Kapitel 10

Die Faktenlage

Viele Aussagen zu Vorsorgeuntersuchungen sind lediglich Variationen desselben Themas – alle werben auf die eine oder andere Weise dafür, intensiv nach Anomalien zu suchen, weil dies der beste Weg sei, gesund zu bleiben. Manchmal werden solche Behauptungen in bester Absicht aufgestellt. Patientenschutzgruppen und einige Ärzte raten den Menschen, sich untersuchen zu lassen, weil sie das für richtig halten. Andere vertreten eher eigene Interessen: Unternehmen, die medizinische Versorgung anbieten, Krankenhäuser und manche Ärzte raten den Menschen, sich vorsorglich untersuchen zu lassen, weil sie daran verdienen. Unabhängig von den Beweggründen sollten Sie wissen, ob diese Behauptungen von harten Fakten gestützt werden.

Fangen wir mit der unbequemen Wahrheit an: Allzu oft sind keine harten Fakten zu finden. Das hat seinen Grund. Die meisten Gesunden bekommen die Krankheit, die wir früh diagnostizieren wollen, spät oder nie. Um zuverlässige Informationen über den Wert der Früherkennung bei den wenigen Menschen zu sammeln, die erkranken werden, müssen wir also lange Zeit viele Gesunde beobachten. Und eine große Langzeitstudie ist sehr teuer. Das lässt sich an einem Beispiel eindrucksvoll belegen: Eine typische randomisierte Mammografiestudie, an der rund 50 000 Frauen über zehn Jahre hinweg teilnahmen, kostete einen zweistelligen Millionenbetrag. Dass es nur wenige solcher Studien gibt, ist daher kaum überraschend, obwohl wir sie brauchen. Die Millionen, die wir zahlen würden, um den Wert früher Diagnosen zu ermitteln, verblassen jedoch im Lichte der Milliarden, die wir für Vorsorgeuntersuchungen ausgeben, ohne zu wissen, ob sie etwas nützen.

Da es nur wenige harte Fakten gibt, sollten Sie also wissen, wann man Ihnen einreden will, dass wir über hinreichende Informationen verfügen. Viele Aussagen zur Früherkennung – Werbung, Stellungnahmen von Behörden, Websites und sogar Nachrichten – sind eindeutig irreführend; sie übertreiben meist die Risiken und schüren die Ängste, damit Sie aktiv werden. Wenn der Nutzen einer Früherkennung unbekannt ist, wird er häufig einfach unterstellt; wenn ein Nutzen bekannt ist, wird oft übertrieben und behauptet, X beugt Y vor, obwohl X verringert das Risiko für Y eher zuträfe. Besonders irreführend ist der häufige Missbrauch der Zahl der Überlebenden, zum Beispiel innerhalb eines Zeitraums von fünf oder zehn Jahren. Es ist bekannt, dass diese Zahlen erschreckend tendenziös sind, wenn es um Früherkennung geht. Oft geben die Anhänger der Früherkennung sehr überzeugende Anekdoten zum Besten: von Menschen, denen eine frühe Diagnose angeblich das Leben gerettet hat. Die Kehrseite der Medaille – Überdiagnosen – wird hingegen verschwiegen.

Botschaften, die sich an die Öffentlichkeit wenden und scheinbar eine Menge harter Fakten enthalten, können ziemlich trügerisch sein. Sie verfolgen den Zweck, uns vom Nutzen der Früherkennung zu überzeugen. Eine ausgewogene Darstellung der Vor- und Nachteile ist nicht beabsichtigt.

Der neue Test, der alles entdeckt

Beginnen wir mit der Anzeige eines Krankenhauses in einer Lokalzeitung in New England. Sie zeigt das Foto einer jungen Frau, offenbar in den Dreißigern, die nachdenklich aussieht und etwas abwehrend die Arme verschränkt. Vielleicht macht sie sich Sorgen wegen der Nachricht, die sie von ihrem Arzt erhalten hat. Die Anzeige prahlt: »Unsere Klinik entdeckte den Brustkrebs, der ›nicht da war‹.«

Ist die Entdeckung eines Tumors, der nicht da war, eine gute Nachricht? Für die Marketingabteilung der Klinik anscheinend ja. Aber wie viele Anomalien, die auf diese Weise entdeckt werden, stellen Überdiagnosen dar? Was bedeutet die Entdeckung eines Brustkrebses, der »nicht da war«? Wahrscheinlich, dass der Tumor mit einem Standardtest (zum Beispiel Mammografie) nicht aufzuspüren war, wohl aber mit einem anderen Test (zum Beispiel mit einer kontrastmittelverstärkten Kernspintomografie). Er muss also schwer zu finden gewesen sein: eine kleine Anomalie. Und wenn eine Mammografie Karzinome entdeckt, die nie Symptome auslösen werden, kann man sich vorstellen, was eine Kernspintomografie alles findet.

Das führt uns zu der Frage, was wir von der Krebsfrüherkennung im Allgemeinen halten sollen. Es ist verführerisch anzunehmen, dass der beste Test derjenige ist, der die meisten Karzinome findet. Aber das Ziel besteht nicht darin, mehr Karzinome zu finden, sondern darin, Leben zu retten. Ob die Vorsorgeuntersuchung Leben rettet, erfahren wir nur mithilfe einer randomisierten Studie. Das wird oft vergessen. Stattdessen gehen wir einfach davon aus, dass eine Technik, die mehr Tumore entdeckt, auch mehr Menschenleben rettet. Werbestrategen machen sich diese Unterstellung zunutze. Fallen Sie nicht darauf herein.

Eine beängstigende Geschichte

Nehmen wir nun an, Sie blättern in einer Zeitschrift und stoßen auf eine andere Anzeige, diesmal von einer gemeinnützigen Stiftung. Eine junge Frau mit langem, fließendem Haar und tiefblauen Augen schaut Sie an. Vielleicht hat sie dieses Porträt selbst gezeichnet. Unter das Bild hat sie geschrieben: »Mir kann das nicht passieren. Ich gehe jeden Morgen ins Fitnessstudio. Ich gehe zu Fuß ins Büro. Und ich lasse mich von der Arbeit nicht stressen.« Dann folgt die Pointe: »Alecia Fox, 21, einen Tag, bevor bei ihr Schilddrüsenkrebs diagnostiziert wurde.«

Das ist furchterregend. Eine junge Frau, die blendend aussieht, ist einen Tag, bevor bei ihr ein Schilddrüsenkarzinom entdeckt wird, völlig arglos. Auf einmal bekommen Sie Angst vor Schilddrüsenkrebs – vielleicht haben Sie ihn ja schon, ohne es zu wissen. Und die Anzeige deutet sogar an, dass Sie ein Narr wären, wenn Sie keine Angst hätten. Die nächste Zeile lautet nämlich: »Vertrauen ist tödlich. Dem Schilddrüsenkrebs ist es egal, wie gesund Sie sind. Er kann jeden treffen, auch Sie.« Und man rät Ihnen: »Bitten Sie Ihren Arzt, Ihren Hals zu untersuchen.«

Es gibt viele solche Anzeigen. Aber keine informiert ausführlich über die Krankheit oder die Vor- und Nachteile einer Früherkennung. Stattdessen schüren sie Ängste, damit Sie aktiv werden, und sie gehen davon aus, dass Sie die Werbeaktion für sinnvoll halten. Nehmen wir aber an, Sie wollen mehr wissen. Also gehen Sie online und finden eine Website über die Schilddrüse, erstellt von der Amerikanischen Gesellschaft der Endokrinologen.1 Dort erfahren Sie Folgendes: »Schilddrüsenkrebs gehört zu den Krebsarten, die sich in Amerika am schnellsten ausbreiten und die am leichtesten zu heilen sind.«

Dieser Satz enthält zwei Behauptungen: 1. Schilddrüsenkrebs ist ein großes Problem (weil er sich schnell ausbreitet). 2. Wir können ihn besiegen (weil er leicht heilbar ist). Die Kombination »großes Problem« und »heilbar« soll offenbar begründen, dass es einen Grund gibt, sich untersuchen zu lassen.

Die erste Behauptung ist sachlich richtig. Es gibt immer mehr Fälle von Schilddrüsenkrebs in Amerika. Dennoch ist er noch relativ selten: Weniger als zwei von tausend Menschen werden in den nächsten zehn Jahren die Diagnose »Schilddrüsenkrebs« erhalten.2 Und niemand, der die Volksgesundheit im Auge hat, würde behaupten, Schilddrüsenkrebs sei eine große, wachsende Bedrohung für Amerikaner. In den letzten dreißig Jahren hat sich die Zahl der Menschen, die pro Jahr daran sterben, nicht erhöht. Überdiagnosen sind die große, wachsende Bedrohung, nicht der Schilddrüsenkrebs.

Der zweite Teil der Botschaft – Schilddrüsenkrebs gehöre zu den Krebsarten, die »am leichtesten zu heilen sind« – ist noch irreführender. Es stimmt, dass es Patienten mit Schilddrüsenkrebs im Vergleich zu anderen Krebspatienten gut geht. Aber das Wort heilen soll uns glauben machen, dies sei die Folge der medizinischen Behandlung. Wenn Sie jedoch an mögliche Überdiagnosen denken, fällt Ihnen eine andere Erklärung ein: Bei einigen Patienten gibt es nichts zu heilen.

Sie lesen weiter: »Zum Glück haben die meisten Arten von Schilddrüsenkrebs eine sehr gute Prognose, wenn ein fachkundiger Arzt sie früh diagnostiziert und behandelt.«

Jetzt ist die Botschaft klar. Der Schlüssel zum Überleben – zu einer »sehr guten Prognose« – sind Früherkennung und gute medizinische Versorgung. Und für den Fall, dass Sie es immer noch nicht kapiert haben, ist meist noch eine Fallgeschichte beigefügt. Die hört sich etwa so an:3

Alles begann 2008. Michelle hatte Ohrenschmerzen. Während der Untersuchung bemerkte der HNO-Arzt einen Knoten in ihrem Hals. Er empfahl einen Bluttest und danach eine Biopsie.

»Ich hatte großes Glück, dass er ihn bemerkte. Ohrenschmerzen sind ja kein typisches Symptom bei Schilddrüsenproblemen, und meine Schilddrüse war kaum vergrößert«, sagte Michelle. »Ich beschloss, den Rat des Arztes zu befolgen.«

Ohrenschmerzen sind kein Symptom für Schilddrüsenstörungen. Trotzdem tastet der Arzt Michelles Hals ab. Mit anderen Worten, er untersuchte sie rein vorsorglich. Und entdeckte einen Schilddrüsentumor. Die Geschichte geht weiter:

Obwohl der Krebs früh entdeckt wurde, hatte Michelle Angst. Darum rief sie ihre Mutter in Philadelphia an. »Ich dachte, meine Mutter weiß, was ich tun soll«, erinnert sich Michelle. Sie verbrachte die Woche »wie benebelt«. Ihre Mutter sorgte dafür, dass sie im Fox Chase Cancer Center behandelt wurde. Ein Chirurg, der auf Kopf- und Halsoperationen spezialisiert war, entfernte die Schilddrüse in einer fünfstündigen Operation vollständig.

Einen Monat nach der Operation unterzog sich Michelle einer Therapie mit radioaktivem Jod. Danach begann sie, ein synthetisches Schilddrüsenhormon einzunehmen, um das fehlende Schilddrüsenhormon zu ersetzen und Schilddrüsenkrebs zu behandeln.

»Die Stabilisierung meiner Schilddrüse war einer der schwierigeren Aspekte des ganzen Prozesses, weil die Schilddrüse den Stoffwechsel reguliert. Heute geht es mir wunderbar.«

Im September 2006 nahm Michelle zum ersten Mal an einem Triathlon teil und sammelte rund 4000 Dollar für die Leukämie- und Lymphom-Gesellschaft.

»Außerdem helfe ich ehrenamtlich Frauen mit Schilddrüsenkrebs«, sagt Michelle. »Viele Menschen hören das Wort ›Krebs‹ und drehen durch, ohne zu begreifen, dass man diesen Krebs gut behandeln kann. Ich teile meine Erfahrungen mit ihnen, um ihnen Kraft zu geben.«

Trotz dieser überzeugenden Geschichte haben Sie im Grunde nichts darüber erfahren, ob es sich lohnt, Schilddrüsenkrebs frühzeitig zu diagnostizieren. Sie haben lediglich etwas über die Erfahrungen einer Frau mit einer Nebenwirkung der Therapie mitbekommen: Es kann schwierig sein, nach der Entfernung der Schilddrüse die Hormonersatztherapie richtig einzustellen. Aber es gibt keine harten Fakten, die Ihnen bei der Entscheidung helfen könnten, ob Sie sich vorsorglich auf Schilddrüsenkrebs untersuchen lassen sollen.

Selbst ohne hinreichende Fakten vermittelt die Website eine überzeugende Botschaft: Sie sollten Ihre Schilddrüse untersuchen lassen. Und wir können das Wort Schilddrüsenkrebs durch viele andere Krankheiten ersetzen, um das gleiche Argument vorzutragen: Lassen Sie sich untersuchen, um herauszufinden, ob Sie die Krankheit im Frühstadium haben; gehen Sie auf Nummer sicher.

Doch was wäre, wenn Michelles Tumor nie gewachsen wäre? Dann wären die Operation und alle folgenden Maßnahmen unnötig gewesen. Wenn Sie die sehr reale Möglichkeit einer Überdiagnose einräumen, hört sich das Wort »Früherkennung« plötzlich nicht mehr so harmlos an. Diese Art Werbung ist aus mehreren Gründen problematisch. Sie unterscheidet nicht zwischen einer Krankheitswelle und einer Diagnosewelle. Sie unterstellt, dass Patienten, denen es gut geht, ihr Wohlbefinden einer Behandlung verdanken, obwohl es ihnen ohne Behandlung vielleicht ebenfalls gut gegangen wäre. Und eine persönliche Anekdote dient als Ersatz für harte Fakten.

Die Website der Amerikanischen Gesellschaft der Endokrinologen berichtet, Schilddrüsenkrebs gehöre zu den Krebsarten, die in Amerika immer häufiger vorkämen. Verständlicherweise nehmen die Leser an, es gebe eine Welle von Erkrankungen. In Wahrheit gibt es eher eine Welle von Überdiagnosen. Es stimmt zwar, dass die Diagnose »Schilddrüsenkrebs« heute bei viel mehr Menschen gestellt wird als früher; aber das bedeutet nicht unbedingt, dass die Krankheitsbelastung zugenommen hat, dass mehr Menschen an Symptomen oder Komplikationen leiden oder an Schilddrüsenkrebs sterben. Möglicherweise spiegelt die Zunahme der Diagnosen einen Wandel der diagnostischen Praxis wider: Wir finden Anomalien, die wir nicht finden müssten. (Ironischerweise könnte die Werbung dieser Organisation für die Früherkennung der Grund für die schnell steigende Zahl von Schilddrüsenkarzinomen sein!) Es ist nicht einfach, eine Krankheitswelle von einer Diagnosewelle zu unterscheiden. Doch sobald Ihnen klar ist, dass einige Krankheitswellen in Wahrheit die Folge der medizinischen Versorgung sind, können Sie zumindest einige Fragen stellen. Was den Schilddrüsenkrebs anbelangt, haben Wissenschaftler herausgefunden, dass alle Anzeichen für eine Diagnosewelle sprechen, für einen raschen Anstieg der Schilddrüsenkrebsdiagnosen, nicht für eine Zunahme der Todesfälle wegen Schilddrüsenkrebs.

Dass es einem Patienten nach der Früherkennung gut geht, sagt vielleicht weniger über den Wert der Diagnose aus als über den natürlichen Verlauf von Anomalien, die man früh entdecken kann. Es ist schön, dass die meisten Patienten mit Schilddrüsenkrebs eine sehr gute Prognose haben. Aber die Tatsache, dass es den Patienten nach einer frühen Diagnose und Therapie gut geht, bedeutet nicht unbedingt, dass es ihnen wegen der frühen Diagnose und Therapie gut geht, wie die Website behauptet. Wegen der enorm hohen Zahl von Überdiagnosen beim Schilddrüsenkrebs geht es vielen Patienten deshalb gut, weil es ihnen ohnehin gut gegangen wäre. Der Hinweis auf das gute Befinden der Patienten nach einer Früherkennung ist wohl die häufigste Taktik, wenn es darum geht, Menschen zu einer Vorsorgeuntersuchung zu bewegen. Oft wird dieses Argumentationsmuster mit Zahlen unterlegt: mit Überlebensstatistiken. Das dürften die irreführendsten Zahlen in der Medizin sein.

Persönliche Anekdoten können sehr motivierend sein, aber sie sagen nichts über den Wert früher Diagnosen und Behandlungen. Es ist wundervoll, dass es Michelle gut geht. Jeder liebt Geschichten mit einem glücklichen Ende. Geschichten aller Art fesseln uns. Darum wird Journalisten beigebracht, manche Artikel mit einer persönlichen Geschichte zu beginnen. Deshalb sind solche Geschichten in allen Nachrichten- und Unterhaltungsmedien zu finden (auch ich habe einige in dieses Buch aufgenommen). Eine Geschichte über einen Menschen mit Namen eignet sich hervorragend dafür, abstrakte Ideen zum Leben zu erwecken. Sie kann Ihnen jedoch nicht sagen, ob Sie von frühen Diagnosen und Behandlungen profitieren werden. Ein Mensch, dessen Leben anscheinend dank der Früherkennung gerettet wurde, brauchte vielleicht nie eine Therapie, und ein Mensch, der anscheinend starb, weil er nicht zur Vorsorgeuntersuchung ging, hatte vielleicht einen aggressiven, nicht behandelbaren Krebs, der nicht früh diagnostiziert werden konnte oder der auf die Behandlung, falls sie erfolgt wäre, nicht angesprochen hätte. Einerlei, ob die persönliche Anekdote von einem Menschen handelt, dessen Leben dank der Früherkennung gerettet wurde, oder von einem Menschen, der sterben musste, weil er die Vorsorgeuntersuchung versäumte – die Botschaft ist die Gleiche: Vorsorgeuntersuchungen sind von unschätzbarem Wert. Wann immer Sie Anekdoten wie diese lesen, sollten Sie an die alternativen Interpretationen denken, die Tabelle 10.1 auflistet.

Tabelle 10.1 Zwei exemplarische Geschichten, ihre beabsichtigten Botschaften und ihre alternativen Interpretationen

Geschichte mit gutem Ende

Geschichte mit schlechtem Ende

Typisches Beispiel

Betty ließ sich untersuchen, und ihre Krankheit wurde früh erkannt. Jetzt geht es ihr gut, und sie ermutigt andere zum Screening.

Bill ignorierte den Rat, zum Screening zu gehen. Jetzt leidet er an einer fortgeschrittenen Krankheit (oder er ist gestorben). Er (oder seine Familie) bedauert seinen Fehler.

Beabsichtigte Botschaft

Wer zur Vorsorgeuntersuchung geht, kann die Folgen der Krankheit vermeiden. Screening rettet Leben. Lassen Sie sich untersuchen.

Alle, die an Krankheiten leiden, hätten dies durch Früherkennung vermeiden können. Screening rettet Leben. Lassen Sie sich untersuchen.

Alternative Interpretationen

1. Betty hätte vielleicht keine Diagnose gebraucht (d. h., es liegt eine Überdiagnose vor).

2. Betty würde es ebenso gut gehen (und sie wäre nicht so lange Patientin gewesen), wenn die Diagnose erst nach dem Auftreten von Symptomen gestellt worden wäre.

3. Die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Es ist immer noch möglich, dass Betty an ihrer Krankheit stirbt (oder leiden muss), trotz der frühen Diagnose und Behandlung.

1. Bills Krankheit wäre vielleicht trotz Vorsorgeuntersuchung übersehen worden.

2. Bills Krankheit wäre vielleicht trotz der frühen Diagnose nicht besser therapierbar gewesen.

Wenn Sie das alles im Auge behalten, können Sie Michelles Geschichte umschreiben. (Anmerkung: Alle Zitate stammen von realen Patienten, die ihre Geschichte nach einer Behandlung wegen Schilddrüsenkrebs auf der Website veröffentlicht haben.)

Michelle hatte Ohrenschmerzen. Doch anstatt sich mit ihrem Hauptproblem zu befassen, untersuchte ihr HNO-Arzt sie auf Schilddrüsenkrebs. Er glaubte, in ihrem Hals einen Knoten zu spüren.

Michelle war verwirrt. Sie wollte ihre Ohrenschmerzen loswerden und bekam nun zu hören, sie brauche eine Schilddrüsenbiopsie. Nachdem der Arzt ihr die schrecklichen Folgen (und Therapien) eines fortgeschrittenen Schilddrüsenkarzinoms beschrieben hatte, glaubte sie, seinen Rat befolgen zu müssen.

Kurze Zeit später unterzog sie sich einer fünfstündigen Operation, während der ein HNO-Chirurg nicht nur ihre Schilddrüse, sondern auch 78 Lymphknoten aus ihrem Hals entfernte.

Einen Monat später hatte Michelle immer noch Halsschmerzen und eine schwache Stimme. Ihr Arzt meinte, bei der Operation sei vielleicht nicht die ganze Schilddrüse entfernt worden; daher sei eine Therapie mit radioaktivem Jod notwendig, um verbliebenes Schilddrüsengewebe zu zerstören.

Um sich auf die Therapie vorzubereiten, musste sie sich zwei Wochen lang jodfrei ernähren, also ohne Milchprodukte. »Als ich die Anweisungen für die Diät las, hatte ich den Eindruck, ich dürfe überhaupt nichts mehr essen.« Für die Therapie musste sie erneut ins Krankenhaus. Ein Radiologe kam mit einem eiförmigen Bleibehälter in den Behandlungsraum. Er enthielt eine Ampulle mit einer purpurroten Tablette.

»Mit einer Pinzette beförderte er die Tablette in eine kleine Tasse. Er wies mich an, die Tasse zu nehmen und die Tablette mit reichlich Wasser zu schlucken. Nachdem ich das getan hatte, verließ er den Raum ziemlich rasch. Ich vermute, er wollte sich keiner Strahlung aussetzen. Wahrscheinlich würde ich das auch nicht wollen, wenn ich nicht Krebs behandeln müsste. Fünf Minuten später kam jemand mit einem Geigerzähler und maß meine Radioaktivität.

In den nächsten sieben Tagen musste ich anderen aus dem Weg gehen. Meinem Mann, meinem Hund – so ziemlich allen.«

Sie bekam synthetische Schilddrüsenhormone, weil ihr Körper diese ohne Schilddrüse nicht mehr selbst bilden konnte.

Anfangs nahm sie ab. Sie bemerkte, dass sie öfter schwitzte und dass ihr Herz raste. Ihre Ärzte schlossen daraus, dass die Hormondosis zu hoch war. Nachdem die Dosis gesenkt worden war, nahm Michelle zu. Einige Pfund zu viel. Sie litt an Verstopfung und war ständig müde. Die Ärzte verordneten ihr eine mittlere Dosis.

»Heute weiß ich, dass mein Organismus einfach herunterfährt, wenn ich zu wenig Hormone einnehme. Ich werde so träge, dass ich nicht einmal einen halben Tag durchhalte. Das war ein jämmerlicher Zustand, und ich habe Mitleid mit allen, die aus diesem Zustand nicht herauskommen.

Die Stabilisierung meines Hormonstatus war einer der schwierigeren Aspekte des ganzen Prozesses, weil die Schilddrüse den Stoffwechsel reguliert.«

Seither interessiert sich Michelle für die Gesundheitsfürsorge. »Da ich jetzt eine ›Vorerkrankung‹ habe, frage ich mich, ob ich noch eine Krankenversicherung finde, die mich nimmt. Ich war eben bei einem Treffen mit Präsident Obama im Rathaus. Es ging um die Gesundheitsreform. Als er über Vorerkrankungen sprach und über Versicherungen, die Antragssteller deswegen ablehnen, wurde mir meine Situation bewusst. Ich bin neugierig, was aus dieser Gesundheitsreform wird.«

Sie las mehr über Schilddrüsenkrebs und war überrascht, als sie erfuhr, dass viele Menschen daran erkranken, aber nicht daran sterben. Besonders erstaunt war sie darüber, dass sich die Zahl der Menschen, die an Schilddrüsenkrebs sterben, trotz aller zusätzlich entdeckten Schilddrüsenkarzinome nicht verändert.

Obwohl ihre Ohrenschmerzen längst verschwunden sind, leidet sie immer noch an den Nebenwirkungen der Behandlung. Sie fragt sich, ob es richtig war, dem Rat des Arztes zu folgen. Hat sie das alles unnötig durchgemacht? Sollte sie jetzt zu einem Anwalt gehen anstatt zu einem Arzt?

Das hört sich anders an, nicht wahr?

Der häufige, aber falsche quantitative Vergleich

Zahlen haben die Eigenart, dass sie Behauptungen glaubhafter machen. Ich denke, dass manche Leute deswegen den Ausdruck harte Zahlen verwenden. Doch selbst harte Zahlen können irreführend sein. Nehmen wir an, Sie wollen herausfinden, welchen Wert eine Mammografie bei älteren Frauen hat. Sie stoßen auf eine Pressemeldung mit dem Titel »Mammografie kann für alle Frauen nützlich sein, unabhängig vom Alter«.4 In dem Artikel finden Sie folgende Überlebensstatistik:

Von den Brustkrebspatientinnen, die achtzig Jahre alt oder älter waren und auf eine Mammografie verzichtet hatten, lebten nach fünf Jahren noch 82 Prozent. Von den Frauen, die sich einer Mammografie unterzogen hatten, lebten nach fünf Jahren noch 94 Prozent.

Wenn die Zahlen stimmen (das ist wahrscheinlich der Fall), sind sie anscheinend ein starkes Argument für den Wert der Mammografie bei älteren Frauen. Nur 82 Prozent der älteren Brustkrebspatientinnen überleben ohne Mammografie die nächsten fünf Jahre. Bei den Frauen, die sich einer Mammografie unterzogen haben, sind es hingegen 94 Prozent. Das sieht eindeutig aus: Mammografie ist sinnvoll. Aber – was für eine Überraschung! – diese Zahlen sagen gar nichts über den Wert der Mammografie bei älteren Frauen.

Die Meldung ist nichts weiter als die numerische Version der allgemeinen Aussage, dass manche Patientinnen nach einer Früherkennung eine gute Prognose haben. Aber wenn die Zahlen so überzeugend sind, ist es noch schwieriger zu erkennen, dass diese günstigen Prognosen möglicherweise weniger über den Wert einer frühen Diagnose aussagen als über den natürlichen Verlauf der neu entdeckten Krankheit.

Das Grundproblem besteht darin, dass die Zahlen, die so oft in Nachrichten wie der oben zitierten zu lesen sind, nicht aus randomisierten Studien stammen. Stattdessen vergleichen sie Menschen, die zur Vorsorgeuntersuchung gehen, mit Menschen, die das nicht tun, und diese Gruppen können sich in vielen wichtigen Aspekten unterscheiden, nicht nur hinsichtlich ihrer Teilnahme an der Mammografie. Menschen, die sich für ein Screening entscheiden, sind in der Regel gebildeter, wohlhabender und gesundheitsbewusster (zum Beispiel ist die Zahl derer, die Sport treiben, und die Zahl der Nichtraucher in dieser Gruppe höher). Solche Vergleiche sind also bequem, aber falsch. Den Menschen, die am Screening teilnehmen, geht es deshalb besser als anderen, weil sie von Anfang an gesünder sind, nicht weil sie untersucht wurden. (Beachten Sie, dass es hier um viel mehr geht als um »gesundheitsbewusstes Leben«; es geht auch um das Einkommen und andere sozioökonomische Faktoren, die Einfluss auf die Gesundheit haben.)

Doch selbst wenn diese zwei Gruppen in jeder Hinsicht vergleichbar wären – außer in ihrer Entscheidung für oder gegen die Mammografie – und selbst wenn diese Zahlen aus einer randomisierten Studie stammen würden, wäre der Unterschied in der Überlebensdauer kein Beweis für den Nutzen der Mammografie. Nehmen wir an, bei 1000 Frauen wurde vor fünf Jahren Brustkrebs diagnostiziert. Wenn heute noch 820 dieser Frauen leben, sind das 820 dividiert durch 1000, also 82 Prozent. Wenn heute noch 940 dieser Frauen leben, sind das 940 dividiert durch 1000, als so 94 Prozent. Aber selbst wenn die Mammografie die Zahl der Überlebenden nach fünf Jahren von 82 auf 94 Prozent vergrößert hat, wie der Artikel behauptet, ist es durchaus möglich, dass keine Frau, die zur Mammografie ging, auch nur einen Tag länger lebte, als sie ohne Untersuchung gelebt hätte. Für diesen scheinbaren Widerspruch gibt es zwei Erklärungen. Epidemiologen sprechen von Lead time bias (Verzerrung durch Vorverlegung des Diagnosezeitpunkts) und Überdiagnose-Bias. Beides wird verständlicher, wenn wir ein einfaches Gedankenexperiment machen, bei dem wir zunächst annehmen, dass die Mammografie niemandem hilft, länger zu leben, und zum Schluss nachweisen, dass die Zahl der Überlebenden nach fünf Jahren dennoch steigen kann.

Lead-time Bias

Stellen Sie sich eine Gruppe von Frauen mit Brustkrebs vor, die alle im Alter von neunzig Jahren sterben werden, einerlei, ob die Diagnose bei ihnen anhand einer Mammografie oder auf der Grundlage von klinischen Symptomen gestellt wird. Wenn sie alle die Diagnose im Alter von sechsundachtzig Jahren nach einer Mammografie erfahren, beträgt die Überlebensrate nach fünf Jahren 0 Prozent. Da alle im Alter von neunzig Jahren sterben, lebt jede von ihnen nach der Diagnose nur noch vier Jahre. Nehmen wir nun an, dieselben Frauen haben sich einer Mammografie unterzogen. Dadurch werden Karzinome früher entdeckt, sagen wir zwei Jahre früher (das ist die lead time oder Vorlaufzeit). Jetzt erhalten alle Frauen ihre Diagnose im Alter von vierundachtzig statt sechsundachtzig Jahren. Auf einmal beträgt die Überlebensrate nach fünf Jahren 100 Prozent, obwohl alle Frauen dennoch im Alter von neunzig Jahren sterben. Frühe Diagnosen vergrößern die Überlebensrate (in diesem Fall die Überlebensrate nach fünf Jahren) immer, aber sie verlängern nicht unbedingt das Leben. Dieser Effekt wird Lead-time Bias genannt und ist in Abbildung 10.1 dargestellt.

Natürlich ist das eine Vereinfachung. Ich bin davon ausgegangen, dass die Diagnose bei allen Frauen früh erfolgte, nämlich im Alter von vierundachtzig Jahren. Aber nicht alle müssen die Diagnose früh erhalten, damit der Lead-time Bias zum Tragen kommt. Dafür sind nur ein paar Frauen notwendig, deren Diagnose mehr als fünf Jahre vor ihrem Tod gestellt wird. Dann steigt die Zahl der Überlebenden, selbst wenn kein einziger Todeszeitpunkt hinausgeschoben wird. Eine frühe Diagnose steigert die Überlebenszeit nach dem Diagnosetermin immer; doch in diesem Fall bedeutet die »höhere Überlebenszeit« vielleicht nur, dass die Betroffenen länger über ihren Krebs Bescheid wissen.

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Abbildung 10.1 Lead-time Bias – Früherkennung verlängert die Überlebenszeit, aber nicht das Leben

Überdiagnose-Bias

Selbst wenn niemandem das Leben gerettet wird, kann die Überlebenszeit nach einer frühen Diagnose auch dann verlängert sein, wenn Überdiagnosen vorliegen. Wenn bei einer Vorsorgeuntersuchung Anomalien entdeckt werden, die nach der Definition der Pathologen Krebs sind (das heißt, wenn Zellen unter dem Mikroskop wie Krebszellen aussehen), aber nie Symptome oder den Tod verursachen werden, sieht die Überlebensstatistik eindrucksvoller aus. Angenommen, in einer Stadt haben tausend Frauen Symptome von Brustkrebs – jede spürt einen Knoten in der Brust. Fünf Jahre nach der Diagnose sind 700 Frauen am Leben, 300 sind gestorben. Die Überlebensrate nach fünf Jahren beträgt somit 70 Prozent. Nun drehen wir die Uhr zurück und nehmen an, dass jede Frau in der Stadt zur Mammografie geht. Diesmal wird die Diagnose »Krebs« vielleicht bei 1500 Frauen gestellt: bei den 1000, die Knoten in der Brust spüren, und bei weiteren 500, die Opfer einer Überdiagnose werden. Diese 500 werden in fünf Jahren nicht an Brustkrebs gestorben sein (weil der Tumor nie progressiv war). Trotzdem steigt die Überlebensrate nach fünf Jahren in der Stadt auf 80 Prozent, weil 1200 von 1500 Frauen, die eine Diagnose erhalten, überleben, einschließlich der 500 Frauen, bei denen eine Überdiagnose vorliegt. Aber was hat sich wirklich geändert? Fünfhundert Frauen bekamen grundlos zu hören, sie hätten Krebs (und litten vielleicht unter einer Therapie); aber die Zahl der Toten ist gleich geblieben. In beiden Fällen sind 300 Frauen an Brustkrebs gestorben. Diesen Effekt nennt man Überdiagnose-Bias. Er wird in Abbildung 10.2 dargestellt.

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Abbildung 10.2 Überdiagnose-Bias – Wie Überdiagnosen die Überlebensrate erhöhen, ohne ein einziges Leben zu retten

Gemeinsam blähen der Lead-time Bias und der Überdiagnose-Bias die Überlebensstatistik für Frühdiagnosen auf. Und dieser Effekt kann noch viel größer sein als hier dargestellt. Er kann die Überlebensrate nicht nur von 70 auf 80 Prozent erhöhen, sondern auch von 5 auf 90 Prozent. Alles, was wir hierfür brauchen, sind eine lange Vorlaufzeit und viele Überdiagnosen.

In beiden Gedankenexperimenten habe ich etwas unterstellt, um die Zahlen zu vereinfachen: dass die frühen Diagnosen weder nützen noch schaden. Aber Sie sollten wissen, dass diese Verzerrungen unabhängig von den wahren Auswirkungen der Früherkennung auftreten. Wenn die wahre Auswirkung einer frühen Diagnose ein gewisser Nutzen ist, vergrößern beide Verzerrungen diesen Effekt. Ist die wahre Auswirkung aber ein gewisser Schaden (zum Beispiel, weil unnötige Therapien das Leben der Menschen verkürzen), verdecken diese Verzerrungen den Schaden und erwecken vielleicht sogar den Anschein, als sei die Früherkennung vorteilhaft gewesen.5

An dem angenommenen Zeitraum von fünf Jahren ist übrigens nichts Besonderes. Die beiden Verzerrungen wirken sich auf jede Überlebensstatistik aus, wenn die Messung nach der Diagnose beginnt, einerlei, ob wir das Fazit nach zwei, siebeneinhalb oder zehn Jahren ziehen.6

Randomisierte Studien: Die einzige Quelle für unverzerrte Daten über den Wert der Früherkennung

Da Vergleiche der Überlebenszeit bei früh und spät entdeckten Krankheiten so irreführend sind, gibt es nur eine einzige zuverlässige Methode, um harte Fakten über den Wert der Früherkennung zu gewinnen: randomisierte Studien, die die Todesrate messen.

Wie Sie wissen, ist eine Studie randomisiert, wenn allein der Zufall bestimmt, welcher teilnehmende Patient behandelt wird und welcher nicht. Wenn Forscher aber wirklich etwas über den Wert der Früherkennung erfahren wollen, gibt es eine kleine Besonderheit: Die teilnehmenden Patienten müssen vor der Diagnose bestimmt werden. In einer randomisierten Studie über die Früherkennung werden völlig gesunde Menschen nach dem Zufallsprinzip entweder der Interventionsgruppe (Screening-Gruppe) oder der Kontrollgruppe zugeteilt. Dies geschieht in der Erwartung, dass einige Patienten in der Screening-Gruppe die symptomlose Anomalie aufweisen, nach der wir suchen, und dass sie sich dann behandeln lassen. Die Studie untersucht, wie es der Screening-Gruppe im Vergleich zur nicht untersuchten Gruppe geht.

Eine Zufallsauswahl vor der Diagnose ist die beste Möglichkeit, die Auswirkungen der Früherkennung vollständig zu erfassen. So haben wir die Mammografie, den Test auf verstecktes Blut im Stuhl bei der Dickdarmkrebs-Früherkennung, den PSA-Test bei der Prostatakrebs-Früherkennung und das Screening auf Bauchaortenaneurysmen geprüft. Derzeit prüfen wir auf diese Weise den Wert der Spiral-CT bei der Lungenkrebs-Früherkennung. Diese Studien sind deshalb so nützlich, weil sie prüfen, welche Wirkung wir erzielen, wenn wir intensiver nach Anomalien suchen, und weil sie eine Reihe von Fragen beantworten: Sinkt die Sterberate durch Screening? Welche weiteren Tests und Prozeduren müssen Patienten durchstehen, um herauszufinden, ob ihre früh entdeckten Anomalien ein Problem sind? Welche Nebenwirkungen oder Komplikationen drohen ihnen im Vergleich zu Menschen, die sich nicht an der Vorsorgeuntersuchung beteiligen? Wie viele zusätzliche Diagnosen sind die Folge des Screenings? Mit längeren Anschlussstudien können wir außerdem herausfinden, bei wie vielen Teilnehmern Überdiagnosen vorliegen.

Die Wahrheit ist, dass sehr wenige Screening-Tests, die wir bei symptomlosen Menschen vornehmen, diesen Anforderungen genügen. Das gilt unter anderem für körperliche Routineuntersuchungen, Routinebluttests und bildgebende Verfahren wie die Ganzkörper-CT zur Früherkennung. Es gibt keine randomisierten Studien zum Wert der Früherkennung bei vielen Krebsarten, zum Beispiel beim Haut-, Blasen-, Nieren-, Pankreas-, Eierstock-, Hoden- und Schilddrüsenkrebs.

Übertriebene Ergebnisse durchschauen

Angenommen, Sie haben eine randomisierte Studie gefunden, die untersucht, ob ein Screening auf Bauchaortenaneurysmen sinnvoll ist. Die Teilnehmer wurden vor der Diagnose nach dem Zufallsprinzip ausgewählt. Die Medien könnten das Ergebnis ungefähr so beschreiben: »Screening auf Bauchaortenaneurysmen senkt Zahl der Todesfälle durch Aortenriss um 44 Prozent.« Genügt Ihnen das, um den Wert des Screenings einzuschätzen? In der Schlagzeile geht es um das relative Risiko, wie so oft in den Medien. Ein Rückgang um 44 Prozent hört sich gut an. Aber wenn Sie die absoluten Risiken kennen – danach sank die Sterberate von 3,4 pro 1000 auf 1,9 pro 1000 innerhalb eines Zeitraumes von fünf Jahren –, können Sie das Resultat besser beurteilen. Einerlei, was ein Individuum tut oder nicht tut, die Chance, dass ein Aneurysma nicht reißt, ist höher als 996 pro 1000. aber das können Sie unmöglich wissen, wenn Sie die Zahlen für das absolute Risiko nicht kennen.

Relative Risiken sagen Ihnen sehr wenig. Ein relatives Risiko, zum Beispiel ein halbiertes Risiko, ist mit unendlich vielen absoluten Risiko-Paaren vergleichbar (von 500 auf 250 pro 1000; von 100 auf 50 pro 1000; von 20 auf 10 pro 1000; von 4 auf 2 pro 1000; von 0,1 auf 0,05 pro 1000 und so weiter). Die Grundidee ist ziemlich einfach: Wenn die Sterblichkeit an einer häufigen Krankheit um 44 Prozent sinkt, ist das wichtiger, als wenn die Sterblichkeit an einer seltenen Krankheit um 44 Prozent sinkt. Das relative Risiko verbirgt diese Tatsache. Dennoch ist in den Medien viel häufiger von relativen Risiken als von absoluten Risiken die Rede. Der Hauptgrund dafür ist meiner Meinung nach, dass relative Veränderungen meist dramatischer aussehen als absolute.7 Das gilt vor allem dann, wenn das Risiko, um das es geht, sehr klein ist. Was hört sich eindrucksvoller an: ein um 44 Prozent reduziertes Risiko oder eine Sterberate, die von 3,4 pro 1000 auf 1,9 pro 1000 sinkt? Um Menschen für die Früherkennung zu gewinnen, sind relative Risiken viel effektiver als absolute.

Prüfen Sie beide Seiten der Medaille

Es genügt nicht zu wissen, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Früherkennung Ihnen nützt. Sie müssen auch wissen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie Ihnen nichts nützt, dass Sie sich unnötig Sorgen machen, dass Sie das Opfer einer Überdiagnose und unnötig behandelt werden oder dass die Therapie Ihnen schadet. Eine gute randomisierte Studie kann Ihnen alle Informationen liefern, die Sie brauchen, um das Gesamtbild zu sehen (obwohl es nicht immer einfach ist, alle Informationen in einer einzigen Studie zu finden).

Um Ihnen zu zeigen, was ich meine, möchte ich zu dem Screening-Test zurückkehren, der am besten analysiert wurde: zur Mammografie. Im Rahmen von zehn randomisierten Studien wurden weltweit über eine halbe Million Frauen untersucht. Die Ergebnisse sind nicht einheitlich, aber man ist sich darüber einig, dass die Mammografie nützlich ist. Wenn wir die Daten aller Studien kombinieren, lautet die beste Schätzung: Die Mammografie verringert die Sterblichkeit an Brustkrebs um etwa 20 Prozent.8 Das ist eine Aussage über das relative Risiko. Und dies ist das derzeitige absolute Risiko einer durchschnittlichen fünfzigjährigen Frau: Ohne Mammografie sterben innerhalb von zehn Jahren 5 von 1000 Frauen, mit Mammografie etwa 4 von 1000. Das bedeutet, dass sich rund 1000 Frauen zehn Jahre lang untersuchen lassen müssen, damit eine davon profitiert.9

Es ist einfach, sich auf die eine Frau zu konzentrieren, der geholfen wird. Aber was ist mit den anderen 999? Sie werden geröntgt, ohne einen Nutzen davon zu haben. Auf jede Frau, die profitiert, kommen mindestens zwei, die Opfer einer Überdiagnose und einer unnötigen Behandlung werden. Manche Wissenschaftler gehen sogar von bis zu zehn solchen Opfern aus.10 Zudem wird der Brustkrebs bei einigen Frauen, etwa bei 5 bis 15 pro 1000, durch die Mammografie in jüngeren Jahren entdeckt, ohne dass die Prognose sich ändert (wer einen tödlichen Krebs hat, stirbt; den anderen würde es bei einer späteren Diagnose genau so gut gehen) – sie leben also nur länger mit dem Wissen, dass sie Krebs haben. Und viele Frauen, 250 bis 500 pro 1000, bekommen falschen Alarm – ein Mammogramm deutet auf Krebs hin, aber die Vermutung erweist sich (durch ein zweites Mammogramm oder eine Biopsie) als falsch. Diese Zahl ist in den Vereinigten Staaten besonders hoch. Wissenschaftler schätzen, dass im Laufe von zehn Jahren die Hälfte der Frauen, die einmal im Jahr zur Mammografie gehen, mindestens einen Fehlalarm erlebt und dass etwa ein Fünftel von ihnen mindestens einmal biopsiert wird.11

Ich finde, Tabelle 10.2 ist ein Beispiel für eine ausgewogene Information, die wir brauchen, um vernünftige Entscheidungen über das Screening zu treffen.

Tabelle 10.2 Beide Seiten der Medaille – eine Bilanz der mammografischen Früherkennung bei fünfzigjährigen Frauen

1000 Fünfzigjährige gehen 10 Jahre lang jährlich zur Mammografie:

Vorteile

Nachteile

1 entgeht dem Tod durch Brustkrebs

2 bis 10 werden Opfer einer Überdiagnose und unnötig behandelt

5 bis 15 erfahren früher als ohne Screening,
dass sie Brustkrebs haben; ihre Prognose
wird davon jedoch nicht beeinflusst.12

250 bis 500 erleben mindestens
einen falschen Alarm

(etwa die Hälfte von ihnen wird biopsiert)

Diese Bilanz wird uns nicht oft vorgelegt; aber immer mehr Menschen verlangen vollständige Rechenschaft über die Auswirkungen der Früherkennung.13 In Großbritannien haben Wissenschaftler und Patientenschützer vor Kurzem durchgesetzt, dass der staatliche Gesundheitsdienst des Landes seine Broschüre über die mammografische Früherkennung umgeschrieben hat. Er weist nun ausdrücklich auf diese Zahlen hin und informiert die Patientinnen zum ersten Mal genau über Überdiagnosen.

Einige der überzeugendsten Aussagen zur Gesundheit handeln von der Früherkennung. Leider sind die Beweise weniger überzeugend. Der Nutzen der Früherkennung ist oft unbekannt; aber er muss klein sein – einfach deshalb, weil nur wenige Gesunde die Krankheit bekommen, die bekämpft werden soll. Darum müssen an guten, randomisierten Studien über einen langen Zeitraum viele Menschen teilnehmen.

Wenn es solche Studien gibt, wissen Sie immer noch nicht, ob das Screening den Menschen hilft. Sie wollen wissen, in welchem Umfang es hilft: Wie stark hat die Früherkennung das absolute Sterberisiko (oder das Risiko für ein Fortschreiten der Krankheit) verändert? Und Sie wollen wissen, was die Menschen durchgemacht haben, um von der Untersuchung zu profitieren: Wie viele Menschen wurden untersucht, wie oft kam es zu einem Fehlalarm, wie viele Überdiagnosen gab es, und wie viele Menschen mussten unter unnötigen Behandlungen leiden? Diese Daten sind nicht so leicht erhältlich, wie sie sein sollten. Ich hoffe, dass sich das bald ändert (einige Wissenschaftler arbeiten daran).

Aber in Wahrheit werben viele Stellungnahmen für die Früherkennung, obwohl ihnen keine randomisierten Studien zugrunde liegen. Sie enthalten stattdessen bequeme, aber fehlerhafte Zahlen (wie die Überlebensrate in fünf Jahren), persönliche Anekdoten über Leute, deren Leben »gerettet« wurde, oder furchteinflößende Behauptungen über eine neue Epidemie. Keine dieser Aussagen enthält die Information, die Sie wirklich brauchen: Senkt die Früherkennung das Sterberisiko?