Kapitel 8
Wir suchen intensiver nach allem Möglichen
Wie apparative Untersuchungen Ihnen (und Ihrem Baby) weitere Probleme bescheren
Unsere Begeisterung für Vorsorgeuntersuchungen geht weit über den Krebs hinaus. Wir forschen nach Anomalien im Herzen und in den Blutgefäßen, nach Stoffwechselstörungen (zum Beispiel Diabetes und Schilddrüsenunterfunktion), nach Osteoporose und sogar nach Anomalien bei Kindern im Mutterleib. Und die Verfahren, die wir anwenden, gehen weit über die Abbildung von Organen hinaus. Sie reichen von ausgeklügelten biochemischen Messungen in spezialisierten Labors bis zur elektronischen Überwachung fundamentaler physiologischer Funktionen. Das Paradigma, das allen diesen Untersuchungen zugrunde liegt, ist jedoch das Gleiche: Wir suchen gründlich, um Anomalien zu entdecken, weil wir glauben, dass Frühdiagnosen – und darauffolgende Behandlungen – die Gesundheit verbessern. Dieses Paradigma ist weitverbreitet, so weit, dass ich unmöglich auf alle Vorsorgeuntersuchungen neben der Krebsfrüherkennung eingehen kann – dafür wäre ein eigenes Buch notwendig. Stattdessen möchte ich an einem Beispiel zeigen, was die moderne Medizin zu bieten hat.
Die Herzfunktion wird gründlich untersucht
Nachdem ich für den öffentlichen Gesundheitsdienst der USA gearbeitet hatte, setzte ich 1985 meine medizinische Ausbildung als Assistenzarzt für innere Medizin in der Klinik der University of Utah fort. Die Klinik war technisch vorzüglich ausgestattet, und ihre kompetenten Herzspezialisten waren im ganzen Land anerkannt. Unmittelbar vor meiner Ankunft hatte die Klinik als Erste das Jarvik-Kunstherz implantiert (obwohl dieses Gerät anfangs auf große Begeisterung und öffentliche Aufmerksamkeit stieß, war es ein Fehlschlag und wurde 1990 vom Markt genommen). Außerdem war sie eines der ersten amerikanischen Zentren für Herztransplantationen. Aber die Technik, an die ich mich am besten erinnere, wurde nicht eingesetzt, um Herzkrankheiten zu behandeln, sondern um sie aufzuspüren.
Seit mehr als fünfzig Jahren studieren die Ärzte dieser Klinik den Herzrhythmus mithilfe von Elektrokardiogrammen (EKGs). EKGs zeichnen die elektrischen Impulse auf, die das Herz zum Schlagen anregen, damit es Blut pumpen kann. Im Laufe der Jahrzehnte wurde die EKG-Elektronik so stark verkleinert, dass wir das Herz eines Patienten überwachen können, während er seinen alltäglichen Verrichtungen nachgeht. Heute ist die Technik derart fortgeschritten, dass das Gerät Daten ständig abspeichert, die wir später am Computer analysieren können und mit denen wir die Muster Tausender von Herzschlägen rasch überblicken.
Während meiner Zeit als Assistenzarzt beteiligte sich die University of Utah an der landesweiten CAST-Studie (Cardiac Arrhythmia Suppression Trial, einer Studie zur Vermeidung von Herzrhythmusstörungen), die knapp über 1700 Patienten nach einem Herzinfarkt überwachte. Manche Menschen leiden nach einem solchen Infarkt an starken Störungen des Herzrhythmus. Ihr Herz schlägt zu schnell oder viel zu langsam oder fällt abwechselnd in beide Extreme. Diesen Patienten geht es nicht gut. Ihr Blutdruck kann jäh absacken und zu einigen weiteren Symptomen führen: Manche fühlen sich schwach oder benommen, andere können nicht sicher stehen, wieder andere verlieren das Bewusstsein oder sterben sogar. Patienten mit einem dieser Symptome durften nicht an der Studie teilnehmen. Die CAST-Studie konzentrierte sich auf Patienten, denen es nach ihrem Herzanfall gut ging. Die Forscher suchten nach Anomalien im Herzrhythmus, von denen die Kranken ohne die Überwachung nie etwas bemerkt hätten. Sie fürchteten, dass symptomlose Herzrhythmusstörungen, vor allem zusätzliche Herzschläge, die Gefahr von tödlichen Rhythmusstörungen vergrößern, und wollten herausfinden, ob eine frühe Diagnose und Behandlung symptomloser Anomalien einen plötzlichen Tod im Jahr nach dem Herzinfarkt verhindern kann.
Obwohl die Wissenschaftler planten, die Patienten zu Hause zu überwachen, begannen sie damit in der Klinik, um das Vorgehen zu standardisieren. Ein Herzinfarktpatient, dem es gut ging und der kurz vor der Entlassung stand, wurde zuerst in eine Spezialabteilung geschickt und an einen kleinen Herzmonitor angeschlossen. Assistenzärzte wie ich hatten die Aufgabe, auf die Daten des Monitors zu reagieren.
Das machte uns verrückt. Die Patienten fühlten sich gut, aber ihre Monitore schlugen andauernd Alarm. Es schien, als litten alle Patienten an Anomalien. Und wir behandelten sie. Wir änderten die Medikation ständig, um das richtige Präparat zu finden und den Rhythmus zu normalisieren. Gelegentlich sah es so aus, als hätten wir damit Erfolg. Meist schienen unsere Bemühungen jedoch fruchtlos zu bleiben. Und manchmal verschlimmerten sie offenbar den Zustand der Patienten. Viele von uns fanden die ganze Sache verrückt.
Das war sie auch. CAST war eine randomisierte Studie. Etwa die Hälfte der Patienten erhielt Placebos. Mit anderen Worten, wir ignorierten im Grunde die Monitorsignale bei etwa 850 Patienten. Das stellte sich als richtig heraus; denn es ging ihnen besser als der behandelten Gruppe. Nach zwei Jahren wurde die Studie abgebrochen, weil klar war, dass die Medikamente tödliche Rhythmusstörungen nicht verhinderten, sondern sogar verursachten. Die Sterblichkeit war bei den behandelten Patienten zweieinhalb Mal so hoch wie in der Placebogruppe. Die Wissenschaftler probierten es erneut. Dieses Mal konzentrierten sie sich auf die schwersten Herzrhythmusstörungen und verwendeten ein anderes Medikament (CAST-II-Studie). Doch wieder starben in der behandelten Gruppe mehr Menschen.1
Dies war eine der ersten Studien, die Zweifel in mir weckten, ob es richtig ist, intensiv nach Anomalien zu suchen. Wenn Ihr Herzrhythmus so gestört ist, dass Symptome auftreten, sollten Sie eine Diagnose verlangen und sich behandeln lassen. Intensiv nach symptomlosen elektrischen Anomalien im Herzen zu suchen und diese zu behandeln, ist jedoch etwas ganz anderes.
Das Herz ist nicht der einzige Muskel, der von elektrischen Impulsen stimuliert wird. Das Nervensystem benutzt elektrische Impulse, um Kontraktionen der Muskeln im Körper auszulösen. Wir können daher die Aktivität jedes beliebigen Muskels überwachen, auch der Gebärmutter. Deren Wände ziehen sich während des Geburtsvorgangs zusammen. Das ist ein normaler Vorgang, sofern er nicht zu früh beginnt. Frühgeburten sind eine der Hauptursachen für Krankheiten, Verletzungen und Todesfälle bei Kleinkindern. Da in den Vereinigten Staaten jährlich 500 000 Babys zu früh geboren werden, hofften einige Ärzte, dass die frühe Diagnose vorzeitiger Gebärmutterkontraktionen, gefolgt von einer Behandlung, die sie unterbindet, einige Frühgeburten verhindern kann.
Anfang der neunziger Jahre initiierte die kalifornische Gesundheitsorganisation Kaiser Permanente eine randomisierte Studie, an der rund 2400 Schwangere teilnahmen, bei denen das Frühgeburtsrisiko hoch war.2 Untersucht wurde, ob es sinnvoll ist, bei solchen Frauen die Gebärmutter zu überwachen. Die beiden häufigsten Risikofaktoren waren Zwillingsschwangerschaften (hier sind Frühgeburten häufig) und Frühgeburten in der Vergangenheit. Frauen in der Interventionsgruppe bekamen einen Gebärmuttermonitor und wurden angewiesen, diesen zu Hause jeden Morgen und Abend eine Stunde lang zu benutzen. Die Daten mussten sie sofort telefonisch einem Geburtshilfezentrum übermitteln. Die Mitarbeiter des Zentrums werteten die Daten aus, und wenn es Anzeichen für vorzeitige Kontraktionen gab, rieten sie den Frauen, einen Arzt aufzusuchen. Um sicherzustellen, dass die Frauen die Regeln einhielten, wurden die Frauen der Interventionsgruppe außerdem täglich von Krankenschwestern angerufen.
Die Frauen in der Kontrollgruppe wurden einmal in der Woche lediglich kontaktiert. Sie bekamen keine Monitore, und man versuchte nicht, Anzeichen für frühe Kontraktionen zu entdecken. Die Studie dauerte vier Jahre und zeigte, dass die überwachten Frauen häufiger medizinisch behandelt wurden. Sie gingen fast zweimal so oft außerplanmäßig zu ihrem Gynäkologen als die nicht überwachten Frauen (durchschnittlich 2,3 gegenüber 1,2 Besuche), und die Wahrscheinlichkeit, dass sie Medikamente bekamen, um die Aktivität der Gebärmutter zu unterdrücken, war um 50 Prozent höher als bei den Frauen der Kontrollgruppe (in der Interventionsgruppe wurden 19 Prozent der Frauen behandelt, in der Kontrollgruppe nur 12 Prozent). Auf die Zahl der Frühgeburten hatte die Überwachung jedoch keinen Einfluss: 14 Prozent der Frauen in beiden Gruppen brachten ihr Kind zu früh zur Welt. Alle zusätzlichen Diagnosen waren also Überdiagnosen, und jede zusätzliche Behandlung war eine Überbehandlung. Heute gilt die Überwachung der Gebärmutter zu Hause nicht mehr als Teil der normalen Geburtshilfe.
Die Herzfunktion des Babys wird gründlich untersucht
Heute können wir auch die elektrischen Impulse im Herzen eines Babys während des Geburtsvorganges überwachen. Dabei wird der Schwangeren meist ein Gürtel umgelegt, der ein Ultraschallgerät enthält. Die elektronische Überwachung des Fetus wird seit fast fünfzig Jahren praktiziert. Man will damit sicherstellen, dass der Fetus während der Geburt genügend Sauerstoff bekommt. Wenn nicht, sinkt die Herzfrequenz des Kindes oft beträchtlich. Wenn ein Geburtshelfer auf dem Monitor eine langsamere Herzfrequenz beobachtet, entscheidet er sich vielleicht für einen sofortigen Kaiserschnitt. Dabei wird das Kind aus dem Bauch der Mutter geholt. Das ist eine große Operation. Eine langsame Herzfrequenz auf dem Monitor führt nicht zu einer geplanten Operation, sondern zu einem Notkaiserschnitt bei einer Frau, die versucht hat, ihr Kind vaginal zu gebären. Wie bei den meisten anderen Operationen sind Kaiserschnitte riskanter, wenn es sich um Notoperationen handelt. Die Situation ist weniger beherrschbar, die Helfer sind nicht so gut auf sie eingestellt, und die Gefahr von Komplikationen ist größer.
Die Cochrane Collaboration, eine unabhängige internationale Organisation, die Forschungsergebnisse über die Auswirkungen der Gesundheitsfürsorge sammelt, analysiert seit Jahren Studien zur elektronischen Überwachung des Fetus. Obwohl die Wissenschaftler experimentelle Studien unter die Lupe nahmen, an denen mehr als 37 000 Frauen beteiligt waren, fanden sie wenige Anhaltspunkte dafür, dass Monitore einen Nutzen haben. Überwachte Feten sind bei der Geburt offenbar nicht gesünder, wenn man die sogenannten Apgarwerte zugrunde legt, die standardisierte Beurteilung des Aussehens, des Pulses, der Mimik, der Aktivität und der Atmung eines Neugeborenen. Die Überwachung verringert auch nicht die Zahl der Neugeborenen, die an zerebraler Kinderlähmung erkranken, in die sogenannten Intensivstation gebracht werden müssen oder sterben.3 Der einzige Vorteil, den die Forscher fanden, war ein geringeres Krampfanfallrisiko bei Kleinkindern, die als Feten überwacht worden waren – ihre Zahl sank von etwa zwei Anfällen auf einen Anfall je tausend Geburten.
Aber die Monitorüberwachung führt viel häufiger zu Notkaiserschnitten, wie Sie vielleicht schon vermutet haben. Der Cochrane-Analyse zufolge stieg die Zahl der Kaiserschnitte um 66 Prozent. Und Kaiserschnitte kommen viel häufiger vor als Krampfanfälle, vor allem in den Vereinigten Staaten. Wenn wir diese Daten auf die USA übertragen (wo fünf der zwölf Studien durchgeführt wurden), bedeuten sie, dass die Zahl der Kaiserschnitte wegen der Monitorüberwachung von etwa 200 je 1000 Geburten auf 330 je 1000 Geburten gestiegen ist.4
Abbildung 8.1 vergleicht die Vor- und Nachteile der elektronischen Überwachung von Feten in der Gebärmutter (intrauterin).

Abbildung 8.1 Folgen der intrauterinen elektronischen Fetusüberwachung
Nein, das ist kein Druckfehler. Die linke Seite der Abbildung scheint leer zu sein, weil Krampfanfälle im Vergleich zu Kaiserschnitten so selten sind (aber glauben Sie mir, der Unterschied zwischen den zwei Anfällen je tausend Geburten ohne Fetusüberwachung und dem einen Anfall je tausend Geburten mit Überwachung ist vorhanden). Allerdings ist nicht ganz klar, wie man Krampfanfälle mit Kaiserschnitten vergleichen kann; sie sind wie Äpfel und Birnen. Klar ist jedoch, dass der Nutzen der elektronische Fetusüberwachung verschwindend gering ist: Wir müssen 130 Kaiserschnitte vornehmen, um einen Anfall zu verhindern. Die anderen 129 Fälle sind Überdiagnosen – bei diesen Babys wurde eine abnorm niedrige Herzfrequenz diagnostiziert, ohne dass ein Notkaiserschnitt erforderlich war.
Im Jahr 1996 riet die amerikanische Preventive Services Task Force (PSTF), das unabhängige Expertengremium, das Vorsorgeuntersuchungen bewertet, von der routinemäßigen Monitorüberwachung ab.5 Doch ihrer derzeitigen Website zufolge ist diese Überwachung in der Gesundheitsfürsorge derart üblich geworden, dass das Gremium anscheinend alle Versuche aufgegeben hat, Ärzte davon abzubringen:
Trotz fehlender Beweise für eine positive Wirkung auf die Gesundheit und trotz der Empfehlung der PSTF im Jahr 1996, sie nicht routinemäßig anzuwenden, ist die elektronische Monitorüberwachung von Feten während des Geburtsvorgangs in den Vereinigten Saaten zur üblichen Praxis geworden. Auf der Grundlage der aktuell verfügbaren Daten glaubt die PSTF, dass die Folgen für die klinische Praxis begrenzt wären, wenn sie die Empfehlung aus dem Jahr 1996 aktualisieren würde. Die PSTF wird die Empfehlung von 1996 nicht aktualisieren.
Die Überwachung von Feten ist in der Tat zu einem festen Bestandteil der Medizin geworden. Als die Regierung sich 1999 zum letzten Mal mit diesem Thema befasste, wurde die elektronische Fetenüberwachung in den USA bei 83 Prozent aller Geburten angewandt.6
Schwangeren wird Angst eingejagt
Schwangerschaft ist keine Krankheit; dennoch behandeln immer mehr Ärzte sie wie eine Krankheit. Niemand hat genaue Daten über die routinemäßige Geburtshilfe in den Vereinigten Staaten. Dank des Medicare-Programms besitzen wir zwar vorzügliche landesweite Daten über die medizinische Versorgung älterer Amerikaner; aber es gibt keine vergleichbare Organisation, die Informationen über den Umgang mit Schwangeren sammelt. Die Informationen, über die wir verfügen, lassen darauf schließen, dass die häusliche Monitorüberwachung der Gebärmutter keine gängige Praxis mehr ist, wohl aber die elektronische Monitorüberwachung von Feten während der Geburt und die Sonografie (Ultraschall-Überwachung).7
Die Sonografie wird heutzutage während einer Geburt routinemäßig eingesetzt. Zu der Zeit, als die Regierung sich mit der Fetusüberwachung befasste, wies sie zugleich darauf hin, dass 64 Prozent aller Frauen während der Schwangerschaft mindestens einmal mit Ultraschall untersucht werden. Bei der Sonografie werden keine Röntgenstrahlen benutzt, sondern Schallwellen mit einer so hohen Frequenz, dass Menschen sie nicht hören (daher die Vorsilbe Ultra-). Ultraschall liefert ein erstaunlich gutes Bild vom Fetus, und das ist zweifellos der Hauptgrund dafür, dass diese Untersuchung den erwartungsvollen Eltern gefällt. Trotzdem handelt es sich um eine Vorsorgeuntersuchung. Wir halten nach Anomalien beim Ungeborenen Ausschau, obwohl es keinen Grund zu der Annahme gibt, dass etwas nicht stimmt.
Als Dr. Schwartz schwanger war, stieß sie auf einen Artikel mit dem Titel »Sonografie in der Geburtshilfe: Die beste Methode, einer Schwangeren Angst einzujagen«. Als sie mir den Text zeigte, hatte ich den Verdacht, er stamme aus einer Zeitschrift von Naturaposteln oder aus einer alternativmedizinischen Veröffentlichung. Aber er war dem Journal of Ultrasound in Medicine entnommen, der offiziellen Zeitschrift des Amerikanischen Instituts für Ultraschall in der Medizin. Und der Autor war kein Außenseiter, der die Sonografie kritisierte, sondern Dr. Roy Filly, ein ausgemachter Insider. Filly ist Professor für Radiologie sowie für Gynäkologie und Geburtshilfe in einem der führenden medizinischen Zentren der USA, der medizinischen Fakultät der kalifornischen Universität in San Francisco. Dort leitet er seit Jahren die Abteilung für diagnostische Sonografie. Vor fast vierzig Jahren führte er eine der ersten Ultraschalluntersuchungen bei Schwangeren durch. In dem Artikel, der Dr. Schwartz und mich damals so überraschte, schrieb er:
Die Gelegenheit, einer erwartungsfrohen Mutter zu sagen: »Alles sieht gut aus«, war einer der Höhepunkte meines Berufs. Ich sehe heute noch die Woge der Erleichterung, die ihr über das Gesicht huschte. Es ist immer ein ergreifender Augenblick, gefolgt von einem »Danke, Herr Doktor«.
Heute denke ich anders darüber. Immer öfter fürchte ich mich vor dem Gespräch mit einer Patientin. Ich habe ihr Sonogramm studiert und etwas entdeckt, was die Mutter in Verwirrung und Angst stürzt. (…) Wenn ich morgen wieder zur Arbeit gehe, muss ich wahrscheinlich mit einer künftigen Mutter über eine »Anomalie« sprechen, die ich auf ihrem Sonogramm sehe, und ich weiß nicht, was ich ihr sagen soll.8
In den letzten paar Jahrzehnten haben Wissenschaftler zahlreiche Arbeiten über die anatomischen Anomalien veröffentlicht, die mit Trisomie-Syndromen zusammenhängen, einer gefürchteten Gruppe von Gendefekten. Der Name bedeutet, dass von einem Chromosom drei Kopien statt der normalen zwei vorhanden sind. Das bekannteste Trisomie-Syndrom ist das Down-Syndrom; aber es gibt noch einige andere. Das Problem ist, dass die anatomischen Anomalien, die mit diesen Gendefekten zusammenhängen – zum Beispiel »helle Flecken« im Herzen oder im Darm –, nicht sonderlich anormal sind. Man findet sie zwar bei Feten mit Trisomie, doch häufig auch bei normalen Feten. Dr. Filly schätzt, dass etwa 10 Prozent der normalen Feten mindestens eine dieser »Anomalien« aufweisen.
Die Trisomie-Syndrome sind ziemlich selten – sie kommen nur bei drei von tausend Lebendgeburten vor.9 Aber 10 Prozent aller normaler Feten weisen anatomische Anomalien auf, also hundert je tausend Lebendgeburten. Wenn wir also jeder Schwangeren eine Ultraschalluntersuchung zumuten, bekommen wir eine ganze Menge Überdiagnosen. Von hundert Feten mit Anomalien haben höchstens drei eine Trisomie.10 Die anderen siebenundneunzig wurden Opfer von Überdiagnosen, das heißt, die Diagnose »Anomalie« wird gestellt, obwohl diese »Anomalie« folgenlos bleibt. Doch wenn wir eine Frau über die Anomalie informieren, hat das erhebliche Folgen: viele weitere Untersuchungen, mehr Fruchtwassertests und mehr Fehlgeburten (veröffentlichten Schätzungen zufolge führen 0,06 bis 1 Prozent aller Fruchtwasseruntersuchungen zu einer Fehlgeburt11). Noch wichtiger ist vielleicht, dass betroffene Frauen während ihrer Schwangerschaft – die eine der schönsten Erfahrungen ihres Lebens sein sollte – von Angst gepeinigt werden.
Für Dr. Filly ist dies ein großes Problem, das seine Patientinnen ganz unmittelbar bewegt:
Die Fachärzte lesen diese wissenschaftlichen Papiere und identifizieren diese »Anomalien« dann während einer Routinesonografie. Was sollen sie der Patientin sagen? Diese Frau hat kein Beratungsgespräch hinter sich. Die Sonografie soll sie »beruhigen« (das kann sie nun vergessen). Ihr Mann, ihre Kinder und ihre Eltern sind bei ihr. Es herrscht Partystimmung. Das Videoband läuft. Doch bald verstummt das Kichern, niemand zeigt mehr mit dem Finger und fragt: »Ist das der Herzschlag?«, oder: »Ist das dort der Penis?«. Nun lautet die Frage: »Soll das heißen, mein Kind wird geistig behindert sein?«
Zweifellos haben Sie die Schwangerschaft jetzt teurer gemacht. Vielleicht entscheidet sich die Patientin für eine Fruchtwasseruntersuchung, und vielleicht wird sie in ein Zentrum für vorgeburtliche Diagnostik geschickt, um den Fetus per Ultraschall genau zu untersuchen und um sich erbbiologisch beraten zu lassen. Die zahllosen Stunden, in denen die Frau vom Hausarzt und von Ultraschallexperten über die »Bedeutung« des Befundes aufgeklärt wird, habe ich bei den Kosten nicht mitgezählt, auch nicht den Schmerz der künftigen Eltern. Wenn sie auf den Fruchtwassertest verzichten (das ist meiner Meinung nach die richtige Entscheidung), müssen sie bis zum Ende der Schwangerschaft mit ihren restlichen Zweifeln leben. Hat mein Kind ein Down-Syndrom? Vielleicht hätte ich mein Fruchtwasser doch untersuchen lassen sollen. Die Vorfreude auf die Geburt des Sohnes oder der Tochter weicht der Sorge.
Nun ja, sagen Sie, diese Untersuchungen haben auch viel Gutes bewirkt. Zu den vielen Vorteilen gehören eben auch ein paar Nachteile. Vielleicht bin ich eine Ausnahme (ich bezweifle es), aber ich sehe die »vielen Vorteile« nicht. Ich bin ein einfacher Arzt. (…) Meiner Meinung nach richtet die Identifikation solcher »Anomalien« bei Frauen mit geringem Risiko inzwischen mehr Schaden als Nutzen an.
Sie sollten wissen, dass Dr. Filly keine Ausnahme ist. Eine umfangreiche Analyse von 56 Studien zu diesem Thema kam zu dem Ergebnis, dass derartige Anomalien in der klinischen Praxis keine hinreichend zuverlässigen Indikatoren für Trisomie sind. Die Autoren der Metaanalyse erklärten, eine Trisomie-Früherkennung wegen solcher auf Sonogrammen entdeckter Anomalien verursache sogar noch mehr Frühgeburten als die Diagnose »Trisomie-Syndrom«.12
Eine Überdiagnose während der Schwangerschaft ist eine Diagnose, die entweder bei einer Schwangeren gestellt wird, die ansonsten normal gebären würde, oder die bei einem Fetus gestellt wird, der später als normaler Säugling zur Welt kommt. Die Anomalie beim Fetus oder bei der Mutter ist tatsächlich vorhanden; aber sie würde ohne Diagnose folgenlos bleiben. In unserem Gesundheitssystem sind wir versessen auf Diagnosen bei völlig gesunden Menschen, oft unter dem Deckmantel der Vorbeugung. Angesichts des technischen Fortschritts ist es kein Wunder, dass wir auch bei Feten im Mutterleib Diagnosen stellen. Einige dieser Ungeborenen haben tatsächlich Erbschäden, aber viele von ihnen sind gesund. Unsere Begeisterung für Frühdiagnosen betrifft also auch die Schwangerschaft. Die häusliche Monitorüberwachung hat dazu geführt, dass mehr Frauen denn je zu hören bekommen, ihnen drohe eine Frühgeburt. Die Monitorüberwachung der Feten führt dazu, dass bei zu vielen Ungeborenen Sauerstoffmangel festgestellt wird. Und in beiden Fällen führt unsere Leidenschaft für Diagnosen zu zusätzlichen unnötigen Maßnahmen, entweder zu mehr Medikamenten, um die Geburtswehen zu unterbinden, oder zu mehr Notkaiserschnitten.
Anomalien auf den Sonogrammen von Feten sind noch heikler. Diese Funde ziehen meist keine Behandlung nach sich, wohl aber diagnostische Maßnahmen und mehr unnötige Ängste. Einige meiner Kollegen würden vielleicht nicht von Überdiagnosen sprechen, sondern von falschem Alarm oder falsch-positiven Tests, wie wir es nennen. Aber falscher Alarm wird meist ziemlich rasch erkannt, in der Regel durch einen Folgetest. Anomalien dagegen, die auf Sonogrammen von Ungeborenen entdeckt werden, lassen sich gewöhnlich nicht durch weitere Untersuchungen abklären. Weil es aussagefähigere Tests einfach nicht gibt, weil der Test unklar ist oder weil man auf einen Test verzichtet, um das Risiko für eine Fehlgeburt nicht zu erhöhen, stellen sich diese Anomalien erst dann als Fehlalarm heraus, wenn ein gesundes Kind geboren wird. Ich räume ein, dass man unterschiedlicher Meinung sein kann, was die genaue Bezeichnung dieses Problems anbelangt; aber für mich ist es ein weiteres Beispiel für Überdiagnosen.
Und ich glaube, das würden auch die
meisten Frauen sagen, die mit diesem Problem konfrontiert wurden.
Mit Ultraschall können wir eine Menge anderer Anomalien aufspüren,
die nichts mit den Trisomie-Syndromen zu tun haben. Die Diagnose
jeder Anomalie kann dazu führen, dass Eltern sich Sorgen über die
Zukunft ihres Kindes machen. Natalie Angier, eine
Wissenschaftsreporterin der New
York Times, schrieb in ihrem Artikel »Ultrasound and
Fury«13 über
die Folgen einer routinemäßigen Ultraschalluntersuchung in ihrer
zwanzigsten Schwangerschaftswoche. Was sie erlebte, ist nicht
ungewöhnlich: Natalie Augier hatte sich auf den
Ultraschall gefreut, alle ihre bisherigen Routineuntersuchungen
waren positiv verlaufen. Diesmal habe die Frauenärztin jedoch kurz
gezögert, als sie ihr die Diagnose mitteilte: Die Ergebnisse seien
etwas schwer zu deuten, der linke Fuß befinde sich in einer
seltsamen Position und es wäre möglich, dass das Baby mit einem
Klumpfuß zur Welt komme. Man könne nun entweder abwarten oder den
Ultraschall zu einem anderen Zeitpunkt wiederholen.
Nach eingehender Recherche und einer schlaflosen Nacht habe ein
zweiter Ultraschall an einer nahen Uniklinik das Ergebnis
bestätigt. Daraufhin konnte ein Gen-Spezialist einer anderen
Uniklinik zwar die Vermutung widerlegen, der Klumpfuß sei ein
Anzeichen für einen umfassenderen Gendefekt, doch die Deformierung
des Fußes stand auch hier außer Frage. In den folgenden Wochen habe
sich die Autorin dann eingehend mit dem Defekt und seiner
Behandlung befasst und unter anderem mit Müttern gesprochen, deren
Kinder mit einem Klumpfuß zu Welt kamen. Anfangs noch sehr besorgt
und traurig, sei sie gegen Ende der Schwangerschaft dann etwas
entspannter geworden – und habe schließlich eine rundum gesunde
Tochter zur Welt gebracht, ganz ohne Klumpfuß.
Routinesonografien mögen Millionen von Eltern Freude und ein Gefühl der Sicherheit bescheren, manchmal fälschlicherweise. Aber sie können auch zahlreiche andere ängstigen. Und es ist nicht klar, ob sie darüber hinaus wirklich mehr leisten. Der Cochrane Collaboration zufolge haben Routinesonografien in der Schwangerschaft keinen nennenswerten Nutzen. Sie führen offenbar dazu, dass mehr Kaiserschnitte vorgenommen werden, und die zusätzlichen Untersuchungen können sowohl die Mütter als auch die Ärzte belasten, obwohl die Zusammenhänge unklar sind. Die seelischen Folgen all dieser Untersuchungen auf die werdenden Mütter sind noch nicht ausreichend analysiert worden.14
Im Jahr 1996 riet die Preventive Services Task Force von routinemäßigen Ultraschalluntersuchungen bei Schwangeren ab.15 Heute ist sie der Meinung, dass es wenig sinnvoll sei, an diesem Rat etwas zu ändern. Den gleichen Standpunkt vertritt sie, wie erwähnt, hinsichtlich der Monitorüberwachung von Ungeborenen. Dennoch ist die Sonografie während der Schwangerschaft in den USA zur Routine geworden. Dazu schreibt die PSTF jetzt:
Trotz fehlender Beweise für eine positive Wirkung auf die Gesundheit und der Empfehlung der PSTF im Jahr 1996, sie nicht routinemäßig anzuwenden, ist die Ultraschalluntersuchung während der Schwangerschaft in den Vereinigten Saaten zur üblichen Praxis geworden. Auf der Grundlage der zur Zeit verfügbaren Daten glaubt die PSTF, dass die Folgen für die klinische Praxis begrenzt wären, wenn sie die Empfehlung aus dem Jahr 1996 aktualisieren würde. Die PSTF wird die Empfehlung von 1996 nicht aktualisieren.
Kommt Ihnen das bekannt vor? Genau das Gleiche schrieb die PSTF über die Monitorüberwachung von Ungeborenen.
Gefäßvorsorgeuntersuchungen
In den letzten paar Jahren war die Begeisterung über die sogenannte Gefäßvorsorgeuntersuchung groß. Ärzte suchen in den großen Blutgefäßen immer häufiger nach Anomalien: nach Blockaden in den Beinen (periphere arterielle Verschlusskrankheit), Blockaden im Hals (Karotisstenose) und Aneurysmen der Bauchaorta. Diese Anomalien hängen miteinander zusammen. Sie sind Symptome der weitverbreiteten Atherosklerose und teilen sich einen weitverbreiteten Risikofaktor: Rauchen. Die Standardbehandlung ist eine Operation.
Für diese Gefäßuntersuchungen werben in den USA Firmen wie Lifeline, Prevention Health Screenings und Legs for Life. Sie versprechen, Frühdiagnosen zu stellen und Leben zu retten. Oft wird die Gefäßuntersuchung mit einem Knochendichtetest verbunden, obwohl die Osteoporose keine Gefäßerkrankung ist. Auch Universitätskliniken treten immer häufiger für Gefäßuntersuchungen ein. Die University of Pennsylvania und die University of Maryland, die Georgetown University und die Columbia University und sogar meine Klinik, Dartmouth-Hitchcock, bieten Gefäßvorsorgeuntersuchungen an.
Bei diesen Untersuchungen werden allerlei Anomalien entdeckt, und aus den Kunden werden neue Patienten, die weitere Tests benötigen und die Einnahmen durch diagnostische Tests steigern. Manche brauchen eine Standardtherapie, was die Einnahmen weiter erhöht. Es mag sein, dass Gefäßuntersuchungen finanzielle Vorteile haben; aber sie haben fast mit Sicherheit keinen Vorteil für die Volksgesundheit. Mit Ausnahme der Suche nach Aneurysmen der Bauchaorta bei Rauchern oder ehemaligen Rauchern stehen diese Untersuchungen nicht im Einklang mit den Empfehlungen der Preventive Services Task Force.
Die PSTF ist gegen Vorsorgeuntersuchungen bei Frauen auf periphere arterielle Verschlusskrankheit, Karotisstenose und Aneurysmen in der Bauchaorta. Keine Empfehlung gibt die PSTF zu Vorsorgeuntersuchungen auf Aneurysmen der Bauchaorta bei Männern, die nie geraucht haben. Sie empfiehlt lediglich einen Test für Raucher und ehemalige Raucher im Alter von fünfundsechzig bis fünfundsiebzig Jahren und räumt ein, dass viele der neuen Patienten, die bei Untersuchungen entdeckt werden, Opfer einer Überdiagnose sind. Diesen Menschen wird unnötig Angst gemacht. Einige erhalten eine Behandlung, die ihnen nicht hilft, aber mit erheblichen Risiken verbunden ist.
Selbst die beste Vorsorgeuntersuchung dieser Art, bei der es um Aneurysmen in der Bauchaorta geht, ist ein heikler Balanceakt zwischen Nutzen und Schaden, wie Tabelle 8.1 belegt.16 Die Tabelle stützt sich auf mehrere Studien, an denen über 120 000 Männer im Alter von fünfundsechzig Jahren und älter teilgenommen haben. Etwa die Hälfte dieser Männer wurde untersucht, die andere Hälfte nicht. Die Tabelle zeigt, wie es beiden Gruppen im Laufe von fünf Jahren erging.17
Tabelle 8.1 Eine Entscheidungshilfe für Männer, die über eine Vorsorgeuntersuchung auf Bauchaortenaneurysmen (BAA) nachdenken
BAA-Vorsorgeuntersuchung: Nutzen und Schaden |
||
Ergebnisse nach 5 Jahren |
||
1000 Männer nicht auf BAA untersucht |
1000 Männer auf BAA untersucht |
|
Hat der BAA-Test geholfen? |
||
Zahl der Männer, die an Aneurysmen der Bauchaorta starben |
3,4 |
1,9 |
Todesfälle (alle Ursachen) |
14 |
14 |
Hatte der BAA-Test Nachteile? |
||
Zahl der Männer, bei denen eine große Operation notwendig war, um Aneurysmen zu reparieren |
5 |
11 |
Zahl der Männer, bei denen wegen des
BAA-Tests eine unbestimmte Zahl von
Nachfolgeuntersuchungen |
0 |
55 |
Die Vorsorgeuntersuchung verringerte die Wahrscheinlichkeit, innerhalb von fünf Jahren an einem gerissenen Aneurysma zu sterben, um fast die Hälfte. Da diese Wahrscheinlichkeit jedoch von Anfang an gering war, kam dieser Vorteil nur 1,5 Männern von 1000 zugute (3,4 – 1,9). Auf die Zahl der Todesfälle insgesamt hatte der Test keine Auswirkung; sie war in beiden Gruppen gleich.
Auf jeden Mann, der dem Tod durch Aneurysmen dank der Untersuchung entging, kamen drei, die unnötig behandelt wurden. Mit anderen Worten: Sie wurden grundlos operiert. Wie immer gilt auch hier, dass Operationen zu Herzanfällen, Blutgerinnseln und Durchblutungsstörungen der Beine, der Nieren und des Darms führen können. Natürlich könnte ein Teil dieser Männer nach Ablauf der fünf Jahre von der Untersuchung profitiert haben (die Lebenserwartung eines fünfundsechzigjährigen Amerikaners beträgt rund siebzehn Jahre). Darum wissen wir nicht, ob bei ihnen eine Überdiagnose vorliegt oder nicht. Gleichzeitig wurde mehr als 5 Prozent der untersuchten Männer mitgeteilt, ihre Aorta sei zwar anormal, aber nicht so sehr, dass eine sofortige Operation notwendig sei. Man müsse sie jedoch regelmäßig untersuchen, vielleicht jahrelang. Einige dieser Männer bekommen irgendwann zu hören, sie müssten operiert werden. Weitere Überdiagnosen sind also wahrscheinlich.
Angenommen, ein Arzt sagt Ihnen, Sie hätten ein Aneurysma, aber eine Operation sei noch nicht erforderlich. Wie würden Sie reagieren? Würden Sie sich alle sechs Monate untersuchen lassen, möglicherweise viele Jahre lang? Männer, die über eine Vorsorgeuntersuchung nachdenken, sollten über die Ängste Bescheid wissen, die sie ertragen müssen. Brian Nolan, ein Gefäßchirurg und einer meiner Kollegen, befragte 34 Männer, die in unserer Klinik regelmäßig untersucht werden, und stellte fest, dass viele sich in der Tat Sorgen machen: 7 Prozent der Männer hatten Einschlafprobleme, 25 Prozent fühlten sich hilflos, und 48 Prozent berichteten von unangenehmen Grübeleien. Aber wie es einigen Männern wirklich geht, sobald sie von ihrem Aneurysma wissen und ständig überwacht werden, drücken ihre eigenen Worte am besten aus: »Ich haben jeden Tag das Gefühl, dass wenig oder gar nichts unternommen wird«; »Meine Familie macht sich größere Sorgen über einen Riss als ich. Sie behandeln mich wie einen Invaliden und wollen nicht, dass ich irgendetwas trage«; »Ich nehme meine Enkelkinder nicht auf den Schoß«; »Mir ist, als trüge ich eine Bombe in mir, die jederzeit explodieren kann«.
Es gibt keine richtige Antwort. Eine Vorsorgeuntersuchung auf Aneurysmen der Bauchaorta hilft wenigen, löst aber bei vielen unnötige Angst aus.
Die Vorsorgeuntersuchung auf Krankheiten aller Art gehört heute zur gängigen medizinischen Praxis in den Vereinigten Staaten. Sie ist eine natürliche Folge unserer Begeisterung für die Früherkennung. Immer mehr Menschen hören von ihrem Arzt, dass sie oder ihre Babys eine Anomalie haben. Gewiss, einigen wird geholfen. Aber manchmal wissen wir, dass die Zahl derer, die von Vorsorgeuntersuchungen profitieren, extrem klein ist, und manchmal ist sie so klein, dass nicht einmal große Studien mit Tausenden von Patienten sie bestimmen können. Noch häufiger wissen wir nicht genau, ob die Früherkennung überhaupt einen Nutzen hat. Dennoch konzentrieren wir uns beharrlich auf frühe Diagnosen und versäumen es ziemlich oft, Überdiagnosen in Betracht zu ziehen.