; Hyperlipidämie wird anhand einer Zahl für das Cholesterin definiert; und Osteoporose wird mithilfe einer Zahl für die Knochendichte (Z-Wert genannt) definiert. Natürlich versuchen die Ärzte in allen diesen Fällen, Symptomen vorzubeugen. Wir wollen eine frühe Diagnose stellen, um negative Folgen zu verhindern, zum Beispiel die Amputation eines Beines oder Erblindung durch Diabetes, Herzinfarkte und Schlaganfälle bei zu hohem Cholesterinspiegel oder Handgelenks- und Hüftbrüche bei Osteoporose. Doch immer, wenn wir Diagnosen stellen, ehe es zu Symptomen kommt, droht eine Überdiagnose. Manche Menschen, bei denen Diabetes, ein hoher Cholesterinspiegel oder Osteoporose diagnostiziert wird, werden nie Symptome bekommen und nie allein wegen ihrer Veranlagung sterben. Das gilt besonders für jene, bei denen die Anomalien gering sind.
Die numerischen Regeln, mit denen Krankheiten definiert werden, sind durchaus wichtig. Sie bestehen meist aus einer einzigen Zahl. Wenn Sie diesen Wert nicht erreichen, gelten Sie als gesund; wenn Sie ihn erreichen, gelten Sie als krank. Diese Zahlen – Schwellen- oder Grenzwerte genannt – bestimmen, wer krank ist und wer gesund ist, wer behandelt wird und wer nicht. Und sie bestimmen, wie häufig Überdiagnosen vorkommen.
Grenzwerte werden von medizinischen Expertengremien festgelegt. Ich wollte, ich könnte sagen, dass deren Entscheidungen allein auf wissenschaftlichen Fakten beruhen. Aber sie sind willkürlicher: Sie enthalten Werturteile und berücksichtigen sogar finanzielle Interessen. Die Fachleute, die über Grenzwerte entscheiden, haben bestimmte Vorstellungen davon, was wichtig ist. Und weil diese Ärzte sich intensiv mit den Krankheiten beschäftigen, auf die sie spezialisiert sind, glaube ich, dass sie bisweilen das große Ganze aus den Augen verlieren. Sie wollen alles tun, was sie können, um die negativen Folgen einer Krankheit zu verhindern. Am Wichtigsten ist es ihnen, niemanden zu übersehen, der möglicherweise von einer Diagnose und Behandlung profitieren könnte. Darum neigen sie dazu, Grenzwerte so zu setzen, dass viele Menschen als abnorm gelten. Und sie neigen dazu, das Hauptproblem dieser Strategie entweder zu ignorieren oder herunterzuspielen: die Behandlung von Menschen, die nichts davon haben.
In den letzten paar Jahrzehnten wurden viele Grenzwerte so geändert, dass die Zahl der Menschen, die als krank gelten, drastisch gestiegen ist. Das bedeutet, dass mehr Diagnosen gestellt werden. Selbst wenn dies in bester Absicht geschieht – negative Ereignisse häufiger zu verhindern –, kann es unerwünschte Folgen haben: mehr Überdiagnosen.
Gute Absichten mit bösen Folgen
Dies ist keine fröhliche Geschichte. Mr. Roberts war ein vierundsiebzig Jahre alter Mann, dessen größtes gesundheitliches Problem Colitis ulcerosa war, eine Entzündung des Dickdarms. Zu den Symptomen dieser Krankheit gehören starke Bauchschmerzen und Durchfall. Außerdem ist das Darmkrebsrisiko erhöht. Weil seine Krankheit sehr ernst war, wurde ein Teil seines Dickdarms operativ entfernt. Danach hatte er zwar häufig Stuhlgang, aber er kam damit ganz gut zurecht.
Eines Tages wurde bei einem Routinetest ein erhöhter Blutzuckerspiegel gemessen. Er war nicht sehr hoch, aber der Befund zog weitere Tests nach sich. Diese bestätigten die Diagnose: Diabetes. Er hatte Diabetes vom Typ 2, der meist bei älteren Erwachsenen auftritt (während der Typ 1 gewöhnlich schon in der Kindheit ausbricht). Er hatte zwar keine Diabetessymptome, aber seit einigen Jahrzehnten bekämpften die Ärzte Diabetes bereits im Frühstadium viel aggressiver; darum verordnete ihm der Hausarzt Glibenclamid, ein Medikament, das den Blutdruck senkt. Er sprach gut auf das Medikament an.
Sechs Monate später verlor er während einer Fahrt mitten auf der Autobahn das Bewusstsein, sein Wagen kam von der Straße ab und überschlug sich. Er brach sich den sechsten und siebten Halswirbel. Die Sanitäter ermittelten noch am Unfallort seinen Blutzuckerspiegel – er war sehr niedrig. Das Medikament war zu wirksam gewesen. Ich möchte nicht der Arzt sein, der es ihm verschrieben hat.
Aber ich war dieser Arzt. Ich weiß nicht genau, was passiert ist. Ich hatte ihm die übliche Anfangsdosis verordnet, und er hatte sie fast ein halbes Jahr lang gut vertragen. Vielleicht hatte er an diesem Tag nicht normal gegessen; vielleicht hatte er Grippe oder ein Magenvirus. Ich weiß es nicht.
Mr. Roberts war über einen Monat im Krankenhaus. Als ich ihn in der Ambulanz traf, trug er einen Halofixateur. Das ist ein Metallring, der den Hals umschließt, ganz ähnlich wie eine Hutkrempe, nur dass der Halo nicht auf dem Kopf sitzt, sondern mit Nadeln am Schädel befestigt wird. Zwei mit ihm verschraubte Metallstäbe reichen bis zu den Schultern und sind mit einer eng sitzenden Kunststoffjacke verbunden. Dieses Korsett stellt den Hals ruhig und streckt ihn, so dass der Bruch heilen kann. Ich fühlte mich schrecklich. Und selbstverständlich setzte ich die Glibenclamid-Therapie nicht fort.
Mr. Roberts ist jetzt neunzig und immer noch mein Patient. Seit dem Unfall wird er nicht mehr wegen Diabetes behandelt, und er leidet auch nicht an Komplikationen. Ich glaube, er war das Opfer einer Überdiagnose. Aber er hatte Glück und erlitt keine dauerhaften Schäden. Von den Folgen der unnötigen Behandlung hat er sich vollständig erholt. Aber ich bin nicht sicher, ob ich mich davon erholt habe.
Wer hat Diabetes?
Diabetes kann eine sehr schwere Krankheit sein. Manche Patienten – meist Kinder – werden das allererste Mal medizinisch behandelt, weil sie das Bewusstsein verloren haben. Sie befinden sich in einem diabetischen Koma. Ihr Blutzuckerspiegel kann um das Zehnfache erhöht sein; ihr Kaliumspeicher ist extrem klein, und ihre Körperflüssigkeiten sind gefährlich sauer (wir nennen das metabolische Azidose). Ohne Behandlung sterben sie.
Die Behandlung eines Patienten im diabetischen Koma ist eine der dankbarsten Erfahrungen in der Medizin. Wenn der Patient eingeliefert wird, ist er dem Tod nahe, und etwa zwei Tage später fühlt er sich im Allgemeinen wieder wohl. Alles, was er braucht, ist viel Flüssigkeit, intravenös verabreicht, etwas Kalium und das Hormon, das ihm fehlt – Insulin. Insulin ist das Hormon, das den Zucker aus dem Blut in die Zellen befördert. Wird es zusammen mit der Flüssigkeit und dem Kalium verabreicht, normalisieren sich der Blutzucker und das Säure-Basen-Gleichgewicht. Wichtiger noch: Der Patient wacht auf. Das muss man gesehen haben.
Aber was ich eben beschrieben habe, ist im Grunde die seltenere Form des Diabetes, nämlich der Typ 1. Patienten mit Typ 2, der viel häufigeren Form, sind meist erwachsen und haben reichlich Insulin. Ihr Problem ist, dass das Insulin nicht wirkt, weil der Körper dagegen resistent geworden ist. Diese Patienten haben oft Übergewicht (daher ist Gewichtsabnahme die beste Therapie). Zwar führt dieser Diabetestyp in der Regel nicht zu einem diabetischen Koma, aber er kann dennoch eine sehr schwere Krankheit sein. Jede Form von Diabetes kann schwere Folgen haben, darunter Erblindung, Nierenversagen, Herzkrankheiten, schlechte Wundheilung und Entzündungen der Beine, die eine Amputation erforderlich machen. Aber Diabetes vom Typ 2 kann auch völlig unsymptomatisch sein. Wie beim Bluthochdruck gibt es also auch beim Diabetes einen Grad der Anomalie. Bei manchen Diabetikern treten die erwähnten Komplikationen auf, bei anderen nicht. Wir wissen zwar nie genau, wer diese anderen sind, aber sie wurden Opfer einer Überdiagnose.
Wie entscheiden wir also, wer Diabetiker ist? Als ich studierte, lautete unsere numerische Regel: Wer einen Nüchternblutzucker über 140 hat, ist Diabetiker. Doch im Jahr 1997 definierte ein Expertengremium der amerikanischen Diabetesgesellschaft (das Expert Committee on the Diagnosis and Classification of Diabetes Mellitus) die Krankheit neu.1 Jetzt haben Sie Diabetes, wenn Sie einen Nüchternblutzuckerspiegel über 126 haben (derselbe Grenzwert gilt für Deutschland). Vorher galt jeder als normal, dessen Blutzuckerspiegel zwischen 126 und 140 lag; heute ist er Diabetiker. Diese kleine Veränderung machte mehr als 1,6 Millionen Amerikaner zu Patienten.2
Ist das ein Problem? Vielleicht. Da wir die Regeln geändert haben, behandeln wir jetzt mehr Menschen wegen Diabetes. Das kann bedeuten, dass wir das Risiko für diabetische Komplikationen bei einigen dieser neuen Patienten verringert haben. Weil diese Patienten aber an einem milderen Diabetes leiden (relativ niedriger Blutzucker zwischen 126 und 140), ist dieses Risiko bei ihnen ohnehin geringer.
Deshalb haben Menschen mit leicht erhöhtem Blutzuckerwert ähnlich wie Menschen mit relativ leichtem Bluthochdruck von einer Behandlung weniger zu erwarten.
Abbildung 2.1 zeigt, wie sich die Neudefinition des Diabetes – der Grad der Anomalie wurde nach unten verschoben – auf den Nutzen der Behandlung auswirkt. Meinem Lektor fiel auf, dass diese Abbildung fast so aussieht wie die im ersten Kapitel. Das stimmt natürlich. Aber genau das ist der Punkt. Die in der Abbildung dargestellte Beziehung gilt auch für die anderen Krankheiten in diesem Kapitel: Sie brauchen nur den »leichten Diabetes« und den »schweren Diabetes« an den Polen des Grades durch »fast normaler Cholesterinspiegel« und »sehr hoher Cholesterinspiegel« oder durch »leichte Osteoporose« und »schwere Osteoporose« zu ersetzen, und Sie verstehen, worum es geht.
In der Tat gilt diese Beziehung für jede medizinische Maßnahme. Wenn wir die Behandlung auf Menschen mit immer milderen Anomalien ausweiten, profitieren diese immer weniger davon. Die doppelte Darstellung ist also Absicht – ich möchte, dass Sie sich dieses Prinzip gut einprägen.

Abbildung 2.1 Die Wirkung der Regeländerung für Diabetes
Schwere Anomalien sind etwas anderes. So wie es gefährlich ist, Bluthochdruck zu haben, ist es auch gefährlich, einen wirklich hohen Blutzuckerspiegel zu haben. Beide wollen wir senken. Aber vergessen Sie nicht, dass ein zu niedriger Blutdruck ebenfalls gefährlich ist – fragen Sie Mr. Roberts.
Eine neue randomisierte Studie der National Institutes of Health (Nationale Gesundheitsinstitute) ist ein drastischer Beleg für das allgemeine Problem.3 Die Forscher wollten herausfinden, ob eine deutliche Senkung des Blutzuckerspiegels das Risiko verringert, einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erleiden oder daran zu sterben. An der Studie beteiligten sich über zehntausend Diabetiker, deren Risiko hoch war. Etwa fünftausend wurden nach dem Zufallsprinzip ausgewählt und erhielten die Diabetes-Standardtherapie, die den Blutzucker zwar nicht normalisiert, aber auf ein eher akzeptables Niveau senkt. Die anderen fünftausend wurden intensiv behandelt; das heißt, man versuchte, ihren Blutzucker zu normalisieren. Die Hälfte dieser Patienten erreichte das Ziel: Ihr durchschnittlicher Blutzuckerspiegel sank unter 140.4 Da dieser Durchschnitt auch Messungen unmittelbar nach dem Essen enthielt (die meist hohe Werte ergeben), dürfen wir davon ausgehen, dass der Nüchternblutzuckerspiegel erheblich niedriger war.
Die Studie begann 2003 und sollte bis 2009 dauern. Aber am 6. Februar 2008 veröffentlichte das nationale Herz- Blut- und Lungeninstitut eine Presseerklärung, in der es hieß, die intensive Therapie werde »aus Sicherheitsgründen geändert«.5 Geändert war nicht das zutreffendste Wort; eingestellt wäre korrekter gewesen. Und die Sicherheitsgründe ergaben sich daraus, dass die Patienten, die eine intensive Therapie erhielten, häufiger starben als jene, die sich mit der Standardtherapie begnügen mussten. Nach drei Jahren waren 5 Prozent der Patienten mit Intensivtherapie gestorben, aber nur 4 Prozent der Patienten mit einer Standardtherapie. Das Sterberisiko war also um 25 Prozent gestiegen, und die Forscher waren davon überzeugt, dass es sich dabei nicht um ein statistisches Zufallsergebnis handelte. Es gab kaum einen Zweifel: Die Intensivbehandlung war schlimmer als die Standardbehandlung.
Vielleicht fragen Sie sich nun, warum die Normalisierung des Blutzuckers einen Patienten umbringen kann. Wahrscheinlich deshalb, weil wir den Blutzucker eines Patienten nicht einfach auf einen bestimmten Wert einstellen können; so präzise sind unsere Therapien nicht. Stattdessen springt der Blutzuckerspiegel hin und her, und wenn wir versuchen, ihn um den normalen Wert herumhüpfen zu lassen, springt er bisweilen zu tief. Und ein zu niedriger Blutzuckerspiegel erhöht das Sterberisiko. Die Forscher könnten einwenden, dass Hypoglykämie (ein niedriger Blutzuckerspiegel) nicht die Ursache des höheren Sterberisikos war. Aber sie räumen selbst ein, dass sie die erhöhte Sterblichkeit nicht erklären können. Im offiziellen Bericht schrieb der Hauptautor Hertzel C. Gerstein: »Trotz detaillierter Analyse ist es uns nicht gelungen, die genaue Ursache des erhöhten Sterberisikos in der Gruppe mit intensiver Blutzuckerstrategie zu finden … Unsere Analysen lassen vorläufig darauf schließen, dass kein bestimmtes Medikament oder eine Kombination von Medikamenten verantwortlich ist. Wir glauben, dass wahrscheinlich eine unbekannte Verbindung von Faktoren, die mit der gesamten medizinischen Strategie zu tun haben, im Spiel ist.« Meiner Ansicht nach hätten die Autoren, wenn die Sterblichkeit gesunken wäre, dies sofort der drastischen Senkung des Blutzuckerspiegels zugeschrieben (in diesem Fall mit Recht). Da die Studie jedoch eine erhöhte Sterblichkeit belegt, müssen wir diese Tatsache ebenfalls auf die Intensivtherapie zurückführen. Das ist schließlich der Sinn einer randomisierten Studie.
Was sagt uns diese Studie über den Grenzwert, der die Diagnose »Diabetes« rechtfertig? Meine Antwort lautet: Wenn es nicht gut ist, den Blutzucker von Diabetikern fast zu normalisieren, dann ist es auch nicht gut, Menschen zu Diabetikern zu erklären, deren Blutzucker fast normal ist. Warum? Weil Ärzte sie dann behandeln. Bei Menschen mit leicht erhöhtem Blutzucker ist die Chance, von einer Behandlung zu profitieren, am geringsten – und das Risiko, Schaden zu erleiden, wohl am größten, so wie bei Mr. Roberts.
Nicht nur Diabetiker sind betroffen
Hier geht es nicht nur um Diabetes. Die Neigung, den diagnostischen Grenzwert zu senken, besteht auch bei anderen häufigen Krankheiten, einschließlich Bluthochdruck. Vor 1997 haben viele Ärzte Menschen mit leichtem Bluthochdruck nicht behandelt. Obwohl das Joint National Committee on High Blood Pressure des amerikanischen Bundesgesundheitsministeriums empfahl, solche Menschen zu behandeln, räumte es ein, dass vernünftige Ärzte anderer Meinung sein könnten. »Wenn kein Zielorgan geschädigt ist (z. B. wenn kein Augen-, Nieren- oder Herzproblem vorliegt) und keine anderen wichtigen Risikofaktoren vorhanden sind, verzichten einige Ärzte möglicherweise auf eine Therapie mit blutdrucksenkenden Medikamenten.« Im Jahr 1997 schwenkte das Gremium jedoch um und empfahl dringend eine medikamentöse Therapie für alle Patienten mit leichtem Bluthochdruck, unabhängig von ihrem Risiko für Herzkrankheiten.6
In der Praxis bedeutete dieser Schritt eine Neudefinition des Bluthochdrucks, der eine pharmakologische Behandlung erforderte. Von nun an war eine Therapie bei einem diastolischen Blutdruck über 90 mmHg (anstatt 100) notwendig. Ein systolischer Blutdruck über 140 mmHg (anstatt 160) verlangte ebenfalls eine Behandlung (das entspricht den auch in Deutschland gültigen Werten der WHO für Bluthochdruck). Diese scheinbar kleine Veränderung hatte eine große Wirkung. Sie führte dazu, dass weitere dreizehn Millionen Amerikaner die Kriterien für eine Behandlung des Bluthochdrucks erfüllten.7
Das gleiche Muster wiederholte sich beim Cholesterin. Was ein »abnormer Cholesterinwert« ist, wurde seit meinem Examen so oft neu definiert, dass ich kaum noch mitkomme. Das Einzige, was konstant blieb, ist die Richtung der Änderungen – die Grenzwerte sanken immer tiefer. Unsere Bibel als Medizinstudenten war Harrison’s Principles of Internal Medicine (ich hatte die achte Auflage; inzwischen ist die siebzehnte auf dem Markt). Dieses Buch empfahl, nur Patienten mit einem Gesamtcholesterin über 300 zu behandeln.
Bald wurde die Bestimmung des Cholesterinwertes schwieriger. Wir konnten verschiedene Arten von Cholesterin messen: Cholesterin mit niedriger Dichte (englisch low-density cholesterol oder LDL, das »schlechte Cholesterin«) und Cholesterin mit hoher Dichte (high-density cholesterol oder HDL, das »gute Cholesterin«). Und nachdem das Cholesterin in Unterarten zergliedert worden war, konnten wir auch Verhältnisse berechnen: LDL zum HDL, LDL zum Gesamtcholesterin und so weiter. Dann wurden die Empfehlungen anhand der anderen Risikofaktoren für Herzkrankheiten (Rauchen, Bluthochdruck, frühere Herzinfarkte usw.) zurechtgetrimmt. Das war zum Teil sinnvoll – vor allem die aggressivere Therapie bei Patienten, die bereits Herzanfälle hinter sich hatten (sie profitieren am stärksten, wenn der Cholesterinspiegel gesenkt wird) –, aber die Folge war eine sehr komplexe Empfehlungsliste.
Trotzdem hatten sich Mitte der neunziger Jahre große Organisationen des Gesundheitswesens (zum Beispiel das Veteranenministerium, für das ich arbeite) darauf geeinigt, dass ein Wert über 240 mg/dl für das Gesamtcholesterin als abnorm galt und eine Therapie erforderte (die Grenzwerte sind altersabhängig, für Personen über 40 gilt dieser Grenzwert auch in Deutschland). Aber 1998 änderte eine große randomisierte Studie die Situation. Diese Studie der Air Force / Texas Coronary Atherosclerosis Prevention belegte, dass die Zahl der »größeren akuten koronaren Erstzwischenfälle« (tödliche und nicht tödliche Herzinfarkte, unstabile Angina und plötzlicher Herztod) sank, wenn der damals als normal geltende Cholesterinwert von 228 auf 184 (Durchschnittswerte) gesenkt wurde. Im Laufe von fünf Jahren trat bei etwa 5 Prozent der Patienten mit unbehandeltem normalem Cholesterinwert eines dieser Ereignisse ein. Wurde der normale Cholesterinwert behandelt, kam es nur bei 3 Prozent der Patienten zu einem derartigen Zwischenfall.8 Die Chance, von der Behandlung zu profitieren, betrug somit 2 Prozent (5 Prozent minus 3 Prozent).9 Wenn hundert Patienten fünf Jahre lang behandelt wurden, ging es also zwei von ihnen besser, den achtundneunzig anderen aber nicht.
Ganz plötzlich fiel der Grenzwert für anormales Gesamtcholesterin von größer 240 auf größer 200. Dieser Wandel betraf viele Menschen – zusätzliche zweiundvierzig Millionen »neue Fälle« mit zu hohem Gesamtcholesterinspiegel.10 Zweiundvierzig Millionen Menschen – das ist eine große Zahl. Vielleicht stellen Sie die berechtigte Frage, warum so viele Menschen betroffen waren. Abbildung 2.2 auf der nächsten Seite zeigt das Muster des Cholesterinspiegels bei amerikanischen Erwachsenen (Statistiker nennen das »Verteilung des Cholesterins in der Bevölkerung«). Ein Cholesterinspiegel von 200 liegt fast genau in der Mitte. Das ist ziemlich genau der Durchschnittswert für erwachsene Amerikaner. Wenn wir den Grenzwert so nahe an den Durchschnitt verschieben, verändert sich die Zahl der für krank erklärten Menschen drastisch.
Vielleicht ist Ihnen an Abbildung 2.2 noch etwas aufgefallen: Es gibt viel mehr Menschen mit einem Cholesterinspiegel zwischen 200 und 240 als mit einem Cholesterinspiegel zwischen 240 und 280. Und es gibt mehr Menschen mit einem Cholesterinspiegel zwischen 240 und 280 als solche mit einem Cholesterinspiegel zwischen 280 und 320. Mit anderen Worten: Ein leicht erhöhter Cholesterinspiegel kommt viel häufiger vor als ein stark erhöhter. Das gilt für jede in diesem Kapitel beschriebene Krankheit. Eine scheinbar kleine Veränderung des Grenzwerts kann also die Zahl der Menschen, aus denen plötzlich Patienten werden, enorm vergrößern. Wie beim Diabetes und beim Bluthochdruck profitieren Menschen mit leicht erhöhtem Cholesterinspiegel weniger von einer Behandlung als jene mit stark erhöhten Werten. Die Senkung des Grenzwerts, der noch als normal gilt, macht nicht nur zahlreiche Menschen zu Patienten, sondern produziert auch Patienten mit der mildesten Form der Krankheit.
Dann haben wir noch die Osteoporose. Meine Studienkollegen und ich denken oft an die Frühdiagnose der Osteoporose an der Universität. Diese klinische Diagnose war Patienten vorbehalten, die Symptome aufwiesen, meist schmerzhafte, spontane Brüche der Wirbelsäule (Wirbelkompressionsfrakturen). Osteoporose wird in der Umgangssprache oft »Knochenerweichung« genannt. Wörtlich bedeutet der Begriff, dass die Knochen (altgriechisch ostoun) poröser werden. Das ist unvermeidlich, wenn wir älter werden. Allerdings spielt sich dieser Prozess bei manchen Menschen schneller ab als bei anderen, und da wir offen gestanden keine zuverlässige Methode hatten, ihn zu messen, konzentrierten wir uns auf die klinischen Folgen.

Abbildung 2.2 Verteilung des Cholesterinspiegels bei erwachsenen Amerikanern und die Folgen der Senkung des Grenzwerts von 240 auf 200
Dann wurde die Knochenmineraldichtemessung entwickelt. Das ist eine Röntgenuntersuchung eines bestimmten Knochens (meist Wirbelsäule, Hüfte oder Handgelenk). Aber sie wird nicht benutzt, um festzustellen, ob der Knochen gebrochen ist. Gemessen wird nur die Dichte des Knochens, also wie viel Knochensubstanz vorhanden ist.11 Dieser Test ermöglichte es uns, anhand des T-Wertes zu bestimmen, wie dicht die Knochen eines Patienten waren. Der T-Wert vergleicht die Knochendichte mit einer »Norm« – der durchschnittlichen Knochendichte weißer Frauen im Alter zwischen zwanzig und neunundzwanzig Jahren (bei der Osteoporose stehen traditionell Frauen im Mittelpunkt). Wenn Sie die gleiche Knochendichte haben wie eine typische zwanzig- bis neunundzwanzigjährige weiße Frau – unabhängig von Ihrem Alter und Ihrer ethnischen Herkunft – haben Sie den T-Wert 0. Sind Ihre Knochen erheblich dichter als im Durchschnitt, können Sie einen T-Wert bis 3 haben.12 Wenn Ihre Knochen deutlich dünner sind als im Durchschnitt, können Sie einen T-Wert bis -3 haben.
Negative Zahlen machen die Situation schwieriger; darum ist es bedauerlich, dass die meisten Frauen einen negativen T-Wert haben. Das liegt daran, dass die meisten Frauen, die auf Osteoporose untersucht werden, erheblich älter sind als die Gruppe, mit der man sie vergleicht. Da die Knochen mit dem Alter dünner werden, haben ältere Frauen im Allgemeinen dünnere Knochen als jüngere. Darum liegt ihr T-Wert in der Regel unter 0. Die Weltgesundheitsorganisation definierte die Osteoporose ursprünglich als T-Wert unter -2,5. Das war eine willkürliche Zahl. Aber es stimmt, dass Frauen mit einem T-Wert unter -2,5 (zum Beispiel -2,8) häufiger Knochenbrüche erleiden als Frauen mit einem T-Wert über -2,5 (zum Beispiel -2,2). Natürlich kann man das von jedem Grenzwert sagen: Frauen mit einem T-Wert unter 0 haben ein höheres Risiko als Frauen mit einem T-Wert über 0. Frauen mit einem T-Wert unter -1 haben ein höheres Risiko als Frauen mit einem T-Wert über -1. Und so weiter.
Vielleicht hat die amerikanische Osteoporose-Stiftung das erkannt. Jedenfalls trat sie 2003 dafür ein, alle Frauen mit einem T-Wert unter -2 wegen Osteoporose zu behandeln. Diese Empfehlung stützte sich auf die Beobachtung, dass die meisten Hüftbrüche bei Frauen vorkamen, deren Knochendichte oberhalb eines T-Wertes von -2,5 lag. Nun sollte man glauben, der Unterschied zwischen -2,5 und -2 (magere 0,5) sei zu vernachlässigen. Aber nach dem, was Sie über Cholesterin gelernt haben, vermuten Sie wahrscheinlich, dass leicht abnorme T-Werte häufiger vorkommen als stark abnorme. Deshalb sind Sie vielleicht nicht überrascht, wenn Sie erfahren, dass 6,7 Millionen Amerikanerinnen buchstäblich über Nacht an Osteoporose erkrankten.13
Vier Befunde und vier Änderungen der Grenzwerte, anhand derer sie diagnostiziert werden. Tabelle 2.1 fasst zusammen, was geschehen ist.
Tabelle 2.1 Auswirkung niedrigerer diagnostischer Grenzwerte auf die Zahl der »kranken« Amerikaner(innen)
Zustand |
Krankheitshäufigkeit |
Neue Fälle |
Steigerung |
||
alte Definition |
neue Definition |
||||
Diabetes Nüchternblutzucker 140 à 126 |
11.697.000 |
13.378.000 |
1.681.000 |
14 % |
|
Bluthochdruck systolischer BD 160 à 140 diastolischer BD 100 à 90 |
38.690.000 |
52.180.000 |
13.490.000 |
35 % |
|
Hyperlipidämie Gesamtcholesterin 240 à 200 |
49.480.000 |
92.127.000 |
42.647.000 |
86 % |
|
Osteoporose bei Frauen T-Wert -2,5 à -2,0 |
8.010.000 |
14.791.000 |
6.781.000 |
85 % |
Wie Sie sehen, erhöhen die geänderten Grenzwerte die Zahl der für krank (und behandlungsbedürftig) erklärten Menschen drastisch. Ob das für die Betroffenen gut oder schlecht war, ist eine schwierige Frage. Aber es ist keine Frage, dass es gut fürs Geschäft war. Diese Änderungen vergrößerten nämlich den Markt für Therapien erheblich – und ebenso die damit erzielten Profite.
Es gibt weitverbreitete Bedenken gegen die Unabhängigkeit der Experten, die für die besprochenen Krankheiten Grenzwerte festlegten. Der Leiter des Diabetes-Grenzwert-Gremiums war ein bezahlter Berater von Aventis Phamaceuticals, Bristol-Myers Squibb, Eli Lilly, GlaxoSmithKline, Novartis, Merck und Pfizer – die alle Diabetesmedikamente herstellen.14 Neun der elf Autoren der kürzlich veröffentlichten Richtlinien zum Bluthochdruck waren (als bezahlte Berater, bezahlte Sprecher oder Subventionsempfänger) finanziell mit Pharmakonzernen verbandelt, die Medikamente gegen Bluthochdruck herstellen.15 Acht der neun Experten, die den Cholesteringrenzwert senkten, waren bezahlte Berater von Pharmakonzernen, die Cholesterinmedikamente herstellen.16 Und der erste Grenzwert für Osteoporose wurde von einem Gremium der Weltgesundheitsorganisation in Partnerschaft mit der Internationalen Osteoporosestiftung festgelegt, einer Organisation, deren Beratergremium aus einunddreißig Herstellern von Medikamenten und medizinischen Geräten bestand.17
Seien wir fair. Viele dieser Experten mögen gutgläubige Menschen sein, die alles tun wollen, was sie können, damit niemand übersehen wird, der von einer Diagnose profitieren könnte. Aber die Tatsache, dass so viel Geld im Spiel ist, verleitet sie möglicherweise dazu, den Nutzen zu überschätzen und den Schaden einer Überdiagnose zu unterschätzen. Derartige Entscheidungen wirken sich auf so viele Menschen aus, dass sie nicht von Konzernen beeinflusst werden dürfen, die daran verdienen.
Probleme mit der Behandlung
Nehmen wir an, es ist Ihnen egal, dass Grenzwerte möglicherweise nur gesenkt wurden, um Geld zu verdienen. Aber wie finden Sie es, dass Ärzte Millionen Amerikaner zu Patienten gemacht haben? Einige dieser Patienten werden erkranken – sie werden an Symptomen und Komplikationen leiden oder sogar sterben. Und einem Teil dieser Menschen (nicht allen) können wir helfen, wenn wir sie dank einer frühen Diagnose behandeln. Das ist auf jeden Fall gut, denken Sie jetzt vielleicht.
Aber als Gruppe haben diese Patienten, bei denen wegen eines gesenkten Grenzwerts eine Diagnose gestellt wurde, die geringsten Abweichungen unter allen Patienten aufzuweisen. Darum ist auch ihr Risiko für negative Vorkommnisse am geringsten. Bei manchem wird es zwar Komplikationen geben, aber bei den meisten nicht – sie wurden Opfer einer Überdiagnose, und Diagnosen und Therapien können ihnen nur schaden. Auf dieses Spannungsfeld stoßen wir überall in diesem Buch. Einigen wenigen wird möglicherweise geholfen, viele fallen einer Überdiagnose zum Opfer, und einigen wird dadurch Schaden zugefügt. Und niemand weiß, wer sich in welcher Gruppe befindet.
Das gängige ärztliche Ethos verlangt, sich auf den möglichen Nutzen für wenige zu konzentrieren und die Folgen für den Rest herunterzuspielen. Darum suchen die medizinischen Experten nach Menschen, deren höheres Risiko glaubhaft ist, und empfehlen dann den anderen Ärzten, genau diese Patienten zu identifizieren und zu behandeln. Aber wenn wir das Für und Wider abwägen, sollten wir die besten Daten nutzen, die uns zur Verfügung stehen, und die stammen aus randomisierten Studien.
Was das Cholesterin anbelangt, ist die bereits erwähnte Air Force / Texas Coronary Atherosclerosis Prevention Study ein gutes Beispiel. Sie untersuchte, wie sich die Senkung eines fast normalen Cholesterinwertes (zwischen 200 und 240) bei Menschen ohne Herzkrankheit auswirkt. Befassen wir uns zuerst mit den Menschen, die nicht behandelt wurden (weil sie für die Placebogruppe ausgelost wurden). Im Laufe von fünf Jahren hatten 5 Prozent dieser unbehandelten Patienten ihren ersten schweren Herzzwischenfall.
Um eine Vorstellung davon zu gewinnen, wie oft Überdiagnosen gestellt werden, müssen wir abschätzen, wie hoch das Risiko für einen medizinischen Zwischenfall im Laufe eines Lebens ist. Dies spiegelt das wichtigste Kriterium für Überdiagnosen wider: Wenn ein Mensch am Ende seines Lebens sagen kann, dass seine körperliche Verfassung ihm nie Probleme bereitet hat, wurde er das Opfer einer Überdiagnose. Um das Risiko zu berechnen, habe ich die Erfahrungen im Laufe von fünf Jahren auf vierundzwanzig Jahre hochgerechnet (die Lebenserwartung eines Achtundfünfzigjährigen, zugleich das Durchschnittsalter der Studienteilnehmer). Daraus ergibt sich folgende Schätzung: 22 Prozent der unbehandelten Personen in der Studie werden wahrscheinlich im Laufe ihres Lebens einen ersten schweren Herzzwischenfall haben. Das bedeutet, dass bei den übrigen 78 Prozent eine Überdiagnose vorlag.
Vielleicht fragen Sie nun, wie gut die Behandlung während eines Lebens wirkt (da Cholesterinsenker ein Leben lang verschrieben werden). Nach vierundzwanzig Jahren (sofern die in der Studie festgestellte Wirkung anhält) werden 14 Prozent der behandelten und 22 Prozent der unbehandelten Patienten einen ersten schweren Herzzwischenfall haben. Das heißt, nur 8 Prozent profitieren von der Therapie (22 minus 14, die Chance auf eine positive Wirkung).
Welche Folgerungen können Patienten mit einem fast normalen Cholesterinwert aus diesen Schätzungen ziehen?
Wenn bei hundert Patienten ein fast normaler Cholesterinwert diagnostiziert und lebenslang behandelt wird, wie viele Patienten werden dann … |
|
profitieren (die Behandlung bewahrt sie vor einen ersten schweren Herzzwischenfall) |
8 |
unnötig behandelt (sie bekommen trotz der Behandlung einen ersten schweren Herzzwischenfall) |
14 |
keinen Vorteil haben (Überdiagnose – die Behandlung nützt nichts, weil sie ohnehin nie einen Herzzwischenfall gehabt hätten) |
78 |
Wenn wir hundert Patienten diagnostizieren und behandeln, profitieren acht von ihnen davon, weil bei ihnen ein erster schwerer Herzzwischenfall verhindert wird. Vierzehn Patienten wurden unnötig behandelt – bei ihnen kommt es trotz der Therapie zu einem ersten schweren Herzzwischenfall (sie wurden also nicht Opfer von Überdiagnosen, aber auch ihnen wurde nicht geholfen, und sie litten möglicherweise unter den Nebenwirkungen der Behandlung). Die restlichen achtundsiebzig sind die Verlierer, denn sie wurden Opfer von Überdiagnosen. Selbst ohne Behandlung hätte keiner von ihnen einen Herzinfarkt gehabt.
Die gleiche Rechnung können wir für Osteoporose vornehmen, gestützt auf die Daten einer anderen randomisierten Studie: des Fracture Intervention Trial.18 Sie untersuchte, was geschieht, wenn wir die Knochendichte von Frauen, die noch nie Knochenbrüche hatten, fast normalisieren. Im Laufe von vier Jahren hatten 14 Prozent der nicht behandelten Frauen symptomatische Knochenbrüche. Hochgerechnet auf eine achtzehnjährige Periode (die durchschnittliche Lebenserwartung einer achtundsechzigjährigen Frau in der Studie), würden 49 Prozent der nicht behandelten Frauen einen Knochenbruch erleiden.
Das bedeutet, 51 Prozent der Patientinnen wurden Opfer einer Überdiagnose.
Wie wirkt diese Behandlung im Laufe eines Lebens? Nach achtzehn Jahren (sofern die in der Studie festgestellte Wirkung anhält) müssen 44 Prozent der behandelten und 49 Prozent der unbehandelten Patientinnen mit einem Knochenbruch rechnen. Das heißt, nur 5 Prozent profitieren von der Therapie (49 minus 44).
Und hier ist die Berechnung für eine fast normale Knochendichte:
Wenn bei hundert Patientinnen eine fast normale Knochendichte diagnostiziert und lebenslang behandelt wird, wie viele Patientinnen werden dann … |
|
profitieren (die Behandlung bewahrt sie vor einem Knochenbruch) |
5 |
unnötig behandelt (sie erleiden trotz der Behandlung einen Knochenbruch) |
44 |
keinen Vorteil haben (Überdiagnose – die Behandlung nützt nichts, weil sie ohnehin nie einen Knochenbruch gehabt hätten) |
51 |
Wenn wir hundert Patientinnen diagnostizieren und behandeln, profitieren fünf von ihnen davon, weil bei ihnen ein Knochenbruch verhindert wird. Vierundvierzig Patientinnen werden unnötig behandelt – bei ihnen kommt es trotz der Therapie zu einem Knochenbruch (bei ihnen liegt also keine Überdiagnose vor, aber auch ihnen wurde nicht geholfen, und sie litten möglicherweise unter den Nebenwirkungen der Behandlung). Die restlichen einundfünfzig sind die Verlierer, denn sie wurden Opfer einer Überdiagnose.
Würden Sie sich behandeln lassen? Es gibt keine richtige Antwort. Aber die Entscheidung ist schwierig.
Vielleicht fragen Sie: Warum soll ich mich nicht behandeln lassen? Nun, es gibt gute Gründe dafür, eine Überdiagnose wegen Diabetes oder Bluthochdruck zu vermeiden: Weder Ihr Blutzucker noch Ihr Blutdruck dürfen zu stark fallen. Kann ein zu geringer Cholesterinspiegel gefährlich sein? Derzeit glauben wir das nicht; aber es gibt keine langfristigen Studien dazu. Manche Wissenschaftler sind besorgt, weil der menschliche Körper Cholesterin braucht, um Zellen zu bilden und zu reparieren. Die üblichen Cholesterinsenker (Statine genannt) sind im Allgemeinen völlig unbedenklich. Manchmal wird ein neues Medikament wegen gesundheitlicher Bedenken vom Markt genommen (versuchen Sie also, bei den alten zu bleiben), und bei allen besteht ein winziges Risiko für ein großes Problem: rascher Muskelschwund. Aber im Großen und Ganzen sind sie so gut, wie Medikamente eben sein können, besonders zur Vorbeugung gegen einen zweiten Herzinfarkt.
Ist eine zu hohe Knochendichte gefährlich? Wahrscheinlich nicht. Aber in diesem Punkt bin ich mir noch weniger sicher, weil wir weniger Erfahrung mit Bisphosphonaten (den üblichen Medikamenten zur Steigerung der Knochendichte) haben. Es gibt einige Bedenken wegen der langfristigen Folgen dieser Medikamente – es könnte sein, dass sie die Knochen sogar brüchiger machen, indem sie die Knochenstruktur ändern. Zudem können sie den Kalziumstoffwechsel stören, Speiseröhrengeschwüre verursachen und, sehr selten, Knochen absterben lassen.19 Hoffentlich werden wir dank langfristiger Studien bald mehr wissen.
Aber der wahre Nachteil all dieser Änderungen der Diagnoseregeln besteht darin, dass sie uns auf eine schiefe Ebene bringen und immer mehr Menschen zu Patienten machen. Zu viele Menschen nehmen bereits zu viele Medikamente. Natürlich fühlen sich manche Menschen sicherer, wenn ihre potenziellen Probleme diagnostiziert und behandelt werden. Manche nehmen dafür vielleicht sogar Nebenwirkungen und den Aufwand in Kauf. Aber dieses Sicherheitsgefühl basiert zum Teil auf den Aussagen einflussreicher Leute, die den Nutzen der Diagnose und Behandlung leichter Anomalien systematisch übertreiben (und kaum etwas über mögliche Nachteile sagen). Deshalb ist das Gefühl, auf der sicheren Seite zu sein, wahrscheinlich ein Zerrbild der Wirklichkeit.
Aber das ist noch nicht alles
Im Jahr 1997 überlegte das Joint National Committee on High Blood Pressure, ob es eine neue Krankheitskategorie einführen sollte: hoch-normalen Blutdruck. Betroffen wären Menschen gewesen, deren diastolischer Blutdruck zwischen 85 und 89 oder deren systolischer Blutdruck zwischen 130 und 139 liegt. Etwa zehn Jahre später bekam der hoch-normale Blutdruck einen neuen Namen: Prähypertonie. Eine große randomisierte Studie zeigte, dass die Gefahr, an Bluthochdruck zu erkranken, verringert werden konnte, wenn man Menschen mit Prähypertonie Medikamente verabreichte, die den Blutdruck senkten.20 (Warum überrascht mich das nicht? Natürlich senken Blutdrucksenker den Blutdruck!)
Während der ersten zwei Jahre der randomisierten Studie wurde eine Behandlungsgruppe (sie bekam ein Medikament namens Candesartan) mit einer Placebogruppe verglichen. Am Ende der zwei Jahre litten in der Behandlungsgruppe 14 Prozent und in der Placebogruppe 40 Prozent der Teilnehmer an Bluthochdruck. Das ist ein großer Unterschied – vor allem, wenn man erklärt, die Zahl der Erkrankungen sei »um 66 Prozent zurückgegangen«. Aber das ist selbstverständlich; denn wenn wir Menschen Blutdrucksenker geben, sinkt ihr Blutdruck, und bei vielen kommt es nicht zum Bluthochdruck. Das sagt nichts darüber aus, ob das Medikament einen Nutzen hatte.
Immerhin stellte die Studie eine zweite Frage. In den zwei folgenden Jahren wurden beiden Gruppen Placebos verabreicht. Nach insgesamt vier Jahren litten 53 Prozent der Menschen, die zwei Jahre lang behandelt worden waren, und 63 Prozent der Menschen, die nie ein Medikament bekommen hatten, an Bluthochdruck. Ich gebe zu, dass dieses Ergebnis interessanter ist. Es sieht danach aus, als verringere eine nach zwei Jahren abgebrochene Behandlung das Bluthochdruckrisiko, verglichen mit dem Verzicht auf jede Behandlung. Aber die Wirkung ist gering. Und die wichtigere Frage bleibt: Lohnt es sich, dem Bluthochdruck vorzubeugen, indem man ihn behandelt, bevor er auftritt? Wäre es nicht besser, zu warten und nur Kranke zu behandeln? Mit anderen Worten: Trägt die Behandlung der Prähypertonie dazu bei, Herzinfarkte, Schlaganfälle und Todesfälle zu verhindern? Wir wissen nicht, ob die Behandlung der Prähypertonie das Risiko verringert, einen Herz- oder Schlaganfall zu erleiden oder zu sterben. Aber wir wissen, dass der Markt enorm groß ist – etwa achtzehn Millionen neue Patienten.21
Im Jahr 2002 prägte die amerikanische Diabetesgesellschaft den Begriff Prädiabetes. Gemeint war ein Blutzuckerspiegel, der über dem Normalwert lag, aber noch nicht hoch genug war, um Diabetes zu diagnostizieren. Die Experten sagten (und ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln), in den Vereinigten Staaten gebe es siebenundfünfzig Millionen Prädiabetiker.22 Das ist ein noch größerer Markt, und die Gefahr einer Überdiagnose und Überbehandlung ist gewaltig. Die Befürworter eines niedrigen Cholesterinspiegels sinnen ebenfalls auf eine Ausweitung und schlagen nunmehr vor, auch Kinder zu testen. Die Amerikanische Akademie für Pädiatrie empfiehlt den Ärzten, den Cholesterinspiegel der Kinder zu messen, die übergewichtig sind oder deren Eltern an Herzkrankheiten oder hohem Cholesterinspiegel leiden. Da ein hoher Cholesterinspiegel bei so vielen Eltern diagnostiziert wird, sind eine Menge Kinder betroffen. Die Tests sollen irgendwann vor dem zehnten (aber nach dem zweiten) Geburtstag beginnen. Mit der medikamentösen Behandlung soll man bis zum Alter von acht Jahren warten.23
Den Experten der amerikanischen Osteoporose-Stiftung muss man zugutehalten, dass sie ihre Behandlungsrichtlinien verfeinert haben. Sie haben zwar den Grenzwert für eine Therapie verschoben, aber sie stellen klar, dass ein T-Wert von -1,0 alleine keine Therapie rechtfertigt. Eine Patientin sollte auch ein Risiko von über 3 Prozent haben, sich in den nächsten zehn Jahren einen Hüftknochen zu brechen.24 Zur Berechnung dieses Risikos verwendeten sie ein Verfahren der WHO, angepasst an die Vereinigten Staaten. Es verlangt von den Ärzten, eine Website zu öffnen und Alter, Gewicht, Größe und T-Wert einer Patientin anzugeben. Außerdem werden sie gefragt, ob die Patientin raucht oder Steroide einnimmt, ob sie jemals einen Knochen gebrochen hat, ob sie an rheumatoider Arthritis oder Erkrankungen leidet, die eng mit Osteoporose zusammenhängen, und ob sie drei oder mehr alkoholische Getränke am Tag zu sich nimmt. Weiter unten findet der Arzt genaue Definitionen jeder dieser Risikofaktoren, die er verstehen muss, bevor er die Patientin befragt. Dann spricht der Arzt mit der Patientin und trägt die Daten in das Rechenschema ein. Danach berechnet der Computer, wie groß die Gefahr ist, dass die Patientin in den nächsten zehn Jahren einen Hüftknochen bricht.25 Ist diese Zahl größer als 3 Prozent, empfiehlt er eine Behandlung.
Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, weil genauer definiert wird, wessen Risiko hoch ist. Aber wir wissen nicht wirklich, ob diese Präzisierung etwas nützt; denn bisher gibt es keine speziellen Behandlungshinweise für Frauen, die andere Risikofaktoren in Verbindung mit einer fast normalen Knochendichte (zum Beispiel mit einem T-Wert von -1,0) aufweisen. Zudem sind die Empfehlungen so komplex – und derart zeitaufwendig –, dass viele Ärzte sich vermutlich weigern, jede Frau mit einem T-Wert unter -1,0 zu behandeln. Das beträfe fast jede ältere Frau. Und inzwischen gibt es schon Befürworter einer Therapie für Männer …
Kettenreaktion
Eine meiner Nachbarinnen hat eine Freundin, die außerhalb von New York City lebt. Lara kommt regelmäßig nach Vermont, um der Stadt zu entfliehen; darum habe ich sie im Laufe der Jahre kennengelernt. Sie ist eine gesunde, fünfundsechzigjährige Frau, der es dennoch gelungen ist, sich in zahlreiche Diagnosen und Therapien zu verstricken. Es begann, als sie vor fast zehn Jahren auf Osteoporose untersucht wurde. Der Knochenmineraldichtetest zeigte, dass ihr T-Wert -1,8 betrug. Das bezeichnet zwar (noch) niemand als Osteoporose, aber ihr Hausarzt meinte, bei ihr bestehe die Gefahr eines Knochenbruchs, obwohl keiner der oben genannten Risikofaktoren vorlag. (So gesehen sind alle Menschen Risikopatienten.) Zudem erklärte ihr der Arzt, die Behandlung sei einfach und wirksam.
Damals, berichtete sie mir, habe sie gedacht: »Warum nicht?« Also wurde mit einer Hormonersatztherapie begonnen, die nachweislich die Knochendichte steigert und die Bruchgefahr senkt. Sie vertrug das Medikament gut. Dann enthüllten große randomisierte Studien, dass die Hormonersatztherapie auch schädliche Nebenwirkungen hat: ein erhöhtes Herzinfarkt-, Schlaganfall- und Brustkrebsrisiko. Ihr Arzt riet ihr, das Medikament nicht mehr zu nehmen und stattdessen ein anderes Präparat gegen Osteoporose zu probieren.
Lara bekam ein Bisphosphonat, und eine Weile kam sie gut damit zurecht. Dann traten heftige Schmerzen beim Schlucken auf. Sie wurde an einen Gastroenterologen überwiesen, der mithilfe eines Endoskops (eines röhrenförmigen optischen Geräts, das in den Magen eingeführt wird) starke Entzündungen und Geschwüre in der Speiseröhre feststellte. Dies ist eine bekannte Nebenwirkung von Bisphosphonaten. Daraufhin bekam sie ein anderes Medikament. Die Speiseröhre heilte, aber sie bekam am ganzen Körper einen schmerzhaften Ausschlag. Also schickte man sie zu einem Dermatologen, der den Verdacht hatte, der Ausschlag werde vom Medikament verursacht. Dieses wurde abgesetzt, und der Ausschlag verschwand.
Lara war zu einer medizinischen Herausforderung geworden, weil die Ärzte nicht wussten, wie sie diese Frau behandeln sollten. Man überwies sie an einen Endokrinologen. Da Osteoporose als endokrine Krankheit gilt, hält man Endokrinologen für Experten, was die Therapie anbelangt. Der Endokrinologe war also genau der richtige Mann, um diese schwierige Patientin zu behandeln.
Vergessen Sie nicht, dass Lara gar nicht an Osteoporose litt. Schlimmstenfalls hatte sie Osteopenie (das kann man sich als Präosteoporose vorstellen). Zudem lagen bei ihr keine Risikofaktoren vor, die einen Knochenbruch wahrscheinlicher gemacht hätten. Der Facharzt hätte sich also die grundlegendste aller Fragen stellen sollen: Ist dies ein Zustand, der eine Behandlung erfordert? Laras T-Wert und das Fehlen anderer Risikofaktoren machten Knochenbrüche unwahrscheinlich. Folglich war der Nutzen einer Therapie bestenfalls gering.
Aber der Endokrinologe stellte diese Frage nicht. Er stellte sich der medizinischen Herausforderung und untersuchte alle Drüsen und Hormone gründlich. Als er die Schilddrüse abtastete, glaubte er, einen Knoten zu spüren. Er schickte Lara zu einem Radiologen, der mithilfe einer Ultraschalluntersuchung drei Knoten feststellte, von denen der größte einen Durchmesser von etwa zweieinhalb Zentimetern hatte. Man führte Nadeln in alle Knoten ein und entnahm ihnen ein wenig Flüssigkeit. Einige der Zellen in dieser Flüssigkeit sahen unter dem Mikroskop gefährlich aus. Der Pathologe befürchtete, dass es sich um ein Karzinom (Krebs) handelte; aber das konnte man nur mit Sicherheit feststellen, wenn die Schilddrüse entfernt wurde. Also wurde sie an einen Chirurgen überwiesen.
Stellen Sie sich das vor. Es geht Ihnen gut, aber jemand empfiehlt einen Test, um herauszufinden, wie stark Ihre Knochen sind. Der Test zeigt, dass die Knochendichte knapp unter dem Durchschnitt für Ihr Alter liegt. Dennoch behaupten die Ärzte, bei Ihnen bestehe ein Knochenbruchrisiko, und fordern Sie auf, etwas zu unternehmen. Drei Medikamente und drei Fachärzte später erfahren Sie, dass Sie vielleicht Schilddrüsenkrebs haben. Was für eine Flut von Ereignissen. Immerhin hat dieser Fall ein glückliches Ende. Der Chirurg – offenbar ein umsichtiger Mann – zog einen Schlussstrich. Er wusste, dass es bei fast allen Erwachsenen Anzeichen für Schilddrüsenkrebs gibt. Das Wichtigste ist, dass es Lara gut geht – ich habe sie kürzlich auf dem Fluss Connecticut in einem Kajak gesehen –, aber jetzt zögert sie noch etwas mehr, sich untersuchen zu lassen.
Ich weiß nicht, wie häufig Patienten derart mit Diagnosen und Therapien traktiert werden. Niemand führt darüber Buch. Aber ich kann Ihnen versichern, dass Laras Fall nicht besonders ungewöhnlich ist. Das ist ein weiterer Nachteil, wenn man zu früh für krank erklärt wird.
Es ist leicht, die Forderung aufzustellen, dass Regeln und Zahlen geändert werden müssen, um neu zu definieren, was als abnorm gilt. Man kann immer geltend machen, dass dadurch möglicherweise ein paar Menschen mehr geholfen wird. Meist ist die Diskussion an dieser Stelle zu Ende. Doch selbst kleine Änderungen können Millionen Menschen zu Patienten machen. Sie können zu einer Explosion von Überdiagnosen und somit zu einer Explosion von Behandlungen führen. Selbst wenn einige davon profitieren, sollten wir nicht zahlreiche Menschen leichtfertig für krank und behandlungsbedürftig erklären. Kleine Nachteile einer Therapie werden schon deshalb vergrößert, weil ihnen so viele Menschen ausgesetzt sind. Manche verstricken sich wie Lara in ein Gewirr aus Diagnosen und Therapien. Und wir alle müssen uns über eine paradoxe Strategie wundern, die Gesundheit fördern will, indem sie mehr Menschen dazu bringt, sich für krank zu halten.
Leider kann uns keine wissenschaftliche Methode oder mathematische Gleichung eine eindeutige Antwort auf die Frage geben, was wir als normal definieren sollen. Aber die Praxis zeigt, dass die Mediziner unablässig damit beschäftigt sind, diese Definition einzuengen. Das wird besonders offenkundig, wenn wir Ärzte die Regeln ändern. Doch dieser Prozess hat auch eine noch heimtückischere Seite: Manchmal ändert der technische Fortschritt die Regeln für uns.