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Am nächsten Morgen fand sich Jurgis pünktlich um sieben Uhr zur Arbeit ein. Er ging zu der Tür, die man ihm gezeigt hatte, und wartete dort bald zwei Stunden. Der Meister hatte gemeint, er solle hineingehen, das aber nicht gesagt, und erst als er herauskam, um jemand anders einzustellen, stieß er auf Jurgis. Er schimpfte ihn gehörig aus, doch da Jurgis kein Wort verstand, widersprach er nicht, und folgte dann dem Meister. Der zeigte ihm, wo er seine Sachen hinhängen konnte, wartete, bis Jurgis sich sein in einem Altkleiderladen gekauftes und in einem Bündel mitgebrachtes Arbeitszeug angezogen hatte, und führte ihn schließlich zu den Schlachtbändern. Die Arbeit, die Jurgis hier tun sollte, war sehr simpel und in ein paar Minuten zu lernen: Mit einem steifen Besen, wie ihn die Straßenkehrer haben, mußte er die Reihe entlang dem Mann, der aus den Körpern die Gedärme herausriß, nachgehen und diese dampfende Masse in ein Bodenloch kehren und dessen Klappe wieder schließen, damit niemand hineinfiel. Als Jurgis kam, trafen gerade die ersten Rinder des Morgens ein, und da ging es sofort mit der Arbeit los, so daß ihm keine Zeit blieb, sich groß umzuschauen oder mit jemandem ein Gespräch anzufangen. Es war ein drückend schwüler Julitag, und auf dem Fußboden staute sich warmes Blut – man watete förmlich darin. Der Gestank war schier unerträglich, aber Jurgis störte das nicht. Sein Herz hüpfte vor Freude: Endlich arbeitete er! Arbeitete und verdiente Geld! Den ganzen Tag rechnete er vor sich hin. Man zahlte ihm märchenhafte siebzehneinhalb Cent die Stunde, und da heute besonders viel zu tun war und bis fast sieben Uhr gearbeitet wurde, konnte er mit der frohen Botschaft heimgehen, daß er an einem einzigen Tag über anderthalb Dollar verdient habe!

Zu Hause erwarteten ihn weitere gute Nachrichten, so daß es in Anieles Schlafdiele eine stürmische Freudenfeier gab.

 


Jonas war mit Szedvilas bei dem Werkpolizisten gewesen und von dem zu mehreren Aufsehern gebracht worden, mit dem Ergebnis, daß einer ihm für Anfang nächster Woche Arbeit versprochen hatte. Und Marija Berczynskas war, angespornt durch den Erfolg von Jurgis, auf eigene Faust auf Stellensuche gegangen. Alles, was sie dazu mitnehmen konnte, waren ihre kräftigen Arme und das eingeübte Wort »Arbeit«. Damit zog sie den ganzen Tag durch Packingtown und ging zu allen Türen hinein, wo es nach regem Betrieb aussah. Zu einigen wurde sie unter Flüchen wieder hinausgewiesen, aber Marija fürchtete weder Tod noch Teufel und fragte jeden, den sie sah, bloße Besucher ebenso wie Arbeiter und ein paarmal sogar höhere und hochnäsige Angestellte, die sie daraufhin anstarrten, als sei sie nicht bei Trost. Zu guter Letzt zahlte sich ihre Beharrlichkeit jedoch aus. In einer der kleineren Fabriken geriet sie in einen Saal, wo an langen Tischen Dutzende von Frauen und Männern saßen und Rauchfleisch einbüchsten. Durch die anschließenden Räume weiterwandernd, gelangte sie schließlich dahin, wo die verschlossenen Konservenbüchsen lackiert und etikettiert wurden, und hier hatte sie das Glück, an die Aufseherin zu kommen. Marija verstand damals noch nicht, was ihr erst später aufgehen sollte, nämlich was Aufseherinnen an der Kombination grenzenlos gutmütiges Gesicht plus Muskeln wie ein Brauerpferd schätzen. Jedenfalls sagte ihr diese Frau, sie möge morgen wiederkommen, dann werde sie ihr vielleicht die Chance geben, sich als Lackiererin anlernen zu lassen. Da Büchsenlackieren spezialisierte Stückarbeit war und bis zu zwei Dollar am Tag erbrachte, platzte Marija daheim mit Indianergeheul herein und vollführte solche Freudensprünge, daß das kleinste Kind vor Schreck beinahe Schreikrämpfe kriegte.

Größeres Glück hätten sie kaum erhoffen können; jetzt brauchte nur noch einer von ihnen Arbeit. Jurgis wollte unbedingt, daß Teta Elzbieta daheimbleibe, um den Haushalt zu führen, und daß Ona ihr dabei helfe. Ona arbeiten schicken – nein, so ein Mann sei er nicht, erklärte er, und Ona wäre auch nicht die Frau dafür. Es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn ein Mann wie er die Familie nicht ernähren kann, zumal Jonas und Marija ja Kostgeld abgeben werden. Er mochte auch nichts davon hören, die Kinder in eine Fabrik gehen zu lassen – hier in Amerika solle es Schulen geben, deren Besuch unentgeltlich ist. Daß der Priester gegen diese Schulen war, davon hatte er noch keine Ahnung, und er fand, Teta Elzbietas Kinder sollten dieselben Chancen haben wie die anderer Leute. Das älteste von ihnen, der kleine Stanislovas, war erst dreizehn und obendrein schmächtig für sein Alter. Mochte auch der älteste Sohn von Szedvilas sogar erst zwölf sein und trotzdem schon seit über einem Jahr bei Jones arbeiten, Jurgis wollte, daß Stanislovas Englisch lerne und später eine richtige Berufsausbildung mache.

So blieb nur Dede Antanas übrig. Jurgis hätte auch ihm gern Ruhe gegönnt, mußte aber einsehen, daß das nicht ging, und außerdem wollte der alte Mann davon nichts hören, denn er lebte in der Einbildung, noch so gut beieinander zu sein wie in seinen besten Jahren. Er war mit genausoviel Hoffnung nach Amerika gekommen wie die rüstigsten von ihnen, und jetzt bildete er das Problem, das seinem Sohn die meisten Sorgen bereitete. Mit wem Jurgis auch sprach, jeder versicherte ihm, für den alten Mann in Packingtown Arbeit suchen zu wollen wäre vergeudetete Zeit. Jokubas sagte ihm, daß die Firmen nicht einmal jene Arbeiter behielten, die in ihren Diensten alt geworden sind – geschweige denn daß sie neue alte Leute einstellten. Und das sei nicht nur hier die Regel, sondern seines Wissens in ganz Amerika so. Jurgis zuliebe hatte er den Werkpolizisten gefragt und war mit dem Bescheid zurückgekommen, daß es ganz aussichtslos wäre. Sie hatten das Dede Antanas verschwiegen, und der war dann die beiden Tage die Yards abgeklappert. Als er jetzt heimkam und vom Erfolg der anderen hörte, lächelte er tapfer und sagte, andermal werde er schon noch Glück haben.

Sie meinten, da sich die Dinge so günstig anließen, dürften sie auch bereits an ein eigenes Heim denken. Während sie an jenem Sommerabend draußen auf der Vortreppe saßen und darüber berieten, nahm Jurgis die Gelegenheit wahr, etwas Gewichtiges vorzubringen. Auf dem Weg zur Arbeit heute früh waren ihm zwei Jungen aufgefallen, die von Haus zu Haus große Reklamezettel verteilten, und als er sah, daß Bilder darauf waren, ließ er sich einen geben, rollte ihn zusammen und steckte ihn sich ins Hemd. In der Mittagspause hatte ihm ein Kollege, mit dem er ins Gespräch gekommen war, den Text vorgelesen und noch einiges dazu erzählt, worauf hin Jurgis dann einen kühnen Gedanken faßte.

Er legte das Blatt nun den anderen vor. Es war ein wahres Kunstwerk, über einen halben Meter hoch, auf Glanzpapier gedruckt und in so schillernden Farben gehalten, daß sie selbst im Mondlicht noch leuchteten. Die Mitte nahm ein wunderhübsch gemaltes Haus ein, nagelneu und bestechend schön. Das Dach schimmerte purpurn mit Goldschattierung, die Wände gleißten silbrig, die Türen und Fensterrahmen funkelten rot. Das Haus hatte zwei Geschosse, einen überdachten Vorplatz und phantastisch verschnörkelte Zierblenden. Bis ins kleinste Detail war alles da; sogar den Türknauf konnte man erkennen. Auf dem Vorplatz schaukelte eine Hängematte, und an den Fenstern hingen weiße Spitzen-Stores. Unter diesem Bild befand sich in der einen Ecke ein kleineres, das ein sich liebevoll umarmendes Ehepaar zeigte, und in der anderen sah man eine Wiege mit duftigem Baldachin, über dem ein lächelnder Engel mit silbernen Flügeln schwebte. Damit auch wirklich jeder kapierte, was dargestellt war, stand noch in polnisch, litauisch und deutsch »DOM • NAMAI • HAUS« dabei. Und ebenso vielsprachig wurde dann gefragt: »Warum Miete zahlen? Warum nicht lieber ein EIGENHEIM erwerben? Wissen Sie, daß Sie das für weniger bekommen können, als Ihre Miete ausmacht? Wir haben schon Tausende von Häusern gebaut, in denen jetzt sorgenfrei gewohnt wird – sorgenfrei, weil mietefrei!« In beredten Worten schilderte der Text die Freuden des Familienlebens am eignen Herd, der Goldes wert, und zitierte auch »Trautes Heim, Glück allein«, ja wagte sich an dessen Übertragung ins Polnische – unterließ aber aus irgendeinem Grund die ins Litauische. Vielleicht hatte es der Übersetzer zu schwierig gefunden, in einer Sprache gefühlvoll zu werden, in der ein Schluchzer »gukcziojimas« heißt und ein Lächeln »nusiszypsojimas«.

Die Familie brütete lange über diesem Blatt, während Ona den Inhalt zusammenbuchstabierte. Der Beschreibung nach hatte das Haus drei Zimmer und Küche sowie ein »Souterrain« und war alles in allem samt Grundstück für fünfzehnhundert Dollar zu haben. Davon brauchten nur dreihundert gleich bezahlt zu werden, den Rest konnte man mit monatlich zwölf Dollar abtragen. Angsterregend viel Geld, gewiß, aber schließlich war man ja in Amerika, wo die Leute furchtlos von solchen Beträgen sprachen. Sie hatten erfahren, daß sie für eine Wohnung neun Dollar im Monat zahlen müßten; billiger kämen sie einfach nicht davon, wollten sie nicht so wie jetzt alle zwölf in ein oder zwei Zimmern zusammengepfercht hausen. Zahlten sie Miete, müßten sie das bis in alle Ewigkeit tun und gewännen nichts dabei; brächten sie hingegen die für den Anfang nötige einmalige Mehrsumme auf, kam einmal die Zeit, da sie ihr Leben lang keine Miete mehr zu zahlen brauchten.

Sie begannen zu rechnen. Es war ein bißchen von Teta Elzbietas Geld übrig, und auch Jurgis besaß noch eine Kleinigkeit. Marija hatte etwa fünfzig Dollar, die irgendwo in ihren Strümpfen festgesteckt waren, und auch Dede Antanas verfügte noch über einen Teil von dem, was er für seinen Hof bekommen hatte. Wenn sie zusammenlegten, reichte es für die Anzahlung, und vorausgesetzt, sie hatten alle Arbeit, so daß sie sicher in die Zukunft sehen konnten, mochte es wirklich die beste Lösung sein. Natürlich war das keine Sache, die man auf die leichte Schulter nehmen durfte, sondern man mußte das Für und Wider schon sehr genau abwägen. Entschieden sie sich jedoch für das Wagnis, dann je eher um so besser, denn bezahlten sie nicht all die Zeit über Miete und wohnten dennoch mehr als miserabel? Jurgis selbst machte der Schmutz nichts aus; wer in einer Gleisbaukolonne gearbeitet hatte, in deren Schlafbaracke man ganze Händevoll Flöhe vom Fußboden lesen konnte, dem grauste vor nichts mehr. Aber das war nichts für Ona. So oder so müßten sie baldigst was Besseres haben – Jurgis sagte das mit all dem Selbstbewußtsein eines Mannes, der an einem einzigen Tag einen Dollar und siebenundfünfzig Cent verdient hatte. Er verstand ohnehin nicht, warum bei solchen Löhnen so viele Leute hier so erbärmlich wohnten.

Am nächsten Tag ging Marija wieder zu der Aufseherin und erhielt den Bescheid, sie könne Anfang nächster Woche antreten. Laut singend lief sie nach Hause und kam gerade noch rechtzeitig, um sich Ona und ihrer Stiefmutter anzuschließen, die soeben aufbrachen, sich näher über das Haus zu erkundigen. Am Abend erstatteten die drei dann den Männern Bericht. Alles sei genau so wie in dem Prospekt beschrieben, jedenfalls nach den Worten des Herrn in dem Büro. Die Häuser lägen weiter südlich, zirka anderthalb Meilen von den Yards. Sie wären wirklich einmalig günstig, habe er ihnen versichert, ganz im Vertrauen, und ihnen zu ihrem eigenen Guten zugeraten; er könne das ehrlichen Gewissens tun, da er kein persönliches Interesse an dem Verkauf hat, sondern lediglich als Makler fungiert, als Vermittler für eine Gesellschaft, die die Häuser gebaut hat. Dies wären die letzten, denn die Gesellschaft hört damit auf; wer also noch in den Genuß des wundervollen Mietfrei-Programms kommen will, müsse schnell zugreifen. Er sei sowieso nicht ganz sicher, ob überhaupt noch ein Haus übrig ist; er habe die Objekte schon so vielen Leuten gezeigt, und womöglich seien sie bereits alle von der Gesellschaft vergeben worden. Als er Teta Elzbietas offenkundige Enttäuschung darob sah, fügte er jedoch nach einigem Zögern hinzu, wenn sie echte Kaufabsichten haben, wolle er auf seine Kosten eines der Häuser telefonisch reservieren lassen.

 


So hatte er dann mit ihnen ausgemacht, daß sie am Sonntag zur Besichtigung kommen sollen.

Das war am Donnerstag, und den Rest der Woche liefen die Schlachtbänder bei Brown mit Hochdruck, so daß Jurgis jeden Tag einen Dollar fünfundsiebzig verdiente. Das bedeutete, er würde in der Woche auf zehneinhalb und im Monat auf fünfundvierzig Dollar kommen. Jurgis konnte nicht gut mit Zahlen umgehen, außer mit allereinfachsten, bei Ona aber ging so etwas blitzschnell, und so führte sie das Rechenexempel für die Familie durch. Marija und Jonas müßten jeder monatlich sechzehn Dollar Kostgeld zahlen, begann sie. Sogleich warf der alte Mann dazwischen, dasselbe wolle auch er beisteuern, sobald er Arbeit bekommt – und das könne ja jetzt jeden Tag der Fall sein. Gut, fuhr Ona fort, das ergäbe dann zusammen dreiundneunzig Dollar. Wenn Marija und Jonas von den Monatsraten für das Haus ein Drittel übernehmen, entfielen davon auf Jurgis nur noch acht Dollar. Es würden ihnen somit fünfundachtzig Dollar verbleiben – oder siebzig, falls Dede Antanas nicht gleich eine Stelle findet –, und das müßte doch wohl für den Unterhalt einer zwölfköpfigen Familie ausreichen.

Am Sonntag machten sich alle zusammen eine Stunde vor der verabredeten Zeit auf den Weg. Sie hatten einen Zettel mit der Adresse, und den zeigten sie hin und wieder jemandem. Die anderthalb Meilen stellten sich als reichlich lang heraus, doch sie legten sie unverdrossen zurück. Nach einer guten halben Stunde erschien der Makler, ein elegant gekleideter Herr von gewandtem Auftreten und routinierter Konzilianz; daß er fließend Litauisch sprach, gereichte ihm beim Verhandeln mit ihnen sehr zum Vorteil. Er führte sie zu dem Haus, das in einer langen Reihe typischer Holzbauten dieser Gegend stand, in der Baustil als überflüssiger Luxus erachtet wird. Ona sank das Herz, denn das Haus sah nicht aus wie das auf dem Bild; schon mal die Farben waren anders, und außerdem wirkte es wesentlich kleiner. Immerhin aber hatte es einen frischen Anstrich und machte einen ansehnlichen Eindruck. Alles sei nagelneu, sagte der Makler, und er redete in einem fort, so daß sie ganz verwirrt wurden und kaum Zeit fanden, Fragen zu stellen. Sie hatten sich nach so vielen Einzelheiten erkundigen wollen, doch jetzt waren die ihnen entweder entfallen, oder sie trauten sich nicht, damit anzukommen. Die anderen Häuser in der Reihe schienen nicht neu und größtenteils auch unbewohnt zu sein. Als sie darauf anzuspielen wagten, erwiderte der Makler, die Käufer würden in Kürze einziehen. In dieser Sache weiterzubohren hätte so aufgefaßt werden können, als zweifelten sie an seinen Worten, und keiner von ihnen hatte jemals im Leben mit jemandem höheren Standes anders als ehrerbietig und demütig gesprochen.

Das »Souterrain« stellte sich als der Keller heraus. Er lag nur wenig mehr als einen halben Meter unter der Straße, so daß das einzige richtige Geschoß ein über eine Vortreppe zu erreichendes Hochparterre war. Über diesem befand sich eine durch die Dachschräge gebildete Mansarde mit an beiden Giebelseiten einem Fensterchen. Die Straße vor dem Haus war weder gepflastert noch beleuchtet, und das Visavis bildeten ein paar vereinzelte Häuser gleicher Bauweise auf mit braunem, staubverkrustetem Unkraut bestandenen Parzellen. Innen gab es drei Zimmer und eine Küche, alle weißgekalkt. Der Keller war dagegen ganz roh belassen, hatte unverputzte Wände und keinen Fußboden. Der Makler erklärte, die Häuser würden deshalb so gebaut, weil die Käufer es im allgemeinen vorziehen, das Souterrain nach eigenem Geschmack fertigzustellen. Das Dachgeschoß war ebenfalls nicht ausgebaut – die Familie hatte sich vorgestellt, die Mansarde notfalls vermieten zu können, mußte nun aber sehen, daß es nicht einmal Bodendielen gab, nur Balken mit dazwischen dem Putzträger der darunterliegenden Decke. Doch dämpfte all das ihre Begeisterung nicht in dem Maße, wie man annehmen möchte, und das war der Beredsamkeit des Maklers zuzuschreiben; immer wieder führte er neue Vorzüge des Hauses an, gönnte seiner Zunge keine Sekunde Pause. Er zeigte ihnen alles bis hin zu den Türschlössern und den Fensterhaken samt ihrer Bedienung. Nachdem sie in der Küche gar ein Leitungsbecken mit fließendem Wasser sahen – etwas, das zu haben Teta Elzbieta nicht in ihren kühnsten Träumen erhofft hätte –, erschien es ihnen geradezu undankbar, irgendworan Aussetzungen zu machen, und so suchten sie vor anderen Mängeln die Augen zu verschließen.

Dennoch, sie waren Bauern, gehörten zu jenem Schlag, der sich nicht leicht von seinem Geld trennt, und alles Drängen des Maklers auf schnellen Entschluß blieb verlorene Mühe. Sie würden es sich überlegen, erklärten sie ihm, so etwas brauche Zeit. Also gingen sie wieder heim, und dann wurde den ganzen Tag bis fast in die Nacht hinein gerechnet und beraten. In einer solchen Sache eine Entscheidung zu fällen war für sie eine Qual. Nie konnten sich alle einig werden, denn es gab ja so vieles dafür und dagegen; hatte der eine eigensinnig auf seinem Standpunkt beharrt und war er endlich von den anderen überzeugt worden, stellte sich heraus, daß seine Argumente inzwischen einen anderen wankend gemacht hatten. Am Abend, als sie einmal gerade alle einer Meinung waren und das Haus schon so gut wie gekauft hatten, schaute Jokubas Szedvilas herein und machte sie wieder irre. Er erzählte ihnen haarsträubende Geschichten von Leuten, die dieser »Eigenheim«-Schwindel ins Grab gebracht hatte. So gut wie sicher gerieten sie mal mit den Raten in Schwierigkeiten, sagte er, und dann sei all ihr angezahltes Geld futsch. Und die nicht voraussehbaren Kosten für Reparaturen, Instandsetzungen und so weiter würden nie ein Ende nehmen; das Haus könne sich als reine Bruchbude herausstellen – wie solle ein armer Mann so was vorher erkennen? Schon mit dem Kaufvertrag würden sie einen aufs Kreuz legen, denn auch davon verstehe ein armer Schlucker ja nichts. Es sei alles nur Geldschneiderei, vor der man sich allein dadurch schützen kann, indem man sich in keine solchen Sachen einläßt. »Und Miete zahlen?« fragte Jurgis. Ja, gab Jokubas zurück, das sei natürlich ebenfalls Geldschneiderei – der Arme werde so oder so überall nur geschröpft. Nach einer halben Stunde solch deprimierender Unterhaltung waren sie überzeugt, vorm Sturz in einen Abgrund gerettet worden zu sein, aber dann ging Jokubas wieder, und Jonas, der ein kleiner Pfiffikus war, erinnerte sie daran, daß der Feinkostladen nach Angabe seines Besitzers eine einzige Pleite sei und daß dies der Grund für dessen Schwarzseherei sein könne. Woraufhin die Diskussion natürlich wieder von vorn losging.

Ausschlaggebend war dann, daß sie nicht bleiben konnten, wo sie jetzt wohnten – irgendwo mußten sie hin. Ließen sie den Plan mit dem Hauskauf fallen und entschieden sich für eine Mietwohnung, erschien ihnen die Aussicht, dafür immer und ewig monatlich neun Dollar hinlegen zu müssen, nicht weniger bedrückend. Fast eine Woche lang schlugen sie sich Tag und Nacht mit dem Problem herum, und schließlich nahm Jurgis die Verantwortung auf sich. Bruder Jonas hatte seine Stelle bekommen, war jetzt Karrenschieber bei Durham, und an den Schlachtbändern von Brown wurde weiterhin über die Zeit hinaus gearbeitet, so daß Jurgis von Stunde zu Stunde mehr Zuversicht gewann, es schaffen zu können. Er sagte sich, so etwas müsse der Mann in der Familie entscheiden und durchführen. Mochte es anderen auch nicht gelungen sein – er sei kein Versager und werde ihnen zeigen, wie man das macht. Er werde den ganzen Tag arbeiten, und wenn es sein muß, auch die ganze Nacht, werde nicht rasten und ruhen, bis das Haus abbezahlt ist und seine Familie ein Heim hat. Das alles sagte er ihnen, und damit waren die Würfel gefallen.

Sie hatten davon gesprochen, sich erst noch andere Häuser anzusehen, doch wußten sie weder, wo es welche gab, noch wo sie sich danach erkundigen konnten. Das eine, das sie besichtigt hatten, nahm in ihren Gedanken vollen Vorrang ein; immer wenn sie sich im Geiste wo wohnen sahen, dann in jenem Haus. Und so gingen sie hin und sagten dem Makler, sie wären bereit, den Vertrag zu machen. Rein theoretisch wußten sie zwar, daß man, wenn ein Geschäft im Spiel ist, in jedem Menschen von vornherein einen Lügner sehen muß, aber von dem Redeschwall des Maklers überwältigt, nahmen sie seine Erklärungen für bare Münze und glaubten ernsthaft, durch ihr Zögern riskiert zu haben, daß ihnen das Haus inzwischen weggeschnappt worden sei. Erleichtert atmeten sie auf, als er ihnen sagte, es wäre noch nicht zu spät.

Sie sollten morgen wiederkommen, bis dahin habe er die Papiere alle fertig. Das mit den Papieren – Jurgis wußte sehr wohl, daß man da gar nicht vorsichtig genug sein konnte, aber trotzdem war es ihm nicht möglich, selber hinzugehen; jeder hatte ihm gesagt, daß er keinen freien Tag bekommen würde und schon durch das bloße Bitten darum Gefahr laufe, seinen Arbeitsplatz zu verlieren. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als die Sache den Frauen und Jokubas Szedvilas anzuvertrauen, der sich erboten hatte, sie zu begleiten. Jurgis verbrachte Stunden damit, ihnen einzuschärfen, wie ernst das Ganze sei – und schließlich kamen aus unzähligen Verstecken in am Leibe getragener Kleidung und im Gepäck die kostbaren Bündel Geld zum Vorschein, um dann rasch in ein Säckchen gestopft und ins Futter von Teta Elzbietas Jacke eingenäht zu werden.

Am frühen Vormittag zogen sie los. Jurgis hatte ihnen so viele Verhaltensregeln gegeben und vor so vielen Gefahren gewarnt, daß die Frauen vor lauter Bangigkeit ganz blaß waren, und selbst der sich als abgebrühter Geschäftsmann vorkommende Jokubas konnte sich eines mulmigen Gefühls nicht erwehren. Der Makler hatte den Vertrag unterschriftsbereit; er forderte sie auf, Platz zu nehmen und ihn durchzulesen. Jokubas begann damit – eine mühselige und langwierige Prozedur, während der Makler mit den Fingern auf die Schreibtischplatte trommelte. Teta Elzbieta war es so peinlich, daß ihr Schweißperlen auf die Stirn traten, denn bedeutete dieses Lesen nicht dasselbe, als würde man dem feinen Herrn offen ins Gesicht sagen, daß man an seiner Ehrlichkeit zweifle? Doch Jokubas machte weiter, und bald zeigte sich, daß er guten Grund dazu hatte. Ihm stieg nämlich ein schrecklicher Verdacht auf, und je länger er las, um so mehr runzelte er die Stirn. Soweit er sehen konnte, war das überhaupt kein Kaufbrief, sondern bloß ein Mietvertrag! Bei diesem juristischen Kauderwelsch mit so vielen Wörtern, die er noch nie gehört hatte, ließ sich das zwar schwer erkennen, aber war »... verpflichtet sich obengenannte erste Partei hiermit zu mietlicher Überlassung an obengenannte zweite Partei« nicht eindeutig? Und ebenso »Mietzins in Höhe von 12 Dollar monatlich auf Dauer von 8 Jahren und 4 Monaten«? Jokubas nahm seinen Kneifer ab, sah den Makler an und stotterte eine Frage.

Der Makler war die Höflichkeit selbst und erklärte, das sei die übliche Formulierung; man vereinbare so etwas stets nur als Mietung. Immer wieder suchte er sie auf einen Passus im nächsten Absatz hinzuweisen, aber Jokubas kam nicht von dem Wort »Mietzins« los, und als er es Teta Elzbieta übersetzte, fuhr ihr der Schreck in die Glieder. Da würde ihnen das Haus ja fast neun Jahre lang gar nicht gehören! Mit unendlicher Geduld setzte der Makler zu abermaliger Erklärung an, doch Erklärungen nutzten jetzt nichts mehr. Elzbieta hatte sich Jurgis’ letzte Warnung fest eingeprägt: »Wenn irgendwas nicht stimmt, dann gebt ihm auf keinen Fall das Geld, sondern geht und holt einen Rechtsanwalt.« So qualvoll dieser Augenblick auch war, aber sie saß da auf ihrem Stuhl, preßte die Hände zusammen, bot in schier übermenschlicher Anstrengung alle Kraft auf und hauchte ihre Absicht hervor.

Jokubas dolmetschte ihre Worte. Sie hatte angenommen, der Makler werde in die Luft gehen, doch zu ihrer Verwunderung blieb er gelassen; er erbot sich sogar, ihr einen Advokaten herbeizuholen, was sie aber ablehnte. Sie marschierten absichtlich weit, um jemanden zu finden, der nicht mit dem Makler im Bunde stehen würde. Und nun stelle man sich ihre Bestürzung vor, als sie nach einer halben Stunde mit einem Anwalt zurückkamen und hören mußten, wie der den Makler beim Vornamen begrüßte!

Sie hatten das Gefühl, jetzt sei alles verloren, und hockten da wie Gefangene, die man zur Verkündung ihres Todesurteils vorgeführt hat. Sie konnten nichts mehr tun – sie saßen in der Falle! Der Anwalt las das Dokument durch, und als er damit fertig war, teilte er Jokubas mit, alles sei völlig korrekt; es handle sich um einen vorgedruckten Vertrag, wie man ihn bei solchen Transaktionen oft verwendet.

Sei der Preis auch so wie vereinbart, wollte Jokubas wissen, nämlich dreihundert Dollar auf den Tisch und dann jeden Monat zwölf Dollar bis zur Abtragung der Gesamtsumme von fünfzehnhundert? Ja, genau. Und er gelte für den Kauf von dem und dem Haus samt Grund und allem? Ja. Der Anwalt zeigte ihm, wo das geschrieben stand. Es habe wirklich alles seine Ordnung – keine Tricks und Fallstricke dabei? Sie wären arme Leute, und dies sei alles, was sie in der Welt haben, und wenn an der Sache etwas faul ist, wäre das ihr Ende! Und so fuhr Jokubas fort, brachte eine bange Frage nach der anderen vor, während die Frauen in stummer Qual an seinen Lippen hingen; sie konnten zwar nicht verstehen, was er sagte, aber sie wußten, daß davon ihr Schicksal abhing. Als es schließlich nichts mehr zu fragen gab und es nun soweit war, daß sie sich entscheiden und den Kaufvertrag entweder abschließen oder Abstand davon nehmen mußten, war die arme Teta Elzbieta zu nichts weiter fähig, als ihre Tränen zurückzudrängen. Jokubas fragte sie zweimal, ob sie unterschreiben wolle – aber was konnte sie antworten? Wußte sie denn, ob der Anwalt die Wahrheit sagte und nicht mit dem Makler zusammenheckte? Doch wie, unter welchem Vorwand sollte sie diesen Zweifel vorbringen? Die Augen aller im Raum ruhten auf ihr, warteten auf ihr Wort, und schließlich begann sie, halbblind vor Tränen, an ihrer Jacke zu nesteln. Das Säckchen kam zum Vorschein, und sie nahm vor den Männern das Geld heraus. Ona, die in einer Ecke des Zimmers saß und alles beobachtete, krampfte jetzt in fieberhafter Angst die Hände zusammen. Sie wollte laut herausschreien und ihrer Stiefmutter sagen, sie solle einhalten, denn sie würden hereinfallen, aber irgend etwas schien ihr die Kehle zuzuschnüren, und sie brachte keinen Laut heraus. So legte Teta Elzbieta die Scheine auf den Tisch, und der Makler nahm sie, zählte nach, schrieb eine Quittung aus und überreichte ihnen den Vertrag. Dann seufzte er erleichtert auf, erhob sich und schüttelte ihnen allen die Hand, immer noch so höflich und aalglatt wie zu Anfang. Ona blieb dunkel in Erinnerung, daß der Anwalt zu Jokubas sagte, sein Honorar betrage einen Dollar, was zu einem längeren Wortwechsel und neuer Pein führte. Nachdem sie auch das noch bezahlt hatten, gingen sie hinaus auf die Straße, wobei Teta Elzbieta das Dokument fest an sich gedrückt hielt. Vor Beklemmung waren sie so schwach, daß sie sich auf dem Heimweg ein paarmal hinsetzen mußten.

Den ganzen Tag lang plagten sie schreckliche Zweifel, und als Jurgis am Abend ihren Bericht hörte, sah er rot. Überzeugt, daß sie reingelegt worden und ruiniert seien, raufte er sich die Haare, fluchte wie ein Türke und schwor, er werde dem Makler noch heute den Hals umdrehen. Schließlich schnappte er sich den Vertrag, stürzte zum Haus hinaus und rannte den ganzen Weg quer durch die Yards hinüber zur Halsted Street. Er zerrte Jokubas von seinem Abendbrot weg und hastete mit ihm los, einen anderen Rechtsberater zu konsultieren. Als sie das Büro betraten, sprang der Anwalt auf, denn Jurgis sah mit seinen wirren Haaren und blutunterlaufenen Augen aus wie ein Amokläufer. Nachdem sein Begleiter dargelegt hatte, worum es ging, nahm der Anwalt den Vertrag und begann zu lesen, während der am ganzen Leib fliegende Jurgis dastand und die Hände um die Schreibtischplatte krümmte.

Ein paarmal blickte der Anwalt auf und fragte Jokubas etwas. Jurgis verstand kein Wort, aber seine Augen waren fest auf des Anwalts Gesicht gerichtet, in dem er in qualvoller Angst zu lesen suchte. Als er ihn hochschauen und lachen sah, holte er tief Luft. Der Mann sagte etwas zu Jokubas, und Jurgis, dem beinahe das Herz stehenblieb, wandte sich seinem Freund zu.

»Nun?« stieß er hervor.

»Er meint, es ist in Ordnung«, antwortete Jokubas.

»Wirklich?«

»Ja, er sagt, es ist alles so, wie es sein muß.«

Erleichtert sank Jurgis auf einen Stuhl. »Hast du dich auch nicht verhört?« keuchte er und ließ Jokubas eine Frage nach der anderen übersetzen. Er konnte es nicht oft genug hören, konnte nicht genug Abwandlungen fragen. Ja, sie hätten das Haus gekauft, es ordnungsgemäß erworben. Es sei an sie übergegangen; sie müßten nur immer die Tilgungsraten einhalten, dann gehe alles glatt. Da schlug Jurgis die Hände vors Gesicht, denn ihm standen Tränen in den Augen, und er kam sich vor wie ein Narr. Aber er hatte so schreckliche Angst gehabt; ein so kräftiger Mann er auch war, fühlte er sich jetzt so schwach, daß er kaum aufstehen konnte.

Das mit der »mietlichen Überlassung«, erläuterte der Anwalt, sei eine reine Formsache und beziehe sich nur auf die Zeit bis zur Leistung der letzten Zahlung; eine Vorsichtsmaßnahme, um einen Vertragspartner, der seinen Verpflichtungen nicht nachkommt, leichter hinaussetzen zu können. Solange sie jedoch zahlen, hätten sie nichts zu befürchten – das Haus gehöre durchaus ihnen.

Jurgis war so dankbar, daß er, ohne mit der Wimper zu zucken, den halben Dollar hinlegte, den der Anwalt verlangte, und dann eilte er im Laufschritt nach Hause, um den anderen alles zu erzählen. Er fand Ona in Ohnmacht vor, die Kinder schrien, und das ganze Haus war in heller Aufregung – alle hatten geglaubt, er wäre losgestürmt, um den Makler zu ermorden. Es dauerte Stunden, bis sie sich wieder beruhigten, und in der Nacht dann wurde Jurgis nicht wenige Male wach, weil er im Nebenzimmer Ona und ihre Stiefmutter leise vor sich hin schluchzen hörte.