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Der Redner hatte wieder auf
dem Podium Platz genommen, und Jurgis begriff, daß die Rede zu Ende
war. Der Applaus währte noch etliche Minuten mehr, dann stimmte
jemand ein Lied an, die Menge fiel ein, und der ganze Saal
erdröhnte von dem Gesang. Jurgis hatte dieses Lied noch nie gehört,
und er konnte auch seinen Text nicht verstehen, sein wilder und
herrlicher Schwung aber riß ihn mit – es war die
Arbeiter-Marseillaise! Während Strophe um Strophe geschmettert
wurde, saß er mit zusammengepreßten Händen da und bebte mit jeder
Faser seines Körpers. Noch nie im Leben hatte ihn etwas so
aufgewühlt – ein Wunder war mit ihm geschehen. Denken konnte er
überhaupt nicht, war wie betäubt, doch wußte er, daß in dem
gewaltigen Aufruhr, der sich in seiner Seele vollzogen hatte, ein
neuer Mensch geboren worden war. Er war dem Rachen der Vernichtung
entrissen, aus der Knechtschaft der Verzweiflung erlöst. Die ganze
Welt hatte sich für ihn verändert: Er war frei! Selbst wenn er
leiden müßte wie bisher, wenn er weiter zu betteln und zu hungern
hätte, wäre das für ihn doch nicht mehr dasselbe – er würde es
verstehen und ertragen. Er wäre nicht länger Spielball der
Verhältnisse, wäre ein Mann mit einem Willen und einem Ziel, hätte
etwas, für das zu kämpfen und nötigenfalls auch zu sterben lohnte!
Hier waren Leute, die ihn anleiten und ihm helfen würden – er hätte
Freunde und Verbündete.
Die Zuhörer beruhigten sich, und Jurgis setzte sich wieder. Der Leiter der Versammlung trat vor und begann zu reden. Seine Stimme klang nach der des anderen flau und kraftlos, kam Jurgis wie eine Entweihung vor. Warum mußte nach diesem großartigen Mann überhaupt noch jemand sprechen – konnten sie nicht alle dasitzen und schweigen? Der Versammlungsleiter erklärte, zur Deckung der Unkosten für die Veranstaltung und für den Wahlfonds finde jetzt eine Geldsammlung statt. Jurgis hörte es, aber da er keinen Cent besaß, schweiften seine Gedanken bald ab.
Er ließ kein Auge von dem Redner. Der saß mit auf die Hand gestütztem Kopf in einem Armstuhl, und seine Haltung verriet deutlich, wie ausgepumpt er war. Doch plötzlich erhob er sich wieder, und Jurgis hörte den Versammlungsleiter sagen, der Redner werde jetzt Fragen beantworten, die die Zuhörer ihm vielleicht stellen wollen. Der Mann trat vor, und jemand – eine Frau – stand auf und bat um näheren Aufschluß über eine vorhin von ihm gemachte Bemerkung über Tolstoi. Jurgis hatte noch nie von Tolstoi gehört, und der kümmerte ihn auch nicht im geringsten. Wie konnte jemand eine solche Frage stellen, nach einer solchen Rede! Es ging jetzt doch nicht ums Reden, sondern ums Handeln; es ging darum, andere zu gewinnen, sie aufzurütteln, sie zu organisieren und für den Kampf vorzubereiten!
Aber die Diskussion lief weiter, im Ton einer ganz gewöhnlichen Unterhaltung, und sie brachte Jurgis in den Alltag zurück. Vor wenigen Minuten noch hatte er die Hand der schönen Dame neben ihm ergreifen und küssen mögen, hatte geglaubt, er müsse dem Mann an seiner anderen Seite um den Hals fallen. Doch jetzt wurde ihm langsam wieder bewußt, daß er nur ein Obdachloser war – zerlumpt und schmutzig, ein übelriechender Kerl, der nicht wußte, wo er die Nacht schlafen sollte!
Und so kam sich der arme Jurgis, als die Versammlung schließlich aufgelöst wurde und die Zuhörer aufbrachen, verlorener denn je vor. Daran, daß er wieder gehen mußte, hatte er gar nicht gedacht – er hatte geglaubt, der Traum würde ewig währen und er habe jetzt Brüder und Genossen. Aber nun würde er hinausgehen, und alles würde zerrinnen und sich nie mehr wiederfinden lassen! Verstört und grübelnd blieb er auf seinem Platz sitzen, doch andere in der Reihe wollten hinaus, und so mußte er aufstehen und weitergehen. Während er von der Menschenmenge durch den Mittelgang geschoben wurde, blickte er sehnsüchtig von einem zum andern; alle unterhielten sich lebhaft über die Rede – ihn aber zog niemand in ein Gespräch. Als er schon so nahe der Tür war, daß er die Nachtluft spürte, packte ihn der Mut der Verzweiflung. Er wußte ja gar nichts über die Rede, die er eben gehört hatte, nicht mal den Namen des Redners, und so sollte er nun weggehen – nein, das war unmöglich, er mußte mit jemandem sprechen, mußte zu dem Mann selbst hin und es ihm sagen. Der würde ihn nicht verachten, auch wenn er nur ein Tramp war.
So trat er in eine leere Sitzreihe und wartete, bis sich die Menge gelichtet hatte. Dann ging er vor zum Podium. Der Redner war schon weg, aber eine Bühnentür stand offen, durch die die Leute aus und ein gingen und an der niemand aufpaßte. Jurgis nahm all seinen Mut zusammen und trat durch die Tür. Er lief einen Korridor entlang, bis er an eine weitere Tür kam, vor der sich viele drängten. Kein Mensch achtete auf ihn, und er schob sich hinein. In einer Ecke erblickte er den Mann, den er suchte. Der Redner saß mit hängenden Schultern und halb geschlossenen Augen auf einem Stuhl; sein Gesicht war überblaß, fast schon grünlich, und der eine Arm hing schlaff herab. Ein großer Mann mit Brille stand neben ihm und sagte immer wieder zu den Leuten: »Tretet doch bitte ein bißchen zurück. Seht ihr denn nicht, daß der Genosse völlig erschöpft ist?«
Jurgis wartete. Fünf oder zehn Minuten vergingen. Ab und an blickte der Redner auf und richtete ein paar Worte an jene, die ihm am nächsten standen. Dabei fiel sein Blick schließlich auf Jurgis. In seinen Augen schien etwas Fragendes zu liegen, und einer plötzlichen Regung folgend, trat Jurgis vor.
»Ich wollte Ihnen danken, Sir!« begann er in atemloser Hast. »Ich konnte einfach nicht weggehen, ohne Ihnen zu sagen, wie sehr ... wie froh ich bin, daß ich Sie gehört habe. Ich ... ich wußte überhaupt nichts von alldem ...«
Der Große mit der Brille, der inzwischen rausgegangen war, kam in diesem Augenblick zurück. »Der Genosse ist zu abgespannt, sich jetzt mit jemandem zu unterhalten ...« hub er an.
Der andere hob die Hand. »Warte«, unterbrach er ihn, »er hat mir etwas zu sagen.« Und dann sah er Jurgis an. »Sie wollen mehr über den Sozialismus wissen?« fragte er.
Jurgis zuckte zusammen. »Ich ... ich«, stotterte er. »Ist das der Sozialismus? Das wußte ich nicht. Ich möchte mehr über das erfahren, wovon Sie gesprochen haben – ich möchte mithelfen. Ich habe das alles am eignen Leibe erlebt.«
»Wo wohnen Sie?« fragte der andere.
»Nirgends«, antwortete Jurgis. »Ich bin arbeitslos.«
»Sie sind Einwanderer, nicht wahr?«
»Aus Litauen, Sir.«
Der Mann dachte einen Augenblick nach, dann wandte er sich an den Großen: »Wer kommt da in Frage, Walters? Vielleicht Ostrinski, aber der ist Pole ...«
»Ostrinski kann Litauisch«, sagte Walters.
»Na, dann ist’s ja gut. Schau doch bitte mal nach, ob er noch da ist.«
Der andere ging weg, und der Redner sah wieder Jurgis an. Er hatte tiefliegende schwarze Augen, und aus seinem Gesicht sprachen Güte und Leid. »Mich müssen Sie entschuldigen, Genosse«, sagte er. »Ich bin todmüde – habe den ganzen letzten Monat jeden Tag geredet. Ich mache Sie mit jemandem bekannt, der Ihnen ebensogut helfen kann wie ich ...«
Der Große hatte nur bis zur Tür zu gehen brauchen und kam jetzt mit einem Mann zurück, den er Jurgis als »Genosse Ostrinski« vorstellte. Ostrinski war klein, reichte Jurgis kaum bis zur Schulter, ein spindeldürres, verrunzeltes Männchen, urhäßlich, und obendrein hinkte er noch leicht. Er hatte einen langen schwarzen Gehrock an, der an den Knopflöchern und an den Nähten grau durchgescheuert war; seine Augen mußten schwach sein, denn er trug eine grüne Brille, die ihm etwas Groteskes verlieh. Doch sein Händedruck war herzlich, und er sprach Litauisch, was Jurgis gleich für ihn einnahm.
»Du möchtest was über den Sozialismus wissen?« sagte er. »Bitte gern. Gehen wir raus und machen einen Spaziergang, damit wir in Ruhe reden können.«
Und so verabschiedete sich Jurgis von dem großen Magier, und sie traten hinaus auf die Straße. Ostrinski fragte, wo er wohne, da er mit ihm in diese Richtung gehen wollte, und Jurgis mußte abermals erklären, daß er obdachlos sei. Auf Ostrinskis Wunsch erzählte er seine Geschichte: wie er nach Amerika gekommen, wie es ihm in den Yards ergangen, wie seine Familie zerbrochen und er heimatlos geworden war. Als der kleine Mann das alles vernommen hatte, drückte er Jurgis’ Arm. »Da hast du ja einiges hinter dir, Genosse«, sagte er. »Wir werden einen Kämpfer aus dir machen!«
Dann erzählte Ostrinski von sich. Er sagte, er würde Jurgis gern mit zu sich nach Hause nehmen, aber er habe nur eine winzige Wohnung und kein freies Bett; er würde ihm ja sein eigenes überlassen, doch leider sei seine Frau krank. Als er später erfuhr, daß Jurgis dann in irgendeinem Torweg übernachten müsse, bot er ihm an, bei ihm in der Küche auf dem Fußboden zu schlafen, was Jurgis nur zu gern annahm. »Vielleicht können wir morgen mehr für dich tun«, sagte Ostrinski. »Wir bemühen uns, keinen Genossen hungern zu lassen.«
Ostrinski wohnte im Judenviertel, wo er Stube und Küche im Souterrain einer Mietskaserne hatte. Ein Säugling schrie, als sie eintraten, und Ostrinski schloß die Tür zum Schlafzimmer. Sie hätten drei kleine Kinder, erklärte er, und vor kurzem sei noch das Baby dazugekommen. Er zog zwei Stühle an den Küchenherd und bat Jurgis, die Unordnung zu entschuldigen, da zu solcher Zeit die Häuslichkeit nun mal durcheinanderkomme. Die halbe Küche nahm ein Arbeitstisch ein, auf dem sich Hosen stapelten. Ostrinski erklärte, er sei »Ausfertiger«, hole sich von einer Konfektionsfirma große Packen Hosen und mache die in Heimarbeit zusammen mit seiner Frau fertig. Er verdiene damit den Lebensunterhalt, aber es falle ihm von Tag zu Tag schwerer, denn seine Augen ließen immer mehr nach. Was einmal werden soll, wenn er gar nichts mehr sehen kann, wisse er auch nicht; sparen hätten sie nichts können – selbst bei zwölf bis vierzehn Arbeitsstunden am Tag komme man nur knapp über die Runden. Das »Ausfertigen« von Hosen sei keine Facharbeit, das könne jeder lernen, und folglich werde es laufend schlechter bezahlt. Das sei das Entlohnungssystem nach dem Konkurrenzprinzip, und wenn Jurgis den Sozialismus verstehen lernen will, dann fange man am besten hiermit an. Um von einem Tag zum anderen ihr Leben fristen zu können, seien die Arbeiter auf Arbeit angewiesen, und so unterbiete einer den andern; einen höheren Lohn aber als den, für welchen der Niedrigste zu arbeiten bereit ist, könne niemand bekommen. Folglich stehe die Masse des Volkes ständig in einem Kampf auf Leben und Tod mit der Armut. Das sei das »Konkurrenzprinzip«, wie es für den Lohnarbeiter aussieht, für den Mann, der nichts weiter als seine Arbeitskraft zu verkaufen hat; für die da oben, die Ausbeuter, stelle es sich natürlich ganz anders dar – die seien nur wenige und können sich zusammenschließen, eine beherrschende Macht bilden, gegen die dann nicht anzukommen ist. Und so hätten sich überall auf der Welt zwei Klassen gebildet, die eine unüberbrückbare Kluft trennt: die Kapitalistenklasse, die über ungeheure Vermögen verfügt, und das Proletariat, das mit unsichtbaren Ketten an ein Sklavendasein gefesselt ist. An Zahl seien die Proletarier den Kapitalisten tausend zu eins überlegen, aber da sie ungebildet und hilflos sind, würden sie ihren Ausbeutern so lange auf Gnade und Ungnade ausgeliefert bleiben, bis sie sich organisiert haben, bis sie »Klassenbewußtsein« entwickeln. Das sei zwar ein langwieriger, mühseliger Prozeß, aber es wäre wie bei einem Gletscher – einmal in Bewegung geraten, könne ihn nichts mehr aufhalten. Jeder Sozialist trage seinen Teil dazu bei und lebe mit der Vision von einer besseren Zukunft, in der die Arbeiterklasse zur Wahlurne schreitet, die Regierung übernimmt und dem Privateigentum an Produktionsmitteln ein Ende setzt. Wie arm einer auch ist oder wieviel er durchmachen muß, er könne nie mehr ganz unglücklich sein, wenn er von dieser Zukunft weiß. Und wenn er selbst sie vielleicht auch nicht mehr erleben wird, so doch seine Kinder; für einen Sozialisten sei der Sieg seiner Klasse sein eigener Sieg. Außerdem schöpfe er immer neuen Mut aus dem Fortschritt der Bewegung. Hier in Chicago zum Beispiel wachse die Partei sprunghaft. Als Industriezentrum des Landes habe Chicago zwar so starke Gewerkschaften wie sonst nirgends, aber den Arbeitnehmern würden ihre Organisationen wenig nützen, denn die Arbeitgeber seien ebenfalls organisiert. Darum blieben die Streiks meist wirkungslos, und in eben dem Maß, wie die Gewerkschaften zerschlagen werden, gingen die Arbeiter zu den Sozialisten über.
Dann erklärte Ostrinski den Aufbau der Partei, der Organisation, durch die das Proletariat sich selbst erziehe und bilde: In jeder Großstadt habe sie »Ortsgruppen« und auch in den Kleinstädten würden sich jetzt überall welche gründen. Eine Ortsgruppe zähle sechs bis tausend Mitglieder, und bisher beständen eintausendvierhundert solcher Einheiten mit insgesamt fünfundzwanzigtausend beitragzahlenden Mitgliedern. Die Ortsgruppe Chicago habe achtzig Untergruppen und bringe allein mehrere tausend Dollar für den Wahlkampf auf. Sie gebe ein Wochenblatt in englisch heraus sowie auch eines in tschechisch und eines in deutsch; außerdem habe man in Chicago eine Monatsschrift und einen genossenschaftlichen Verlag mit einer Produktion von jährlich eineinhalb Millionen Büchern und Broschüren. All das habe sich erst in den letzten paar Jahren entwickelt – als er, Ostrinski, nach Chicago kam, sei fast noch gar nichts dagewesen.
Ostrinski war Pole und etwa fünfzig Jahre alt. Er hatte in Schlesien gelebt, als Angehöriger einer verachteten und verfolgten Minderheit, und Anfang der siebziger Jahre an der proletarischen Bewegung teilgenommen, als Bismarck nach der Besiegung Frankreichs seine »Blut-und-Eisen«-Politik gegen die Internationale einsetzte. Ostrinski wurde zweimal ins Gefängnis geworfen, doch damals war er jung, und es machte ihm nichts aus. Dennoch, er hatte mehr als seinen Teil an dem Kampf geleistet, denn gerade als der Sozialismus alle gegen ihn errichteten Sperren durchbrochen hatte und zur großen politischen Kraft im Reich geworden war, ging Ostrinski nach Amerika und fing wieder ganz von vorn an. In Amerika hatte man schon bei dem bloßen Gedanken an Sozialismus gelacht – hier wären doch alle Menschen frei. Als ob, sagte Ostrinski, politische Freiheit die Lohnsklaverei erträglicher mache!
Der kleine Hilfsschneider saß zurückgelehnt auf seinem harten Küchenstuhl und hatte die Füße auf dem kalten Herd ausgestreckt; er sprach im Flüsterton, um seine nebenan schlafende Familie nicht aufzuwecken. Jurgis erschien er kaum weniger großartig als der Redner auf der Versammlung; er stand auf der gesellschaftlichen Leiter ganz unten, war arm und elend – und doch, wieviel wußte er, wieviel hatte er gewagt und erreicht, was für ein Held war er! Und es gab viele wie ihn, Tausende vom gleichen Schlag, und alles Arbeiter! Daß dieses großartige Instrument des Fortschritts von seinen eigenen Kameraden allein geschaffen worden war, konnte Jurgis kaum glauben; es erschien ihm zu schön, um wahr zu sein.
Das sei immer so, sagte Ostrinski; ein frisch zum Sozialismus Bekehrter wäre wie ein Besessener – er könne nicht verstehen, warum die anderen es noch nicht begreifen, und wolle die ganze Welt in einer Woche bekehren. Nach einiger Zeit merke er, wie schwer die Aufgabe ist, und dann sei es ein Glück, daß ständig neue Genossen kommen, was ihn davor bewahrt, in Trott zu verfallen. Gerade jetzt werde Jurgis reichlich Gelegenheit finden, seiner Begeisterung Luft zu machen, denn die Präsidentschaftswahlen ständen vor der Tür, und alle Welt rede von Politik. Er, Ostrinski, werde ihn zur nächsten Versammlung der Untergruppe mitnehmen und ihn dort vorstellen, dann könne er in die Partei eintreten. Der Beitrag sei fünf Cent die Woche, aber wer das nicht aufbringen kann, für den bestehe die Möglichkeit, es erlassen zu bekommen. Die Sozialistische Partei sei eine wirklich demokratische politische Organisation: Sie werde vollständig von den Mitgliedern geleitet – Vorgesetzte oder gar Bosse gebe es in ihr nicht. All das erklärte Ostrinski, und er legte Jurgis auch die Prinzipien der Partei dar. Eigentlich gebe es nur ein einziges sozialistisches Prinzip, sagte er, nämlich »keine Kompromisse schließen« – das sei auf der ganzen Welt das Wesentliche der proletarischen Bewegung. Ist ein Sozialist ins Parlament gewählt worden, stimme er zwar gemeinsam mit den Abgeordneten der alten Parteien für jedes Gesetz, das von Nutzen für die Arbeiterklasse sein kann, doch vergesse er nie, daß solche Konzessionen, worum es dabei auch immer gehen mag, belanglos sind gegenüber dem großen Ziel: die Arbeiterklasse für die Revolution zu organisieren. Bisher gelte in Amerika die Regel, daß ein Sozialist alle zwei Jahre einen weiteren für den Sozialismus gewinnt, und falls sich diese Zuwachsrate halten läßt, könnten sie im Jahre 1912 den Wahlsieg im Lande erringen. Doch nicht alle von ihnen würden mit einem so baldigen Erfolg rechnen.
Die Sozialisten, sagte Ostrinski, seien in jedem zivilisierten Land organisiert; ihre Partei wäre international – die größte, die es je in der Welt gegeben hat. Sie zähle dreißig Millionen Anhänger, und davon seien acht Millionen stimmberechtigt. Ihre erste Zeitung sei in Japan erschienen und ihr erster Abgeordneter in Argentinien gewählt worden; in Frankreich stelle sie Kabinettsmitglieder, und in Italien und Österreich bilde sie das Zünglein an der Waage und könne Regierungen stürzen. In Deutschland, wo sie über mehr als ein Drittel aller Wählerstimmen verfügt, hätten sich alle anderen Parteien und Mächte gegen sie zusammengeschlossen. Deshalb nütze es auch nichts, erklärte Ostrinski, wenn das Proletariat in nur einem Land den Sieg erringt, denn diesen Staat würden dann die anderen Staaten mit militärischer Macht zerschlagen. Darum sei die sozialistische Bewegung eine weltweite Bewegung, eine Organisation der gesamten Menschheit zur Verwirklichung von Freiheit und Brüderlichkeit. Sie sei die neue Religion der Brüderlichkeit – man könne auch sagen, die Erfüllung der alten Religion, da sie ja auf die wortwörtliche Anwendung aller Lehren Christi hinausläuft.
So ins Gespräch vertieft, saß Jurgis noch lange mit seinem neuen
Bekannten auf. Es war für ihn ein ganz wunderbares, ja fast schon
überirdisches Erlebnis – wie die Begegnung mit einem Wesen aus der
vierten Dimension, das frei ist von all den eigenen
Beschränktheiten. Vier Jahre lang irrte Jurgis nun schon in der
Tiefe eines Dschungels umher, und hier streckte sich auf einmal
eine Hand zu ihm herunter, zog ihn hinauf auf einen Berggipfel, von
dem aus er alles überschauen konnte: die Pfade, von denen er
abgeirrt, die Sümpfe, in die er geraten war, und die Verstecke der
Raubtiere, die Jagd auf ihn gemacht hatten. Zum Beispiel seine
Erfahrungen in Packingtown – was an Packingtown hätte Ostrinski
nicht erklären können? Für Jurgis waren die Fabrikanten
gleichbedeutend mit dem Schicksal gewesen. Ostrinski klärte ihn
auf, daß sie der Fleisch-Trust waren: eine gigantische
Kapitalanballung, die alle Gegenkräfte niederschlug, die Gesetze
des Landes umstieß und das Volk ausbeutete. Jurgis erinnerte sich,
wie er kurz nach seiner Ankunft in Chicago beim Schweineschlachten
zugeschaut, es grausam und brutal gefunden und sich dann
beglückwünscht hatte, kein Schwein zu sein. Jetzt machte ihm sein
neuer Bekannter klar, daß er damals doch eines gewesen sei – ein
Schwein im Besitz der Fabrikanten: Aus dem Schwein wollen die den
höchstmöglichen Profit herausholen, und genauso wollen sie das auch
aus dem Arbeiter und aus der Gesellschaft. Was das Schwein davon
hält und was es leidet, bleibe außer Betracht, und dieselbe
Einstellung hätten sie auch gegenüber dem Arbeiter und dem Käufer
von Fleisch. Das sei überall auf der Welt so, aber in Packingtown
zeige es sich in konzentrierter Form; Schlachten scheine ganz
besonders roh und grausam zu machen. Jedenfalls würden für die
Fabrikanten hundert Menschenleben leichter wiegen als ein Cent
Profit. Wenn Jurgis sich erst einmal mit dem sozialistischen
Schrifttum vertraut gemacht habe, was nicht lange dauern wird,
bekomme er den Fleisch-Trust aus verschiedensten Blickwinkeln zu
sehen und werde überall das gleiche finden: daß der Trust die
Verkörperung blinder, gefühlloser Habgier sei, ein mit tausend
Rachen schlingendes, mit tausend Hufen stampfendes Ungeheuer – der
inkarnierte Geist des Kapitalismus. Auf dem Meer des Handels segle
er als Piratenschiff, habe die schwarze Flagge gehißt und der
Zivilisation den Krieg erklärt. Bestechung und Korruption seien
seine alltäglichen Methoden. In Chicago bilde der Magistrat nichts
weiter als eine seiner Zweigstellen; der Fleisch-Trust stehle ganz
offen Milliarden Liter städtisches Wasser, diktiere den Gerichten
die Urteile gegen ordnungsstörende Streikbrecher und mache es dem
Bürgermeister unmöglich, bei ihm auf Einhaltung der Bauvorschriften
zu dringen. In der Bundeshauptstadt sei er stark genug, Prüfungen
seiner Erzeugnisse entweder von vornherein zu verhindern oder aber
die Regierungskommissionen zu unwahren Angaben in ihren Gutachten
zu veranlassen; er verstoße gegen die Rabattgesetze, und droht eine
Untersuchung, verbrenne er die Geschäftsbücher und schicke seine
kriminellen Handlanger außer Landes. In der Wirtschaftswelt sei er
eine alles unter sich zermalmende Walze; jedes Jahr treibe er
etliche hundert Kleinbetriebe in den Bankrott und Menschen zu
Wahnsinn und Selbstmord. Er habe die Viehpreise derart gedrückt,
daß sich die Viehzucht, der Haupterwerbszweig ganzer Bundesstaaten,
kaum noch über Wasser halten kann; er habe Tausende Fleischerläden
ruiniert, die sich geweigert hatten, seine Produkte zu führen. Er
teile das Land in Absatzregionen auf und setze in jedem die
Fleischpreise fest; alle Kühlwaggons gehören ihm, und er verlange
Unsummen für den Transport von Geflügel und Eiern, Obst und Gemüse.
Mit den Millionen Dollars, die ihm wöchentlich zuströmen, suche er
andere Großunternehmen unter seine Kontrolle zu bringen: Eisenbahn-
und Straßenbahngesellschaften, Gas- und Elektrizitätswerke; die
Lederindustrie und der Getreidehandel des Landes seien bereits in
seinen Händen. Die Bevölkerung wäre über diese Ausweitung seiner
Macht zuhöchst beunruhigt, wisse aber kein Mittel, ihn zu stoppen.
Es sei Aufgabe der Sozialisten, das Volk aufzuklären und zu
organisieren, es auf die Zeit vorzubereiten, da es die
Fleisch-Trust genannte riesige Maschine in Besitz nehmen und dazu
benutzen wird, Menschen Nahrung zu verschaffen, statt einer Bande
von Piraten Reichtümer anzuhäufen.
Es war schon lange nach Mitternacht, als Jurgis sich auf dem Fußboden von Ostrinskis Küche zur Ruhe legte, und doch dauerte es noch eine ganze Stunde, ehe er schlafen konnte, weil die Vision, die er sah, so herrlich war: Das Volk von Packingtown zog in die Union Stockyards ein und nahm sie in Besitz!