22
Jurgis nahm die Nachricht
sonderbar auf. Er wurde zwar kreidebleich, doch er riß sich
zusammen und blieb, die Fäuste geballt und die Zähne
zusammengebissen, eine halbe Minute in der Mitte der Küche stehen.
Dann schob er Aniele beiseite, ging mit schweren Schritten nach
nebenan und stieg die Leiter hinauf.
In der einen Ecke war eine Decke ausgebreitet, unter der sich undeutlich ein Körper abzeichnete, und daneben lag Elzbieta; ob stumm weinend oder ohnmächtig, konnte Jurgis nicht erkennen. Marija lief heulend und händeringend auf und ab.
Er ballte die Fäuste noch fester, und seine Stimme war hart, als er fragte: »Wie ist das passiert?«
Marija hörte ihn kaum in ihrem Schmerz. Er wiederholte die Frage, lauter und noch schroffer. »Er ist vom Gehsteig runtergefallen!« schluchzte sie. Der Gehsteig vorm Haus bestand aus halbverfaulten Brettern, die gut anderthalb Meter über der versunkenen Straße eine Art Plattform bildeten.
»Wieso war er draußen?« fragte Jurgis.
»Er ... er wollte spielen gehen«, berichtete Marija mit brechender Stimme. »Wir konnten ihn einfach nicht halten. Er muß im Schlamm steckengeblieben sein!«
»Steht es denn fest, daß er tot ist?«
»Ai! Ai!« jammerte sie. »Ja, wir hatten den Arzt hier.«
Jurgis stand ein paar Sekunden unschlüssig da. Er vergoß keine Träne. Er warf noch einen Blick auf die Decke mit der kleinen Gestalt darunter, wandte sich dann plötzlich zur Leiter und stieg hinunter. Als er in die Küche kam, wurde es dort wieder totenstill. Er schritt geradewegs zur Tür, trat hinaus und ging die Straße hinunter.
Beim Tod seiner Frau hatte Jurgis die nächste Kneipe aufgesucht,
aber jetzt tat er nichts dergleichen, obwohl ein ganzer Wochenlohn
in seiner Tasche klimperte. Er lief immer weiter, ohne auf etwas zu
achten, stapfte durch Schlamm und Wasser. Nach einer Weile setzte
er sich auf die Stufen einer Haustreppe, vergrub das Gesicht in den
Händen und verharrte so eine halbe Stunde lang reglos, flüsterte
nur ab und zu vor sich hin: »Tot! Tot!«
Schließlich stand er auf und wanderte wieder weiter. Die Sonne ging gerade unter; er lief und lief, bis es dunkel war und er schließlich an einem Bahnübergang haltmachen mußte. Die Schranken waren geschlossen, und ein langer Güterzug ratterte vorüber. Als Jurgis da so stand und zusah, packte ihn auf einmal ein unbändiger Drang – ein wilder Gedanke, der schon lange in ihm geschlummert hatte, ohne das ihm das bewußt gewesen war, erwachte zu plötzlichem Leben. Jurgis lief los, die Gleise entlang, und nachdem er am Schrankenwärterhäuschen vorbei war, nahm er Anlauf und schwang sich auf einen der Waggons.
Als der Zug nach einiger Zeit hielt, sprang Jurgis ab, lief rasch unter den Wagen und versteckte sich auf dem hohen Drehgestell der vorderen Doppelachse. Dort hockte er und focht, während der Zug wieder weiterfuhr, einen Kampf mit sich aus. Er preßte die Hände zusammen und biß die Zähne aufeinander: Er habe bisher nicht geweint, und er werde auch jetzt nicht weinen, nicht eine Träne! Es sei aus und vorbei, er wär damit fertig – abschütteln wolle er alles Gewesene, sich ein für allemal davon befreien, jetzt, heute nacht; wie ein scheußlicher düsterer Alptraum solle es vergehen, morgen werde er ein neuer Mensch sein. Und jedesmal wenn ihn wieder ein Gedanke daran überfiel – eine zärtliche Erinnerung, der Anflug einer Träne –, zwang er sich zum Zorn und kämpfte ihn nieder.
Dieses Ringen verlangte all seine Kraft; in seiner Verzweiflung knirschte er mit den Zähnen. Ein Narr sei er gewesen, jawohl, ein Narr! Mit dieser verdammten Schwäche habe er sein Leben verpfuscht, sich zugrunde gerichtet, aber jetzt sei Schluß damit – er werde sie mit Stumpf und Stiel aus sich herausreißen! Keine Tränen mehr und keine Weichheit, davon habe er genug gehabt – sie hätten ihn zum Sklaven gemacht! Jetzt wolle er frei sein, seine Fesseln abschütteln, aufstehen und seine Ellbogen gebrauchen. Er sei froh, daß es zu Ende gegangen ist; es wäre doch einmal so gekommen – dann schon lieber gleich. Dies sei keine Welt für Frauen und Kinder, und je eher sie daraus scheiden, um so besser für sie. Was immer Antanas dort auch auszustehen habe, wo er jetzt weilt – schlimmer als das, was er auf Erden noch hätte erleiden müssen, könne es nicht sein. Und dies sei nun das letzte Mal, daß sein Vater an ihn denkt – von jetzt an wolle er nur noch an sich denken, nur noch für sich selber kämpfen, gegen die Welt, die ihm so viele Knüppel zwischen die Beine geworfen und ihn so gepeinigt hat!
So riß er weiter alle Blumen aus dem Garten seiner Seele heraus und zertrat sie unter dem Absatz. Die Waggons ratterten ohrenbetäubend, und Wolken von Staub wehten ihm ins Gesicht; aber obwohl der Zug im Lauf der Nacht mehrmals hielt, blieb Jurgis, wo er war – fest entschlossen, diesen Platz nicht eher zu verlassen, als bis er weit fort war, denn jede Meile, die er zwischen sich und Packingtown legte, bedeutete eine Last weniger auf der Seele.
Bei jedem Halt des Zuges wehte ihn ein warmer Wind an, ein Wind mit dem Duft von frischen Wiesen, von Geißblatt und Klee. Er sog die Luft ein, und sie ließ sein Herz stürmisch pochen – er war wieder auf dem Lande! Und würde vorerst hier auch bleiben! Als der Morgen dämmerte, spähte Jurgis mit hungrigen Augen hinaus, und erblickte Felder, Wälder und Flüsse. Schließlich hielt er es nicht länger aus, und beim nächsten Stoppen des Zuges kroch er aus seinem Versteck und stieg ab. Oben auf dem Waggon stand ein Bremser, der schimpfte und ihm mit der Faust drohte, aber Jurgis winkte ihm nur spöttisch zu und marschierte los ins Land hinein.
Sein ganzes Leben hatte er auf dem Lande verbracht – jetzt aber schon drei Jahre lang keinen ländlichen Anblick mehr gesehen und keine ländlichen Laute mehr gehört! Außer während seines Rückmarsches aus dem Gefängnis, wobei er jedoch zu sorgenerfüllt gewesen war, um überhaupt etwas wahrzunehmen, und bei den paar Malen, als er sich im Winter während seiner Arbeitslosigkeit in einem Stadtpark ausruhte, hatte er wahrhaftig keinen Baum zu Gesicht bekommen. Und so fühlte er sich jetzt wie ein Vogel vom Wind emporgehoben und davongetragen; immer wieder blieb er stehen und staunte alles an wie ein Wunder: eine Herde Kühe, eine Wiese voller Gänseblümchen, blühende Heckenrosenbüsche, kleine Vögel, die in den Bäumen sangen.
Nach einiger Zeit kam er an eine Farm, und nachdem er sich vorsichtshalber einen Knüppel gesucht hatte, ging er darauf zu. Der Farmer schmierte vor der Scheune einen Wagen, und Jurgis trat zu ihm hin.
»Bitte, ich hätte gern ein Frühstück«, sagte er.
»Wollen Sie arbeiten?« fragte der Farmer.
»Nein«, erwiderte Jurgis, »das nicht.«
»Dann können Sie hier auch nichts bekommen!« schnauzte der Mann.
»Ich wollte dafür ja bezahlen«, erklärte Jurgis.
»So, so?« Der andere lächelte höhnisch. »Nach sieben wird bei uns kein Frühstück mehr serviert.«
»Ich habe großen Hunger«, sagte Jurgis ernst, »und ich möchte was zu essen kaufen.«
»Fragen Sie meine Frau.« Der Farmer wies mit dem Kopf über die Schulter.
Seine Ehehälfte zeigte sich zugänglicher, und für zehn Cent bekam Jurgis zwei dickbelegte Sandwiches, ein Stück Kuchen und zwei Äpfel. Den Kuchen aß er gleich im Weitergehen, da er am unbequemsten zu tragen war. Nach ein paar Minuten kam er an einen Bach; er kletterte über einen Zaun, ging hinunter ans Ufer und lief einen Waldpfad entlang. Bald fand er ein gemütliches Plätzchen. Dort verzehrte er sein Mahl und löschte seinen Durst im Bach. Dann lag er stundenlang da, tat nichts weiter als schauen und sich freuen, bis er schließlich müde wurde und sich im Schatten eines Buschs schlafen legte.
Als er erwachte, brannte ihm die Sonne ins Gesicht. Er setzte sich auf, reckte die Arme und sah dem vorüberplätschernden Wasser zu. Gleich unter ihm bildete der Bach eine kleine Bucht, eine tiefere Stelle, ruhig und geschützt, und da kam Jurgis plötzlich eine großartige Idee: Wie wär’s mit einem Bad? Das Wasser kostete nichts, und er könnte hineingehen – bis zum Hals! Es wäre das erste Mal, seit seinem Weggang aus Litauen, daß er ganz ins Wasser taucht.
Als Jurgis damals in die Yards kam, war er so reinlich gewesen, wie es ein Arbeiter sein kann. Doch mit der Zeit hatten ihn Krankheit, Kälte, Hunger und Verzweiflung, der Schmutz bei der Arbeit und das Ungeziefer zu Hause dahin gebracht, sich im Winter gar nicht mehr und im Sommer nur so weit zu waschen, wie sein Körper in eine Schüssel hineinpaßte. Im Gefängnis hatte er einmal geduscht, aber seitdem nicht mehr – und jetzt wollte er schwimmen!
Das Wasser war warm, und in seiner Freude plantschte er wie ein kleiner Junge darin herum. Danach setzte er sich nahe am Ufer im Wasser hin und begann, sich mit Sand abzuscheuern, systematisch, Zoll für Zoll. Da er schon einmal dabei war, wollte er es gründlich machen, wollte wissen, wie man sich fühlt, wenn man sauber ist. Sogar den Kopf schrubbte er sich mit Sand und kämmte sich aus seinem langen schwarzen Haar die »Krümchen« heraus, tauchte so lange unter, wie er es aushielt, um zu sehen, ob er sie nicht alle ersäufen könne. Da die Sonne noch immer warm genug war, holte er seine Sachen vom Ufer und wusch sie Stück für Stück; als Schmutz und Schmiere den Bach hinuntertrieben, grunzte er vor Zufriedenheit und wagte sogar zu hoffen, daß er den Düngergestank loswürde.
Er hängte alles auf, und während es trocknete, lag er in der Sonne und schlief wieder lange und fest. Als er aufwachte, waren die Sachen obenauf heiß und brettsteif, auf der Unterseite jedoch noch ein wenig klamm. Da er aber Hunger hatte, zog er sie trotzdem an und machte sich wieder auf den Weg. Mit einiger Mühe, denn er besaß kein Taschenmesser, brach er sich einen handfesten Stock ab, und so bewaffnet marschierte er wieder die Landstraße lang.
Nach einem Weilchen sah er ein großes Farmhaus, und er bog in den Weg ein, der zu ihm hinführte. Es war gerade Abendbrotzeit, und der Farmer wusch sich vor der Küchentür die Hände.
»Bitte, Sir«, sprach Jurgis ihn an, »könnt sich wohl etwas zu essen haben? Ich will’s auch bezahlen.«
Sofort wurde er angeblafft: »Wir füttern hier keine Tippelbrüder durch! Schleich dich!«
Jurgis ging ohne ein Wort, doch als er um die Scheune herum war und an ein gepflügtes und geeggtes Feld kam, in das der Farmer junge Pfirsichbäume gesetzt hatte, riß er im Gehen eine Reihe davon mitsamt den Wurzeln heraus, im ganzen über hundert Bäumchen, bis er am Ende des Feldes anlangte. Das war seine Antwort und zeigte seine Stimmung: Von jetzt an schlug er zurück, und wer sich mit ihm anlegte, dem zahlte er mit gleicher Münze heim!
Hinter der Obstplantage kam Jurgis durch einen Hain, dann durch ein Feld mit Wintergetreide und schließlich auf eine weitere Landstraße. Bald sah er wieder ein Farmhaus, und da ein paar Wolken aufzogen, fragte er dort außer nach Essen auch nach einem Nachtquartier.
Als er merkte, daß der Farmer ihn mißtrauisch musterte, fügte er hinzu: »Ich wäre mit einem Platz in der Scheune zufrieden.«
»Hm, ich weiß nicht«, sagte der Mann. »Rauchen Sie?«
»Ab und zu«, gab Jurgis Antwort. »Aber wenn, dann draußen.« Als der Farmer eingewilligt hatte, fragte er: »Was kostet es? Sehr viel Geld hab ich nicht.«
»Sagen wir zwanzig Cent fürs Abendbrot. Für die Scheune nehm ich Ihnen nichts ab.«
So ging Jurgis mit ins Haus und setzte sich zu der Farmersfrau und einem halben Dutzend Kinder an den Tisch. Der war reichlich gedeckt: gebackene Bohnen, Quetschkartoffeln, gedünstete Brechspargel und eine Schale Erdbeeren, dazu große, dicke Scheiben Brot und ein Krug Milch. Seit seiner Hochzeit hatte Jurgis kein so üppiges Mahl vorgesetzt bekommen, und er strengte sich tüchtig an, seine zwanzig Cent abzuessen. Zum Reden waren alle zu hungrig, aber hinterher setzten sie sich draußen auf die Stufen zum Haus und rauchten, und der Farmer fragte seinen Gast aus.
Nachdem Jurgis erklärt hatte, er sei Arbeiter aus Chicago und wisse noch nicht, wohin seine Reise geht, sagte der Mann: »Warum bleiben Sie nicht hier und arbeiten bei mir?«
»Ich bin momentan nicht auf Arbeitsuche«, antwortete Jurgis.
»Ich zahle gut«, fuhr der Farmer fort, während er Jurgis’ Hünengestalt betrachtete. »Einen Dollar den Tag und Kost und Logis frei. Wir haben hier schrecklichen Mangel an Leuten.«
»Gilt das Angebot für den Winter ebenso wie für den Sommer?« fragte Jurgis.
»N-nein. Länger als bis November könnte ich Sie nicht behalten. Dafür ist die Farm nicht groß genug.«
»Genau das dachte ich mir«, sagte Jurgis. »Wenn im Herbst Ihre Pferde die Ernte eingebracht haben, jagen Sie sie dann hinaus in den Schnee?« Jurgis fing an, selbständig zu denken.
»Das ist nicht ganz dasselbe«, entgegnete der Farmer, der verstand, worauf Jurgis hinaus wollte. »Im Winter müßte ein kräftiger Kerl wie Sie doch in den Städten oder irgendwo anders Arbeit finden.«
»Ja«, sagte Jurgis, »das denken alle, und so kommen sie in Massen in die Städte geströmt, aber wenn sie dann betteln oder stehlen müssen, um sich am Leben zu halten, fragen die Leute sie, warum sie nicht aufs Land gehen, wo Arbeitskräfte so knapp sind.«
Der Farmer dachte ein Weilchen nach. »Aber was machen Sie, wenn Ihnen das Geld ausgeht?« sagte er schließlich. »Da müssen Sie ja wohl arbeiten, oder?«
»Warten wir erst mal ab, bis es alle ist«, gab Jurgis zurück.« »Dann werden wir schon weitersehen.«
Er schlief sich in der Scheune schön aus, und dann gab es ein gutes Frühstück mit Kaffee, Brot, Hafergrütze und geschmorten Kirschen, wofür der Mann ihm nur fünfzehn Cent abnahm, vielleicht weil seine Argumente ihn beeindruckt hatten. Danach verabschiedete sich Jurgis und machte sich wieder auf den Weg.
So begann sein Leben als »Tramp«. Nur selten fand er so gute
Aufnahme wie auf der letzten Farm, und mit der Zeit lernte er, die
Häuser zu meiden und lieber im Freien zu übernachten. Wenn es
regnete, suchte er sich eine verlassene Hütte, und fand er keine,
wartete er die Dunkelheit ab und schlich dann, seinen Knüppel in
der Hand, auf eine Scheune zu. Meist gelang es ihm, hineinzukommen,
ehe der Hofhund ihn witterte, und dann verkroch er sich im Heu und
war dort bis zum Morgen in Sicherheit; hatte er Pech und stellte
ihn der Hund, trat er einen geordneten Rückzug an. Wenn Jurgis auch
nicht mehr so bärenstark war wie früher, in seinen Armen steckte
noch viel Kraft, und es kam selten vor, daß ein Hund nicht nach dem
ersten Hieb genug hatte.
Die Himbeeren wurden reif, anschließend auch die Brombeeren, und das half ihm Geld sparen; außerdem gab es Äpfel in den Obstplantagen und Kartoffeln auf den Feldern – er merkte sich die Stellen, und nach dem Dunkelwerden füllte er sich die Taschen. Zweimal konnte er sogar ein Huhn fangen und sich eine Schlemmermahlzeit bereiten, das eine Mal in einer aufgegebenen Scheune, das andere Mal an einem einsamen Bachufer. Wenn es gar nicht anders ging, griff er sein Geld an, vorsichtig zwar, doch ohne Sorge, denn er wußte ja, daß er sich jederzeit wieder etwas verdienen konnte. So wie er zupackte, brachte ihm schon eine halbe Stunde Holzhacken ein Essen ein, und so mancher Farmer, der ihn arbeiten sah, versuchte ihn zum Bleiben zu verlocken.
Aber Jurgis blieb nirgends. Er war jetzt ein freier Mensch, von niemandem abhängig, niemandem Rechenschaft schuldig, konnte nach Lust und Laune umherziehen. Die Wanderlust hatte ihn gepackt, die Freude am ungebundenen Leben, am Suchen und grenzenlosen Hoffen. Gewiß, manchmal ging etwas schief, und bequem war es wahrlich nicht immer – aber er erlebte wenigstens ständig etwas Neues. Man muß sich einmal vorstellen, was es für einen Mann bedeutete, der jahrelang im selben Elendsviertel eingepfercht gewesen war und stets bloß den trostlosen Ausblick auf Armeleutehäuser und Fabriken gehabt hatte, nun auf einmal unter dem weiten Himmel freigelassen zu sein und stündlich neue Landschaften, neue Orte und andere Menschen zu sehen. Für einen Mann, dessen Leben daraus bestanden hatte, den ganzen Tag ein und dieselbe Tätigkeit zu verrichten, bis er so erschöpft war, daß er sich nur noch hinlegen und bis zum nächsten Morgen durchschlafen konnte – und der jetzt sein eigener Herr war, der arbeiten konnte, wie und wann es ihm beliebte, und einem neuen Erlebnis nach dem andern entgegensehen durfte.
Auch seine Gesundheit gewann er zurück, all seine Jugendfrische, seinen Elan und seinen Frohsinn, denen er nachgetrauert und die er vergessen hatte! Plötzlich kam das alles wieder, überraschend und verwirrend; es war, als wäre seine erloschene Kindheit erneut lebendig geworden, als lache und locke sie. Er hatte satt zu essen, frische Luft und Bewegung, so viel er wollte, und wenn er aus dem Schlaf erwachte, marschierte er los, ohne zu wissen, wohin mit seiner Kraft; er reckte die Arme, lachte und sang alte Lieder aus der Heimat, die ihm wieder einfielen. Ab und zu mußte er freilich an den kleinen Antanas denken, den er nie mehr sehen, dessen Stimmchen er nie mehr hören sollte, und dann hatte er schwer mit sich zu ringen. Nachts erwachte er manchmal aus Träumen von Ona, streckte die Arme nach ihr aus und netzte den Boden mit seinen Tränen. Aber wenn er am Morgen dann aufstand, schüttelte er das von sich ab und zog weiter aus, den Kampf mit der Welt zu bestehen.
Er fragte nie danach, wo er sei oder wohin die Straße führe; er wußte, daß das Land groß genug war und er nicht zu befürchten brauchte, an sein Ende zu kommen. Und natürlich konnte er, wenn ihm danach war, jederzeit Gesellschaft haben, denn überall, wo er hinkam, gab es Männer, die genauso lebten wie er und denen er sich anschließen durfte. Sie waren nicht abweisend gegen Neue in dem Metier, und sie brachten ihm all ihre Schliche bei: welche Kleinstädte und Dörfer man besser mied, was die Geheimzeichen an den Zäunen bedeuteten, wann man betteln und wann man stehlen mußte und wie man beides anstellte. Sie lachten ihn aus, daß er immer mit Geld oder Arbeit zahlen wollte – sie verschafften sich alles, was sie brauchten, ohne Gegenleistung. Ab und zu kampierte Jurgis mit einer Gruppe von ihnen in einem Schlupfwinkel im Wald, und nachts zogen sie gemeinschaftlich in der Umgebung auf Beute aus. Manchmal kam er sich mit dem einen oder anderen näher, und dann wanderten sie zu zweit weiter, blieben eine Woche zusammen und tauschten Erinnerungen aus.
Unter diesen berufsmäßigen Tramps befanden sich natürlich auch welche, die seit jeher ein arbeitsscheues und lasterhaftes Leben geführt hatten. Die meisten aber waren vorher Arbeiter gewesen, hatten den gleichen langen Kampf wie Jurgis gefochten und ihn dann aufgegeben, als sie merkten, daß sie doch nur immer die Unterlegenen sein würden. Später begegnete er noch einem anderen Typ, aus dem sich die Tramps rekrutierten: Männer, die zwar ständig unterwegs, aber auch ständig auf der Suche nach Arbeit waren, nämlich auf den Erntefeldern. Von diesen Wanderarbeitern gab es ein ganzes Heer: die riesige Arbeitskräfte-Reservearmee der Gesellschaft, nach unerbittlichem Naturgesetz ins Leben gerufen, um in der Welt die Gelegenheitsarbeiten zu verrichten, die nur zeitweilig und unregelmäßig anfallen, aber trotzdem getan werden müssen. Natürlich war ihnen das alles gar nicht klar; sie wußten nur, daß sie Arbeit suchten und daß es die stets nur für kurze Zeit gab. Im Frühsommer waren sie in Texas zu finden, und mit den reifenden Feldfrüchten wanderten sie immer weiter nach Norden, bis sie im Herbst schließlich in Manitoba angelangt waren. Dann suchten sie die großen Holzfäller-Camps auf, wo man auch im Winter Arbeit bekommen konnte; hatten sie dort kein Glück, drifteten sie in die Großstädte und lebten von dem, was sie sich hatten sparen können, und von Gelegenheitsarbeiten, wie sie dort zu haben waren: Be- und Entladen von Lastdampfern und Rollwagen, Ausschachten von Gräben und Schneeschippen. Überstieg ihre Zahl den Bedarf, kamen, gleichfalls gemäß unerbittlichem Naturgesetz, die Schwächeren durch Hunger und Kälte um.
Ende Juli war Jurgis in Missouri, und dort lernte er den Erntebetrieb kennen. Hier stand Getreide auf dem Halm, für das Menschen sich drei oder vier Monate abgemüht hatten und das sie nun fast alles verlieren würden, wenn sie nicht für ein, zwei Wochen fremde Hilfe fanden. So erschallte im ganzen Land ein Ruf nach Erntehelfern – Vermittlungsbüros wurden eingerichtet, Männer aus den Großstädten angeworben, ja selbst College-Boys waggonweise herbeigeholt, und Horden von Farmern, die wie von Sinnen waren, hielten die Züge an und verschleppten ganze Wagenladungen von Leuten zur Arbeit. Sic zahlten gar nicht schlecht, nämlich zwei Dollar pro Tag, und das bei freier Unterbringung und Verpflegung; wer besonders tüchtig war, konnte es auf zweieinhalb bis drei Dollar bringen.
Das Erntefieber lag regelrecht in der Luft, und wer noch nicht total verkalkt war, konnte hier nicht sein, ohne davon angesteckt zu werden. Jurgis schloß sich einem Trupp an und arbeitete zwei Wochen lang von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, achtzehn Stunden am Tag. Dann hatte er eine Summe zusammen, die in den alten Elendszeiten ein Vermögen für ihn bedeutet hätte – aber was sollte er jetzt damit anfangen? Gewiß, er hätte das Geld auf eine Bank bringen und es, wenn er Glück hatte, auch wiederbekommen können, wann immer er wollte. Doch Jurgis war jetzt ein Heimatloser, der durch einen ganzen Kontinent zog, und was verstand er schon von Habenzinsen, Wechseln und Kreditbriefen? Trug er das Geld mit sich herum, würde es ihm eines Tages doch bloß gestohlen; was sollte er also weiter machen, als es sich damit gutgehen zu lassen, solange er konnte? An einem Samstagabend zog er mit den anderen in die nächste Ortschaft, und da es regnete und er sich sonst nirgends anders aufhalten konnte, ging er in eine Kneipe. Dort waren Männer, die einen ausgaben, woraufhin er sich natürlich revanchieren mußte. Man lachte und sang, es herrschte fidele Stimmung, und dann lächelte ihn vom hinteren Teil der Gaststube her ein Mädchen an, rotwangig und fröhlich, und plötzlich schlug ihm das Herz bis zum Hals. Er nickte ihr zu, und sie kam und setzte sich zu ihm; sie tranken noch mehr, dann ging er mit ihr nach oben in ein Zimmer, und in ihm erwachte das wilde Tier und brüllte, wie es schon zu Anbeginn der Zeit im Urwald gebrüllt hatte. Da Erinnerungen in ihm aufkamen und er sich schämte, war er froh, als andere, Männer und Frauen, sich zu ihnen gesellten; und sie tranken weiter und verbrachten die Nacht in wilder Ausgelassenheit und Ausschweifung. Die Vorhut der Reservearmee bildete nämlich ein weiteres Heer: ein Heer von Frauen, die gleichfalls nach dem unerbittlichen Gesetz der Natur um ihr Leben kämpften. Weil es reiche Männer gab, die ihr Vergnügen suchten, hatten sie, solange sie jung und hübsch waren, gut, ja üppig gelebt, aber später waren sie dann von Jüngeren und Hübscheren verdrängt worden, und so zogen sie nun mit den Wanderarbeitern mit. Manchmal kamen sie auf eigene Faust, und die Wirte gaben ihnen Prozente, manchmal wurden sie auch von Agenturen vermittelt, genauso wie die Arbeiter. Zur Erntezeit waren sie in den Kleinstädten, und im Winter hielten sie sich in der Umgebung der Holzfäller-Camps auf oder reisten in die Großstädte, um da zu sein, wenn der Strom der Männer kam; ob ein Regiment zum Manöver ins Feldquartier ging, ob irgendwo eine Bahnlinie oder ein Kanal gebaut oder eine große Ausstellung vorbereitet wurde – das Heer der Animier- und Freudenmädchen war immer zur Stelle. Sie hausten in Baracken, Kneipen oder Untermietzimmern, zuweilen zu acht bis zehnt in einem Raum.
Am Morgen hatte Jurgis keinen Cent mehr, und er ging wieder auf die Walze. Er fühlte sich elend und angewidert, aber nach seiner neuen Lebenseinstellung unterdrückte er seine Empfindungen: Er habe sich zwar schändlich ausnehmen lassen, doch das sei jetzt nicht mehr zu ändern – er könne nur aufpassen, daß ihm das nicht wieder passiert. Und er wanderte weiter, bis die Bewegung und die frische Luft das Kopfweh vertrieben und seine Kraft und gute Laune zurückkehrten. So war das jedesmal bei ihm, denn er ließ sich noch von Impulsen lenken, gab sich seinen Vergnügungen noch nicht bloß routinemäßig hin. Es würde lange dauern, bis er der Mehrheit dieser Landstreicher glich, die so lange herumstromerten, bis das Verlangen nach Alkohol und Frauen sie übermannte und sie dann mit einem bestimmten Ziel vor Augen zu arbeiten anfingen und gleich wieder aufhörten, sobald sie das Geld für eine wüste Nacht zusammen hatten.
Jurgis dagegen konnte machen, was er wollte, er wurde sein Gewissen einfach nicht los. Es kam über ihn, wo er es am wenigsten erwartete, ja bisweilen trieb es ihn geradezu zum Trinken.
Eines Abends konnte er eines Gewitters wegen nicht weiter, und er suchte Zuflucht in einem Häuschen am Rande einer kleinen Stadt. Darin wohnte ein Arbeiter, der Slawe war wie er, erst vor kurzem aus Weißrußland eingewandert. Der Mann hieß Jurgis in seiner Muttersprache willkommen und lud ihn ein, sich ans Herdfeuer zu setzen und sich zu trocknen. Er habe zwar kein Bett für ihn, sagte er, aber auf dem Dachboden liege Stroh, und dort könne er sich ein Nachtquartier herrichten. Seine Frau bereitete gerade das Abendbrot, und die Kinder spielten auf dem Fußboden herum. Jurgis nahm Platz und tauschte mit dem Mann Gedanken über die Heimat aus und über die Orte, wo sie gewesen waren, und was für Arbeit sie gemacht hatten. Dann aßen sie, und hinterher saßen sie noch beisammen, rauchten und unterhielten sich weiter, jetzt über Amerika und wie sie es hier fänden. Mitten in einem Satz stockte Jurgis jedoch, denn er sah, daß die Frau eine große Wanne mit Wasser hereingebracht hatte und nun das jüngste Kind auszuziehen begann. Die anderen hätten sich schon in ihre Schlafkammer verzogen, das Baby aber müsse gebadet werden, erklärte der Vater. Die Nächte wären schon recht kühl gewesen, und da sich die Mutter mit dem Klima hierzulande noch nicht auskennt, hätte sie den Kleinen winterlich eingemummt, doch dann sei es wieder warm geworden, und da habe er irgendwelchen Ausschlag bekommen. Der Arzt sage, er muß nun jeden Abend gebadet werden, und sie sei so töricht, das zu glauben.
Jurgis hörte kaum zu; er beobachtete das Kind. Der Junge war etwa ein Jahr alt, ein stämmiger Bursche mit dicken, weichen Beinen, kugelrundem Bäuchlein und kohlschwarzen Augen. Seine Pusteln schienen ihn nicht zu beeinträchtigen; er freute sich wer weiß wie auf das Bad, strampelte und gluckste vergnügt, grabschte nach dem Gesicht seiner Mutter und dann nach seinen eigenen Zehen. Sie setzte ihn in die Wanne, und er saß selig lächelnd da, plantschte, spritzte Wasser über sich und quietschte vor Wonne. Er plapperte russisch, und das in der allerputzigsten Babysprache – jedes Wort brachte Jurgis, der ein wenig Russisch verstand, eines seines eigenen toten Söhnchens in Erinnerung und stach ihn wie ein Messer ins Herz. Er saß reglos und schweigend, preßte aber die Hände fest zusammen, während sich in seiner Brust ein Gewitter zusammenzog und sich hinter seinen Augen eine Flut staute. Schließlich hielt er es nicht mehr aus, vergrub das Gesicht in den Händen und brach zur Verwunderung und Bestürzung seiner Gastgeber in Tränen aus. Weil er sich deswegen schämte und sein Schmerz einfach unerträglich wurde, stand er auf und stürzte hinaus in den Regen.
Er lief die Landstraße hinunter, immer weiter, bis er an einen dunklen Wald gelangte. Dort verkroch er sich und weinte sich das Herz aus dem Leibe. Ach, welche Qual bedeutete es, wenn die Gruft der Erinnerung sich auftat und die Geister seines alten Lebens herausgestiegen kamen, um ihn zu martern! Wie grauenhaft war es, zu sehen, wie er einmal gewesen war und nie wieder sein konnte – zu sehen, wie seine Frau, sein Kind und sein totes Ich die Arme nach ihm ausstreckten und über einen bodenlosen Abgrund hinweg nach ihm riefen – und zu wissen, daß sie auf ewig von ihm gegangen waren und er sich hier im Pfuhl seiner eigenen Verworfenheit wand und darin erstickte!