25
Außer sich vor Wut, erhob
sich Jurgis, aber die Tür war bereits wieder zu; dunkel und so
unbezwinglich wie eine Festung lag das große Haus da. Dann fiel ihn
der eisige Wind an, und er drehte sich um und rannte davon.
Er verlangsamte seine Schritte erst wieder, als er in belebtere Straßen kam, denn er wollte nicht auffallen. Trotz der Demütigung, die er hatte hinnehmen müssen, schlug ihm das Herz höher vor Siegerstolz: Er war doch der Gewinner geblieben! Immer wieder schob er die Hand in die Hosentasche, um sich zu vergewissern, daß der kostbare Hundert-Dollar-Schein noch da war.
Dennoch befand er sich in einer mißlichen Lage – in einer vertrackten, ja scheußlichen Lage, wenn er es recht bedachte. Außer dieser einen Banknote besaß er keinen einzigen Cent! Er mußte sich für die Nacht doch ein Quartier nehmen, das heißt, er mußte den Schein wechseln!
Eine halbe Stunde lang lief Jurgis umher und überlegte, wie sich das am besten bewerkstelligen ließe. Er hatte niemanden, den er bitten konnte, das Wechseln für ihn zu erledigen – er mußte es schon allein machen. Es in einem Logierhaus tun hieße sich in Lebensgefahr begeben; mit Sicherheit würde er im Schlaf beraubt und vielleicht gar ermordet werden. Er konnte in ein Hotel oder zu einem Bahnhof gehen und darum bitten, daß man ihm den Schein wechseln möge – aber was würden die dort denken, wenn sie einen Penner wie ihn mit hundert Dollar sahen? Wahrscheinlich ließen sie ihn festnehmen, und was sollte er dann erzählen? Morgen früh bemerkte Freddie Jones den Verlust, und man würde nach ihm fahnden und ihm das Geld wieder abnehmen. So sah er die einzige Möglichkeit darin, es in einer Kneipe zu versuchen. Er konnte für das Wechseln ja bezahlen, wenn es nicht anders ging.
Im Vorübergehen spähte er in verschiedene Lokale hinein. An mehreren ging er vorbei, weil sie ihm zu voll waren, und als er schließlich eines fand, in dem der Zapfer ganz allein war, ballte er in plötzlicher Entschlossenheit die Hände und trat ein.
»Kann ich hier wohl hundert Dollar gewechselt bekommen?« fragte er.
Der Zapfer war ein großer, bulliger Kerl mit einem Kinn wie ein Preisboxer und drei Wochen alten Bartstoppeln. Er starrte Jurgis an. »Was sagst du da?«
»Ob ich hier hundert Dollar gewechselt bekommen kann.«
»Du?« Der Mann machte ein ungläubiges Gesicht. »Wo hast die her?«
»Das tut doch nichts zur Sache«, sagte Jurgis. »Ich habe sie und möchte sie gern kleingemacht haben. Ich bestell auch was dafür.«
Der andere fixierte ihn scharf. »Zeig mal.«
»Krieg ich den Schein gewechselt, ja oder nein?« Jurgis hielt ihn in der Hosentasche fest umklammert.
»Wie soll ich wissen, daß der Lappen keine Blüte ist?« gab der Zapfer zurück. »Für wie dumm hältst mich?«
Langsam und mißtrauisch trat Jurgis nahe zu ihm hin. Er holte die Banknote heraus und fingerte einen Augenblick daran herum, während der Mann ihn über die Theke hinweg feindselig beäugte. Schließlich reichte Jurgis ihm den Schein hinüber.
Der Zapfer nahm ihn und begann ihn zu prüfen; er glättete ihn zwischen den Fingern und hielt ihn gegen das Licht, drehte ihn so lang und so lang, längs, hochkant und dann verkehrt herum. Die Banknote war noch neu und ziemlich steif, und das machte ihn argwöhnisch. Jurgis beobachtete ihn die ganze Zeit wie ein Luchs.
»Hm«, gab der Mann nach einem Weilchen von sich und sah den Fremden abschätzend an: ein zerlumpter, übelriechender Tramp, ohne Mantel, den einen Arm in der Binde – und dann einen Hundert-Dollar-Schein! »Willst was bestellen?« fragte er.
»Ja«, antwortete Jurgis. »Ein Bier.«
»Gut, ich wechsle ihn.« Und der Zapfer steckte den Schein in seine Tasche, schenkte Jurgis ein Glas Bier ein und stellte es auf die Theke. Danach ging er zur Registrierkasse, tippte fünf Cent ein und begann, Geld aus der Springlade zu nehmen. Schließlich kam er zu Jurgis zurück und zählte ihm Münzen hin: zwei Zehn-Cent-Stücke, einen Vierteldollar und einen halben Dollar. »Da«, sagte er.
Eine Sekunde lang wartete Jurgis, denn er dachte, der Mann würde wieder an die Kasse gehen. Dann sagte er: »Meine neunundneunzig Dollar.«
»Was für neunundneunzig Dollar?« fragte der Zapfer.
»Das Geld, das ich noch rauszukriegen habe!« rief Jurgis. »Der Rest von meinem Hunderter!«
»Wie bitte?« sagte der Zapfer. »Hast noch alle Tassen im Schrank?«
Jurgis starrte ihn fassungslos an. Einen Augenblick lang erfüllte ihn Entsetzen, lähmendes, schreckliches Entsetzen, das ihm das Herz zusammenschnürte, dann stieg Wut in ihm hoch, rasende, blindmachende Wut. Er stieß einen Schrei aus, ergriff sein Glas und schleuderte es dem Kerl an den Kopf. Der Zapfer duckte sich, so daß es ihm um Fingerbreite verfehlte. Er richtete sich wieder hoch, und während Jurgis sich mit seinem heilen Arm über die Theke schwang, versetzte er ihm einen Kinnhaken, der ihn rückwärts zu Boden schleuderte. Als Jurgis wieder auf die Beine kam und um den Schanktisch herum auf ihn zu wollte, schrie der Mann aus vollem Halse: »Hilfe! Hilfe!«
Im Laufen schnappte sich Jurgis eine Flasche von der Theke, und als der Zapfer auf ihn zusprang, schleuderte er sie mit voller Kraft nach ihm. Sie streifte nur seinen Kopf und zerschellte am Türpfosten in tausend Scherben. Jurgis stürzte zurück und wieder auf den Kerl los, der jetzt in der Mitte des Raumes stand. Diesmal griff Jurgis ohne Flasche an, und darauf hatte der andere nur gewartet – er ging ihm auf halbem Weg entgegen und streckte ihn mit einem wuchtigen Faustschlag zwischen die Augen zu Boden. Unmittelbar danach flogen die Schwingtüren auf, und zwei Männer stürmten herein – gerade als Jurgis, mit Wutschaum vorm Mund, wieder auf die Beine kam und versuchte, seinen gebrochenen Arm aus der Schlinge zu ziehen.
»Vorsicht!« brüllte der Zapfer. »Er hat ein Messer!« Als er sah, daß die beiden bereit waren mitzuprügeln, fiel er von neuem über Jurgis her und versetzte ihm, der nur schwach abwehrte, einen Schlag, der ihn abermals taumeln ließ. Dann warfen sich alle drei auf Jurgis, und die vier wälzten sich schlagend und stoßend auf dem Fußboden herum.
Eine Sekunde später stürzte ein Polizist herein, und der Zapfer brüllte noch einmal: »Vorsicht, er hat ein Messer!« Jurgis hatte sich schon wieder auf die Knie hochgekämpft, als der Polizist auf ihn zusprang und ihm seinen Knüppel übers Gesicht zog. Der Hieb brachte ihn zwar ins Wanken, doch loderte noch immer tierische Wut in ihm, und er kam auf die Füße und schlug wild in die Luft. Dann ging der Knüppel erneut nieder, traf ihn voll auf den Schädel, und Jurgis sackte wie leblos zusammen.
Während der Polizist, seinen Knüppel schlagbereit in der Hand, über Jurgis hockte und wartete, daß er wieder hochkommen würde, stand der Zapfer auf und fuhr sich mit der Hand an den Kopf. »Mein Gott!« sagte er. »Dachte schon, mein letztes Stündlein ist gekommen! Hat er mir einen Stich beigebracht? Blute ich irgendwo?«
»Ich seh nichts, Jake«, antwortete der Polizist. »Was ist mit ihm?«
»Bloß ‘n Besoffener«, erklärte der andere. »Außerdem ‘n halber Krüppel. Hat mich trotzdem beinah unter die Theke gekriegt. Läßt wohl am besten den Wagen kommen, Billy.«
»Nicht nötig«, sagte der Polizist. »Ich schätze, der wehrt sich nicht mehr. Und es ist ja nur ‘n kurzes Stück zu laufen.« Er zwängte seine Hand in Jurgis’ Kragen und zerrte daran. »Steh auf, du!« befahl er.
Aber Jurgis regte sich nicht. Der Zapfer ging hinter den Schanktisch, und nachdem er dort rasch den Hunderter sicher versteckt hatte, kam er mit einem Glas Wasser zurück und goß es Jurgis übers Gesicht. Als der schwach zu stöhnen begann, zog ihn der Polizist auf die Beine und schleifte ihn aus dem Lokal. Die Wache war gleich um die Ecke, und so landete Jurgis einige Minuten später in einer Zelle.
Ein paar Stunden blieb er bewußtlos, und als er wieder zu sich kam,
quälten ihn rasende Kopfschmerzen und brennender Durst. Stöhnend
lag er da, und ab und an rief er laut nach einem Schluck Wasser,
aber niemand hörte darauf. Es gab auf dieser Wache noch mehr mit
Fieber und eingeschlagenem Schädel; in der Riesenstadt waren es
Hunderte und in dem Riesenland Zehntausende, und auch auf die alle
hörte kein Mensch.
Am Morgen bekam Jurgis einen Becher Wasser sowie ein Stück Brot und wurde dann in einen Wagen verfrachtet und zum nächsten Polizeigericht gefahren. Dort saß er zusammen mit zwanzig anderen auf der Anklagebank und wartete, bis er an die Reihe kam.
Der Zapfer – ein stadtbekannter Schläger, wie sich zeigte – wurde in den Zeugenstand gerufen, und nach der Vereidigung erzählte er seine Geschichte: Der Angeklagte sei nach Mitternacht in betrunkenem Zustand und in streitsüchtiger Stimmung in sein Lokal gekommen, habe ein Bier bestellt und ihm dafür einen Dollarschein hingelegt. Auf diesen seien ihm ordnungsgemäß fünfundneunzig herausgegeben worden, doch habe er neunundneunzig Dollar mehr verlangt und dann, noch ehe er, der Schenkkellner, antworten konnte, sein Glas nach ihm geworfen, ihn anschließend mit einer Flasche tätlich angegriffen und das halbe Lokal demoliert.
Dann wurde der Angeklagte vereidigt – ein verkommen aussehendes Subjekt, abgezehrt und unrasiert, den einen Arm in einem schmutzigen Verband, auf der einen Wange sowie am Oberkopf blutverkrustete Risse, das eine Auge dunkelblau verfärbt und völlig zugeschwollen.
»Was haben Sie zu Ihrer Verteidigung vorzubringen?« fragte der Richter.
»Euer Ehren«, sagte Jurgis, »ich bin in seine Kneipe gegangen und habe ihn gefragt, ob er mir einen Hunderter kleinmachen kann. Und er hat gesagt, ja, wenn ich was zu trinken bestelle. Da habe ich ihm den Schein rübergereicht, und dann hat er mir nicht rausgeben wollen.«
Der Richter sah ihn erstaunt an. »Sie haben ihm einen Hundert-Dollar-Schein gegeben?«
»Jawohl, Euer Ehren.«
»Wo hatten Sie den denn her?«
»Geschenkt bekommen, Euer Ehren, von einem Mann.«
»Von was für einem Mann und wofür?«
»Von einem jungen Mann, der mir auf der Straße begegnet war, Euer Ehren. Ich hatte gebettelt.«
Im Gerichtssaal hörte man Gekicher. Der Polizist, der Jurgis festhielt, verbarg sein Lächeln hinter der Hand, und der Richter lachte sogar frei heraus.
»Aber das ist wahr, Euer Ehren!« rief Jurgis erregt.
»Sie haben doch gestern abend nicht nur gebettelt, sondern auch getrunken, nicht wahr?« forschte der Richter.
»Nein, Euer Ehren«, widersprach Jurgis. »Ich ...«
»Keinen Tropfen?«
»Nun ja, ich ...«
»Was haben Sie denn getrunken?«
»Eine Flasche ... äh ... ich weiß nicht, was das war ... etwas, das so geprickelt hat ...«
Wieder erhob sich Gelächter im Saal, das dann abrupt verstummte, als der Richter aufsah und mit gerunzelter Stirn unvermittelt fragte: »Sind Sie vorbestraft?«
Das brachte Jurgis aus dem Konzept. »Ich ... ich ...« stammelte er.
»Sagen Sie mir jetzt die Wahrheit!« Die Stimme des Richters hatte Befehlston angenommen.
»Jawohl, Euer Ehren«, antwortete Jurgis.
»Wie oft schon?«
»Nur einmal, Euer Ehren.«
»Und weswegen?«
»Weil ich einen Meister zusammengeschlagen hatte, Euer Ehren. Ich arbeitete damals in den Yards, und er ...«
»So, so«, sagte Seine Ehren. »Ich glaube, das genügt. Sie sollten das Trinken lassen, wenn Sie sich nicht in der Gewalt haben. Zehn Tage und Gerichtskosten. Nächster Fall.«
Jurgis machte seiner Bestürzung durch einen Schrei Luft, den der Polizist jedoch rasch abwürgte, indem er ihn am Kragen packte und hinausschob in einen Raum zu den anderen Verurteilten. Dort saß Jurgis dann da und weinte in seiner ohnmächtigen Wut wie ein Kind. Es erschien ihm ungeheuerlich, daß bei der Polizei und vor Gericht sein Wort nichts galt gegenüber dem des Zapfers. Der gute Jurgis konnte ja nicht wissen: Der Besitzer der Kneipe zahlte dem Polizisten jede Woche allein dafür fünf Dollar, daß er beim verbotenen Sonntagsausschank die Augen zudrückte; und der boxende Schenkkellner war ein wichtiger Handlanger des demokratischen Partei-Bosses im Bezirk und hatte erst vor wenigen Monaten mitgeholfen, eine rekordbrechende Wahl zugunsten des Richters zu organisieren, der von pingeligen Reformern zur Zielscheibe ihrer Angriffe gemacht worden war.
So kam Jurgis zum zweiten Mal ins Bridewell. Bei dem Handgemenge
hatte er sich den Arm wieder verletzt, so daß er nicht arbeiten
konnte und vom Anstaltsarzt behandelt werden mußte. Auch um den
Oberkopf und über das Auge erhielt er einen Verband, und er bot
einen jämmerlichen Anblick, als er am zweiten Tag nach seiner
Einlieferung während der Auslaufstunde in den Gefängnishof
hinausging – und dort Jack Duane begegnete!
Der junge Mann freute sich so, Jurgis wiederzusehen, daß er ihm beinahe um den Hals gefallen wäre. »Mein Gott, wenn das nicht der Stinker ist!« rief er. »Aber was hast du – bist du durch eine Wurstmaschine gedreht worden?«
»Nein«, antwortete Jurgis, »mich hat eine Lok gerammt, und außerdem hatte ich ‘ne Schlägerei.« Und dann erzählte er, während sich ein paar andere Häftlinge hinzugesellten, seine verrückte Geschichte. Die meisten glaubten ihm nicht, Duane aber wußte, daß Jurgis gar nicht der Typ war, sich ein solches Garn zurechtzuspinnen.
»Pech, mein Alter«, sagte er, als sie wieder allein waren. »Aber vielleicht war’s dir eine Lehre.«
»Ich habe inzwischen ohnehin einiges gelernt«, sagte Jurgis betrübt. Er berichtete Duane von seinem Sommer auf der Walze. »Und du?« fragte er dann. »Bist du noch von damals drin?«
»Gott bewahre!« erwiderte Duane. »Nein, erst seit vorgestern. Ist nun schon das zweite Mal, daß sie mich unter fingierter Anklage einlochen. Ich habe in letzter Zeit nicht viel Geld machen können und bin nicht imstande zu zahlen, was sie verlangen. Jurgis, warum hauen wir beide nicht gemeinsam aus Chicago ab?«
»Ich weiß nicht, wohin ich sonst gehen könnte«, sagte Jurgis traurig.
»Ich eben auch nicht«, erklärte Duane und lachte leise. »Aber warten wir, bis wir hier raus sind, dann sehen wir weiter.«
Im Bridewell traf Jurgis nur wenige, die schon damals dagewesen waren, dafür aber viele, viele andere, alte und junge, von genau der gleichen Sorte. Es war wie bei der Brandung am Strand: ständig neues Wasser, und die Welle trotzdem immer genauso aussehend. Jurgis schlenderte umher und unterhielt sich mit ihnen; die »schweren Jungs« erzählten von den großen Dingern, die sie gedreht hatten, während die kleinen Fische oder die Jüngeren und noch Unerfahrenen sich um sie scharten und in schweigender Bewunderung lauschten. Bei seinem ersten Hiersein hatte Jurgis an kaum etwas anderes gedacht als an seine Familie, aber jetzt konnte er unbelastet diesen Männern zuhören, und ihm wurde klar, daß er einer von ihnen war – daß ihre Einstellung zu den Dingen auch seine Einstellung war, daß die Art und Weise, wie sie sich durchs Leben schlugen, künftig auch die seine sein würde.
Und so begab er sich, als er, ohne einen Cent in der Tasche, aus dem Gefängnis entlassen wurde, gleich zu Jack Duane. Er ging voller Demut und Dankbarkeit hin, denn Duane gehörte einem höheren Stand an und hatte Bildung – da war es erstaunlich, daß er sich mit einem einfachen Arbeiter zusammentun wollte, der sogar Bettler und Landstreicher gewesen war. Jurgis verstand nicht, was er ihm für eine Hilfe sein konnte; ihm war nicht klar, daß ein Mensch wie er – bei dem man sich darauf verlassen konnte, daß er treu zu jedem hielt, der ihn anständig behandelte – unter Kriminellen ebenso Seltenheitswert besaß wie in jeder anderen Schicht.
Die Adresse, die Jurgis hatte, war eine Dachstube im Judenviertel, die Behausung von Duanes Mädchen, einer hübschen kleinen Französin, die tagsüber als Näherin arbeitete und sich abends durch Prostitution etwas dazuverdiente. Er wohne nicht mehr bei ihr, erklärte sie Jurgis, denn er habe hier zuviel Angst vor der Polizei haben müssen. Als seinen neuen Unterschlupf nannte sie ihm eine Kellerkaschemme. Als Jurgis dort hinkam, behauptete der Wirt, von einem Jack Duane noch nie etwas gehört zu haben. Aber nachdem er Jurgis in ein regelrechtes Kreuzverhör genommen hatte, zeigte er ihm eine rückwärtige Treppe, die zu einem Hehlerlager im Hinterraum einer Pfandleihe führte, von wo aus es dann zu einer Reihe von Bordellzimmern ging. In einem davon hielt sich Duane verborgen.
Duane war froh, daß Jurgis kam. Er sei völlig blank, sagte er, und habe schon auf ihn gewartet, damit er ihm hilft, zu ein bißchen Geld zu kommen. Dann legte er ihm seinen Plan dar – ja er verbrachte den ganzen Tag damit, seinem Freund die Chicagoer Unterwelt zu erklären und ihm zu zeigen, wie er sich in ihr seinen Lebensunterhalt verdienen könne. Diesen Winter werde er es schwer haben wegen seines Arms und auch wegen der jetzigen ganz ungewohnten Aktivität der Polizei. Aber solange er unbekannt ist, wäre er sicher, wenn er vorsichtig bleibt. Hier bei »Papa« Hanson, dem alten Mann, der die Kneipe betreibt, habe er seine Ruhe, denn der sei »koscher« – halte zu einem, solange man zahlt, und gebe einem eine Stunde vorher Bescheid, wenn eine Razzia ins Haus steht. Und Rosensteg, der Pfandleiher, kaufe einem alles, was man anbringt, für ein Drittel des Wertes ab und garantiere außerdem, die Ware ein Jahr lang versteckt zu halten.
In dem schmalen Handtuch von Zimmer gab es einen Ölofen, und sie brieten sich darauf ein Abendbrot. Gegen elf Uhr zogen sie dann durch einen Hinterausgang los, Duane bewaffnet mit einem »Totschläger«. Als sie in eine Wohngegend kamen, kletterte Duane an einem Laternenpfahl hoch und pustete das Gaslicht aus. Dann drückten sie sich in den Schatten eines Souterraineingangs und verharrten dort mucksmäuschenstill.
Sehr bald schon kam ein Mann vorbei, ein Arbeiter – den ließen sie unbehelligt. Nach einer langen Weile hörten sie die schweren Schritte eines Polizisten, und sie hielten den Atem an, bis sie verklungen waren. Obwohl bereits halb erfroren, warteten sie noch eine volle Viertelstunde – und dann näherten sich wieder Schritte, diesmal flott ausschreitende. Duane stieß Jurgis an, und sobald der Mann an ihnen vorbei war, standen sie auf. Lautlos wie ein Schatten schlich Duane ihm nach, und eine Sekunde später vernahm Jurgis einen dumpfen Schlag, gefolgt von einem erstickten Schrei. Er stand nur ein paar Meter ab, und er sprang hinzu, um dem Mann den Mund zuzupressen, während Duane ihn an den Armen festhielt, so wie sie es vorher besprochen hatten. Doch der Mann war ganz schlaff und drohte zusammenzusacken, so daß Jurgis ihn nur am Kragen zu halten brauchte. Unterdessen durchsuchte Duane ihn mit flinken Fingern, riß ihm erst den Mantel, dann den Rock und schließlich die Weste auf, ging sämtliche Außen- und Innentaschen durch und steckte alles, was er fand, in seine eigenen Taschen. Nachdem er zum Schluß noch die Finger und die Krawatte des Mannes abgefühlt hatte, flüsterte er: »Das wär’s!« Sie schleiften ihn zu der Souterraintreppe und ließen ihn hinunterfallen. Dann gingen sie raschen Schrittes davon – Jurgis in die eine und sein Freund in die andere Richtung.
Duane war zuerst zu Hause, und als Jurgis kam, untersuchte er bereits die »Sore«. Sie bestand aus einer goldenen Uhr mit Kette und Medaillon, einem silbernen Drehbleistift, einer Schachtel Streichhölzer, einer Handvoll Münzen und schließlich einer Brieftasche. Aufgeregt machte Duane diese auf. Sie enthielt Briefe und Schecks, zwei Theaterkarten und im hinteren Fach einen Packen Banknoten. Er zählte die Scheine: ein Zwanziger, fünf Zehner, vier Fünfer und drei Einer. Duane pfiff durch die Zähne. »Damit sind wir aus dem Schneider«, sagte er.
Nach weiterer Prüfung verbrannten sie die Brieftasche samt Inhalt – ausgenommen natürlich die Geldscheine – und desgleichen das Bild eines kleinen Mädchens aus dem Medaillon. Darm brachte Duane die Uhr und die anderen Goldsachen hinunter zu dem Pfandleiher und kam zurück mit sechzehn Dollar. »Der alte Gauner behauptet, es wäre bloß Dublee«, sagte er. »Das ist gelogen, aber er weiß, ich brauche das Geld.«
Sie teilten den Ertrag, und Jurgis bekam als Anteil etwas über fünfundfünfzig Dollar. Er protestierte, das wäre zu viel für seine Mithilfe, aber Duane bestand darauf, halbe-halbe zu machen. Das sei ein guter Fang gewesen, erklärte er, besser als gewöhnlich.
Als sie am Morgen aufstanden, schickte er Jurgis gleich los, eine Zeitung zu kaufen; zu des Verbrechers Freuden, sagte er, gehöre es, hinterher über seine Tat zu lesen. »Ich hatte mal einen Kumpel, der machte das immer«, erzählte er lachend, »bis er eines Tages las, er habe in einer unteren Innentasche der Weste seines Opfers dreitausend Dollar steckenlassen!«
Es gab einen eine halbe Spalte langen Bericht über den Raubüberfall. Offenbar treibe in der Gegend eine Bande ihr Unwesen, schrieb das Blatt, denn dies wäre schon das dritte Vorkommnis dieser Art innerhalb einer Woche; die Polizei sei anscheinend machtlos. Bei dem Opfer handle es sich um einen Versicherungsvertreter, und man habe ihn um einhundertzehn Dollar erleichtert, die ihm nicht gehören. Zufällig sei sein Hemd mit seinem Namen gezeichnet gewesen, sonst hätte man ihn noch gar nicht identifizieren können, denn der Angreifer habe zu hart zugeschlagen, und der Mann liege jetzt mit Gehirnerschütterung im Krankenhaus. Außerdem sei er, als man ihn fand, halb erfroren gewesen, und nun werde er an der rechten Hand drei Finger verlieren. Der eifrige Reporter hatte die Nachricht den Angehörigen überbracht und schilderte, wie sie aufgenommen worden war.
Da Jurgis so etwas zum ersten Mal erlebte, bereiteten ihm diese Einzelheiten natürlich Gewissensbisse. Sein Kumpan lachte jedoch kaltblütig: Das gehöre nun einmal mit dazu und lasse sich nicht ändern; bald werde auch Jurgis dem nicht mehr Gedanken widmen als die Männer in den Yards den Rindern, die sie schlachten. »Hier heißt es doch, entweder wir oder der andere. »Und da sag ich, dann allemal lieber der andere.«
»Trotzdem«, meinte Jurgis nachdenklich. »Er hatte uns doch nichts getan.«
»Aber sicher jemandem anders, und nicht zu knapp, worauf du Gift nehmen kannst«, sagte Duane.
Duane hatte seinem Freund bereits erklärt, daß ein Mann ihrer
Zunft, wenn er erst einmal bekannt ist, pausenlos arbeiten müsse,
um bezahlen zu können, was die Polizei an Schweigegeld verlangt.
Deshalb sei es für Jurgis besser, sich draußen nicht zu zeigen, und
schon gar nicht zusammen mit seinem Partner. Aber Jurgis wurde es
bald leid, immer drinnen bleiben zu müssen. Nach ein paar Wochen
fühlte er sich wieder stark genug, konnte auch seinen Arm schon
fast ganz gebrauchen, und da hielt er es nicht mehr aus. Duane, der
inzwischen allein einen Coup unternommen und sich mit der Obrigkeit
arrangiert hatte, brachte Marie, seine kleine Französin, herüber,
um sie mit Jurgis zu teilen, aber selbst das half nicht für lange,
und schließlich mußte er seine Bedenken fallenlassen, Jurgis
mitnehmen und ihn in den Kneipen, Wettlokalen, Spielhöllen und
Bordellen einführen, wo die großen Gauner und Gangster
verkehrten.
So erhielt er Einblick in die obere Kriminellenwelt Chicagos. Da die Stadt, die einer Oligarchie von Geschäftsleuten gehörte, nach außen hin ja vom Volk regiert wurde, war ein riesiges Heer gedungener Helfer und Helfershelfer nötig, um die Übertragung der Macht zu bewerkstelligen. Zweimal im Jahr, zu den Frühjahrs- und zu den Herbstwahlen, wurden von den Geschäftsleuten Millionen Dollar zur Verfügung gestellt und von diesem Heer aufgebraucht. Man hielt Versammlungen ab, für die gewandte Redner engagiert wurden, ließ Musikkapellen spielen, Feuerwerke abbrennen, tonnenweise Flugblätter verteilen, Freibier in Strömen fließen und kaufte gegen Handgeld Zehntausende von Stimmen. Das Heer mußte natürlich das ganze Jahr über unterhalten werden. Seine Führer und Organisatoren erhielten ihren Sold von den Geschäftsleuten direkt: Stadträte und Abgeordnete mittels Bestechungsgeldern, Parteifunktionäre aus dem Wahlkampf-Fonds, Lobbyisten und Firmenjustitiare in Form von festen Gehältern, Gewerbeunternehmer und Zwischenhändler durch Aufträge und Kontrakte, Gewerkschafts-Bosse durch Subsidien und Zeitungsverleger durch Werbeanzeigen. Das Fußvolk aber wurde entweder dem Stadtsäckel aufgebürdet oder schmarotzte unmittelbar von der Bevölkerung. Da waren die Polizei, die Feuerwehr und die Wasserwerke sowie die ganze lange Liste der städtischen Angestellten, von den Büroboten bis hinauf zu den Amtsvorstehern. Und für den Haufen, der dort nicht unterkam beziehungsweise da nicht hineinpaßte, blieb die Welt des Lasters und Verbrechens, denn für Verführung, Nepp, Betrug, Raub und Diebstahl ließen sich Konzessionen erwerben. Das Gesetz untersagte den Alkoholausschank am Sonntag, also waren die Kneipiers den Polizisten völlig ausgeliefert, und das hatte ein Bündnis zwischen ihnen notwendig gemacht. Prostitution war verboten, und so hatten sich dem auch die Bordellwirtinnen anschießen müssen. Ähnlich war es mit den Inhabern von Spielhöllen und Wettbüros, wie überhaupt mit allen, die irgendein dunkles Gewerbe betrieben und bereit waren, dafür »Abgaben« zu entrichten: den Blütendruckern, den Taschendieben, Straßenräubern und Einbrechern, den Hehlern, den Verkäufern von gepanschter Milch, angefaultem Obst und nicht freigegebenem Fleisch, den Besitzern von unsanitären Mietshäusern, den Quacksalbern, den Wucherern, den Bettlern und Hökern, den Boxern und berufsmäßigen Schlägern, den Tipgebern auf der Rennbahn, den Zuhältern, Mädchenhändlern und Verführern von Minderjährigen. Sie alle waren organisiert und in Blutsbrüderschaft mit den Politikern und der Polizei vereint, nicht selten sogar in Personalunion: Dem Polizei-Captain gehörte das Bordell, in dem er zum Schein Razzien durchführen ließ, und der Kommunalpolitiker schlug sein Hauptquartier in seiner eigenen Kneipe auf. »Hinkydink«, »Sauna-John« und andere ihres Kalibers waren die Besitzer der berüchtigsten Spelunken Chicagos und außerdem die »grauen Eminenzen« im Magistrat, die die Straßen der Stadt an die Geschäftsleute verschacherten; ihre Kundschaft bildeten die Glücksspieler und Preisboxer, die sich den Teufel um Gesetze und Verbote scherten, sowie die Einbrecher und Straßenräuber, die die ganze Stadt terrorisierten. Bei Wahlen stellten all diese Mächte des Lasters und Verbrechens eine einzige Großmacht dar; sie konnten bis auf ein Prozent genau sagen, wie in ihrem Bezirk die Abstimmung ausfallen werde – und diese auch innerhalb einer Stunde ändern.
Vor einem Monat noch war Jurgis fast auf der Straße verhungert, jetzt aber hatte sich ihm wie durch einen Zauberschlüssel plötzlich eine Welt geöffnet, in der ihm Geld und alle guten Dinge des Lebens nur so zuflossen. Er wurde von seinem Freund mit einem Iren namens »Buck« Halloran bekannt gemacht, der als politischer Handlanger arbeitete und sich hinter den Kulissen auskannte. Dieser Mann unterhielt sich eine Weile mit Jurgis und sagte dann, er habe für jemanden, der aussieht wie ein Arbeiter, eine Möglichkeit, ein paar leichte Dollars zu machen, doch sei die Sache streng vertraulich, und Jurgis müsse unbedingt Stillschweigen bewahren. Der erklärte sich dazu bereit, und der andere nahm ihn noch am selben Nachmittag zu einem Bauplatz mit, wo – es war Samstag – städtische Arbeiter ausgezahlt wurden. Der Lohnbuchhalter saß in einer kleinen Bude, hatte vor sich einen Stoß Tüten mit Geld, und neben ihm standen zwei Polizisten. Wie vorher geheißen, ging Jurgis zu ihm hin, gab den Namen »Michael O’Flaherty« an, erhielt eine Tüte, verschwand damit um die Ecke und lieferte sie dem in einer Kneipe auf ihn wartenden Halloran ab. Dann ging er noch einmal hin, meldete sich als »Johann Schmidt« und ein drittes Mal als »Sergei Reminitzky«. Halloran hatte eine ganze Liste imaginärer Arbeiter, und für jeden bekam Jurgis eine Lohntüte. Die Sache brachte ihm fünf Dollar ein und die Zusage, daß er sich das jede Woche verdienen könne, solange er den Mund hält. Und da Jurgis eben das gut verstand, gewann er in kurzer Zeit das Vertrauen Buck Hallorans und wurde von ihm als verläßlich weiterempfohlen.
Diese Bekanntschaft nützte ihm auch noch in anderer Hinsicht: Schon bald kam er dahinter, was »Beziehungen« waren und warum Connor und ebenso der boxende Zapfer ihn hatten ins Gefängnis bringen können. Eines Abends wurde ein Ball veranstaltet, ein Benefiz für den »einäugigen Larry«, einen Lahmen, der in einem der Edelbordelle in der Clark Street Geige spielte und am Levee ein bekanntes Original war. Dieser Ball fand in einem großen Tanzsaal statt und gehörte zu jenen Festen, auf denen sich Chicagos leichtes Gewerbe zügellos austobte. Jurgis nahm daran teil, betrank sich fast bis zur Besinnungslosigkeit und fing dann eines Mädchens wegen Streit an; er konnte seinen Arm inzwischen wieder einsetzen, und so räumte er ganz schön im Saal auf und landete schließlich in einer Zelle auf der Polizei. Da die Wache überfüllt war und nach Pennern stank, schmeckte es ihm gar nicht, seinen Rausch dort ausschlafen zu müssen, und er ließ Halloran Bescheid sagen. Der rief den Bezirkschef an und bekam Jurgis per Telephon um vier Uhr früh gegen Kaution frei. Als Jurgis dann später am Vormittag vor dem Polizeirichter erscheinen mußte, hatte der Bezirkschef inzwischen schon mit dem Gerichtssekretär gesprochen und erklärt, bei Jurgis Rudkus handle es sich um einen gesetzesfürchtigen Bürger, der nur mal über die Stränge geschlagen hat, und so wurde unser Freund lediglich zu einer Strafe von zehn Dollar verurteilt und diese obendrein »ausgesetzt«, das heißt, er brauchte sie nicht gleich zu bezahlen, ja niemals, sofern es nicht irgendwann mal jemandem einfiel, sie gegen ihn geltend zu machen.
Bei den Leuten, unter denen Jurgis sich jetzt bewegte, saß das Geld ungleich lockerer als bei denen in Packingtown; doch so seltsam es auch anmuten mag, er trank in dieser Zeit viel weniger als früher. Er wurde ja nicht mehr wie damals als Arbeiter durch Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit dazu getrieben, denn seine jetzigen Tätigkeiten waren lohnend, brachten wirklich etwas ein. Sehr bald erkannte er, daß sich ihm bei klarem Kopf ganz andere Möglichkeiten und Chancen erschlossen, und da er ein Mann von Energie war, hielt er nicht nur den eigenen Alkoholkonsum in Grenzen, sondern half auch seinem Freund, standhaft zu bleiben; der gute Duane war nämlich dem Wein und der Weiblichkeit weit mehr zugetan als er.
Eins führte zum andern. Als Jurgis eines sehr späten Abends mit Duane in der Kneipe zusammensaß, wo er Buck Halloran kennengelernt hatte, kam ein »Provinzterrier« – ein Einkäufer für einen auswärtigen Händler – herein, der schon einiges über den Durst getrunken hatte. Außer dem Zapfer war niemand weiter im Lokal, und als der Mann wieder ging, folgten Jurgis und Duane ihm nach. Er bog um die Ecke, und in einem dunklen Winkel zwischen der Hochbahn und einem leerstehenden Mietshaus sprang Jurgis vor und hielt ihm einen Revolver unter die Nase, während Duane, den Hut tief ins Gesicht gezogen, mit blitzschnellen Fingern seine Taschen durchsuchte. Sie nahmen ihm seine Uhr und sein »Pulver« ab, und noch ehe er mehr als einmal um Hilfe schreien konnte, waren sie längst um die Ecke und schon wieder in der Kneipe. Der Zapfer, dem sie einen Wink gegeben hatten, hielt ihnen bereits die Kellerklappe auf, und sie verschwanden durch eine Geheimtür in das Bordell nebenan. Von dessen Dach führten Zugänge zu drei benachbarten Freudenhäusern. Mittels dieser Verbindungswege konnten sich die Kunden dieser Etablissements aus dem Staube machen, wenn Zwistigkeiten mit der Polizei mal eine Razzia zur Folge hatten, und außerdem brauchte man auch eine Möglichkeit, im Notfall ein Mädchen wegzuschaffen. Tausende kamen auf Stelleninserate für »Dienstmädchen« und »Fabrikarbeiterinnen« hin nach Chicago und mußten feststellen, daß sie Schwindelagenturen auf den Leim gegangen und in einem Bordell gelandet waren, wo man sie festhielt. Meist genügte es, ihnen die Kleider wegzunehmen, manchmal aber mußten sie unter Drogen gesetzt und wochenlang eingesperrt werden. Inzwischen telegraphierten ihre Eltern vielleicht der Polizei oder kamen womöglich selber angereist, um nachzuforschen, warum nichts unternommen wurde. Zuweilen konnte man sie nur dadurch loswerden, daß man sie das Haus durchsuchen ließ, zu dem die Spur ihrer Tochter geführt hatte.
Für seine Hilfestellung bekam der Zapfer zwanzig von den rund hundertdreißig Dollar ab, die die beiden erbeutet hatten. Dadurch wurden sie natürlich gut Freund mit ihm, und ein paar Tage später machte er sie mit einem kleinen Juden bekannt, einem gewissen Goldberger, der zu den »Geschäftsführern« des Bordells gehörte, in dem sie untergeschlüpft waren. Nach ein paar Gläsern begann Goldberger zögernd zu erzählen, wie er wegen seines besten Mädchens Streit mit einem betrügerischen Kartenprofi bekommen und sich von dem einen Kinnhaken eingehandelt habe. Der Kerl sei fremd in Chicago, und wenn man ihn eines Nachts mit eingeschlagenem Schädel findet, werde kein Hahn laut danach krähen. Jurgis, der inzwischen so weit war, daß er allen Falschspielern von Chicago mit Vergnügen den Schädel eingeschlagen hätte, fragte, was denn dabei für ihn rausspringen würde. Darauf wurde Goldberger noch vertraulicher und erklärte, er könne mit ein paar Tips für die Pferderennen in New Orleans dienen – direkt vom Polizei-Captain des Bezirks, dem er mal aus einer Klemme geholfen hat und der in enger Beziehung zu einem großen Syndikat von Rennstallbesitzern steht. Duane kapierte sofort, doch ehe Jurgis aufging, was ein solches Angebot bedeutete, mußte ihm erst der ganze Wettbetrieb erklärt werden.
Da sei der riesige Turf-Trust. In jedem Bundesstaat, wo er Rennen veranstaltet, habe er sich das Parlament gesichert; ihm würden sogar einige der überregionalen Zeitungen gehören, so daß er die öffentliche Meinung bestimmt – keine Macht im Lande könne gegen ihn an, ausgenommen vielleicht der Wettbüro-Trust. Er baue überall großartige Turfplätze und locke mit enormen Gewinnquoten das Publikum an, um es dann durch abgekartete Rennen um jährlich Hunderte von Millionen Dollars zu schröpfen. Früher wären Pferderennen ein Sport gewesen, heutzutage aber seien sie ein Geschäft; man könne ein Pferd »dopen«, also durch Aufputschmittel zu höherer Leistung antreiben, könne es übertrainiert oder untertrainiert an den Start schicken, könne es jeden beliebigen Augenblick stürzen lassen – oder durch einen Hieb mit der Peitsche aus der Gangart bringen, was die Zuschauer dann alle als verzweifelte Anstrengung ansehen, es an der Spitze zu halten. Solcher Tricks gebe es Dutzende, und angewendet würden sie teils von den Pferdebesitzern, teils von den Jockeys und Trainern oder auch von Außenstehenden, die diese dazu bestechen – hauptsächlich aber von den Direktoren des Trusts selbst. Zum Beispiel fänden jetzt gerade die Winterrennen in New Orleans statt; da lege ein Syndikat die Ergebnisse für jeden Tag im voraus fest, und es habe in allen Städten des Nordens seine Leute, die die Wettbüros »melken«. Die Nachrichten würden kurz vor dem Rennen telephonisch in verschlüsselter Form durchgegeben, und wer an das Geheimnis herankommt, der habe damit praktisch ein Vermögen in der Hand. Falls Jurgis das nicht glaubt, sagte der kleine Jude, können sie sich ja morgen da und da treffen und die Probe aufs Exempel machen. Jurgis war gern bereit, Duane natürlich ebenfalls, und so gingen sie dann am nächsten Tag in eines der exklusiveren Wettlokale mit Börsenmaklern und Geschäftsleuten als Kundschaft und Privatzimmern für Damen der Gesellschaft, setzten jeder zehn Dollar auf ein sechs zu eins stehendes Pferd namens Beldame und gewannen. Für ein Geheimnis wie das wären sie bereit gewesen, mehr als einen Mann zusammenzuschlagen, doch ein paar Tage später ließ Goldberger sie wissen, daß sein Falschspieler inzwischen Wind bekommen und sich aus der Stadt verdünnisiert habe.
Es gab in dem Metier Hochs und Tiefs, doch hatte man immer seinen
Unterhalt, wenn nicht draußen, dann eben im Gefängnis. Anfang April
waren die Magistratswahlen fällig, und das bedeutete Konjunktur für
die Korruption. Jurgis, der sich in Spelunken, Spielhöllen und
Bordellen herumtrieb, kam mit den Handlangern beider Parteien
zusammen, lernte in der Unterhaltung mit ihnen all die Winkelzüge
dieses Spiels kennen und hörte von diversen Möglichkeiten, sich zur
Wahlzeit nützlich zu machen. Buck Halloran war Demokrat, und so
wurde Jurgis ebenfalls Demokrat, allerdings kein fanatischer – die
Republikaner waren ja auch ganz nette Leute, und sie sollten bei
diesem Wahlkampf eine Menge Geld zur Verfügung haben. Letztes Mal
hatten sie vier Dollar pro Stimme gezahlt, die Demokraten dagegen
bloß drei; und als Buck Halloran und Jurgis eines Abends mit einem
dritten Mann beim Kartenspielen saßen, erzählte der, wie Halloran
damals eine Gruppe von siebenunddreißig italienischen
Neueinwanderern zur Wahl schleppen sollte und wie er selbst jenen
Zutreiber der Republikaner getroffen hatte, der hinter denselben
Leuten her war, und wie sie dann zu dritt einen Handel
abgeschlossen hatten, nämlich die Italiener gegen ein Glas Bier pro
Mann zur Hälfte so und zur Hälfte so stimmen zu lassen und den Rest
des Geldes unter sich aufzuteilen!
Nicht lange danach wurde Jurgis, dem die Gefahren und das wechselnde Glück bei der Gelegenheitsverbrecherei ohnehin nicht auf Dauer behagten, angegangen, ob er nicht zur Politik überwechseln wolle. Es gab zur Zeit gerade viel Geschrei wegen des Bündnisses zwischen Polizei und Unterwelt. Bei der Korruption mit Kriminellen konnten nämlich die Geschäftsleute nicht direkt mitmischen – das war eine den Polizeibeamten vorbehaltene Nebeneinnahme. Die Möglichkeit, in der Stadt Glücksspiele zu betreiben und sich Ausschweifungen hinzugeben, förderte den Handel, Einbrüche und Raubüberfälle aber waren ihm abträglich. Eines Nachts wurde Jack Duane beim Anbohren des Geldschranks in einem Bekleidungshaus auf frischer Tat von einem Wächter ertappt und einem Polizisten übergeben, der ihn zufällig kannte und es riskierte, ihn entwischen zu lassen. Darauf erhoben die Zeitungen ein solches Gezeter, daß nichts weiter übrigblieb, als Duane zu opfern und ihm den Schutz zu entziehen; mit knapper Not konnte er noch rechtzeitig aus Chicago verschwinden.
Gerade zu diesem kritischen Zeitpunkt traf es sich, daß Jurgis mit einem gewissen Harper bekannt wurde, in dem er jenen Wachmann von Brown wiedererkannte, der seine Naturalisierung als amerikanischer Staatsbürger veranlaßt hatte, damals in seinem ersten Jahr in den Yards. Harper fand das zwar einen amüsanten Zufall, konnte sich aber nicht mehr an Jurgis erinnern; dazu habe er seinerzeit zu viele »Greenhorns« durchgeschleust, sagte er. Bis ein oder zwei Uhr nachts saßen er, Jurgis und Halloran in einem Tanzsaal zusammen und tauschten Erlebnisse aus. Harper erzählte eine lange Geschichte, wie er mit dem Leiter der Wachabteilung Krach bekommen habe und nun wieder einfacher Arbeiter sei und außerdem überzeugter Gewerkschaftler. Erst Monate später kam Jurgis dahinter, daß dieser Streit mit dem Vorgesetzten arrangiert gewesen war und daß Harper in Wirklichkeit von den Fabrikanten einen festen Sold von zwanzig Dollar wöchentlich bezog – für Berichte, die er ihnen über geheime Vorgänge in der Gewerkschaft lieferte. In den Yards gäre es jetzt, sagte Harper in seiner Rolle als Gewerkschaftler; die Leute in Packingtown hätten so viel ertragen müssen, daß der Topf nun am Überkochen ist, und es könne jeden Tag zum Streik kommen.
Keine Woche nach diesem Gespräch trat Harper an Jurgis, über den er inzwischen Erkundigungen eingezogen hatte, mit einem interessanten Angebot heran. Es sei zwar noch nicht hundertprozentig, sagte er, aber höchstwahrscheinlich könne er ihm zu einem regelmäßigen Einkommen verhelfen, wenn Jurgis bereit sei, nach Packingtown zu kommen, zu tun, was man ihm aufträgt, und vor allem den Mund zu halten. Harper – »Bush« Harper, wie er genannt wurde – war eine der vielen rechten Hände von Mike Scully, dem Boss der Demokraten in den Yards, und er legte Jurgis die heikle Situation bei der kommenden Wahl dar. Man habe Scully angetragen, als Kandidaten einen stinkreichen Brauereibesitzer aufzustellen, der am Rande des Bezirks in einer vornehmen Straße wohnt und dem nach Schärpe und Titel eines Stadtrats gelüstet; er sei Jude und kein Kirchenlicht, aber harmlos, und er würde einen ungewöhnlich hohen Betrag für den Wahlkampf zur Verfügung stellen. Scully habe das Angebot angenommen und sei dann mit einem Vorschlag zu den Republikanern gegangen: Er wäre nicht sicher, ob er den Juden durchbringen kann, und er wolle mit seinem Bezirk kein Risiko eingehen – ob die Republikaner nicht einen zwar unbekannten, aber sympathischen Freund von ihm, der jetzt im Keller eines Lokals in der Ashland Avenue Kegel aufstellt, als ihren Kandidaten nominieren möchten? Er würde dem dann mit dem Geld des Brauers zum Wahlsieg verhelfen, und die Republikaner hätten den Ruhm, also immerhin mehr, als sie sonst erreichen können. Dafür sollen sie sich bereit erklären, nächstes Jahr, wenn er, Scully, zur Wiederwahl als zweiter Stadtrat aus dem Bezirk antritt, keinen Gegenkandidaten aufzustellen. Die Republikaner wären darauf sofort eingegangen, berichtete Harper weiter; das Kreuz an der Sache sei nur, daß sie samt und sonders Dummköpfe sind – was anderes könne jemand, der in den Yards, wo Scully das Sagen hat, Republikaner ist, ja auch nicht sein. Sie verständen einfach keinen Wahlkampf zu führen, und daß die demokratischen Parteihelfer, die edlen Rothäute der War Whoop League, die Republikaner offen unterstützen, ginge natürlich nicht an, doch würden sich da schon Mittel und Wege finden lassen. Wirklich schlimm sei dagegen etwas anderes. Seit ein, zwei Jahren nehme die Politik in den Yards eine merkwürdige Entwicklung: Es sei eine neue Partei aufgetaucht, nämlich die Sozialisten. Und die – Harper seufzte auf – würden einem verdammt zu schaffen machen. Jurgis verband mit dem Wort »Sozialist« lediglich den Gedanken an den armen kleinen Tamoszius Kuszleika, der sich als ein solcher bezeichnet hatte und Samstagabends mit ein paar Gleichgesinnten und einer Seifenkiste losgezogen war, um sich an einer Straßenecke heiser zu schreien. Tamoszius war bemüht gewesen, ihm darzulegen, worum es ihnen gehe, aber Jurgis, der nicht viel Vorstellungskraft besaß, hatte es nie recht begriffen. Im Augenblick gab er sich mit der Erklärung Harpers zufrieden, daß die »Sozis« allem amerikanischen Usus feind seien – sich nicht kaufen ließen, nicht mit anderen gemeinsame Sache machten, ja zu überhaupt keinerlei Manipulationen bereit wären. Mike Scully sei sehr besorgt wegen der Chance, die ihnen sein jüngster Kuhhandel mit den Republikanern bietet – die Demokraten in den Yards wären außer sich darüber, daß ihnen als Kandidat ein reicher Kapitalist aufgestellt worden ist, und wenn sie sich beim Wählen schon mal für eine andere Partei entscheiden, könnten sie dabei womöglich zu dem Schluß kommen, ein sozialistischer Feuerkopf sei immer noch besser als ein republikanischer Strohkopf. Und eben hier, meinte Harper, biete sich Jurgis die Möglichkeit, sich eine Position aufzubauen. Er sei doch Gewerkschaftler gewesen, und man kenne ihn in den Yards als Arbeiter; sicher habe er dort Hunderte von Bekannten, und da er nie mit ihnen über Politik gesprochen hat, könne er jetzt, ohne den geringsten Verdacht zu erregen, als Republikaner auftreten. Für Leute, die solche Aufgaben erfüllen, stehe ein Haufen Geld zur Verfügung, und auf Mike Scully wäre hundertprozentig zu zählen, der habe noch nie einen Freund im Stich gelassen. Einigermaßen verwirrt fragte Jurgis, was er denn dabei tun könne, und Harper erklärte ihm das im einzelnen. Zuerst einmal müsse er wieder in den Yards arbeiten. Davon werde er vielleicht nicht sehr begeistert sein, aber schließlich sei ja auch der Lohn dort mitzunehmen, zusätzlich zu dem, was er für das andere bekommt. Ferner habe er wieder in der Gewerkschaft aktiv zu werden und sich nach Möglichkeit auf einen Posten wählen zu lassen, so wie er, Harper, das auch getan hat. Er müsse bei all seinen Freunden die guten Seiten von Doyle, dem republikanischen Kandidaten, herausstreichen und den Itzig schlechtmachen. Scully sorge für einen Versammlungssaal, und sie würden dann einen »Republikanischen Verein Junger Männer« oder so was in der Art gründen, wozu sie Fässer vom besten Bier des reichen Brauers kriegen, desgleichen Feuerwerk und Ansprachen, genau wie bei der War Whoop League. Bestimmt kenne er massenhaft Leute, die auf solche Vergnügungen fliegen; außerdem würden ihm die regulären republikanischen Parteifunktionäre und Helfer unter die Arme greifen, so daß sie am Wahltag schon eine hinreichende Mehrheit zusammenbringen können.
Nachdem er sich das alles angehört hatte, fragte Jurgis: »Aber wie soll ich denn in Packingtown Arbeit finden? Ich stehe doch auf der schwarzen Liste.«
Worauf Bush Harper lachte. »Das laß nur meine Sorge sein.«
Und da erklärte Jurgis dann: »Also gut, ich bin euer Mann.«
Er fuhr wieder zu den Yards hinaus und wurde dort dem politischen Boss von Packingtown vorgestellt, dem Mann, nach dessen Pfeife sogar der Bürgermeister tanzte. Scully war schuld an der ungepflasterten Straße, in der Jurgis’ Kind ertrunken war; Scully hatte dem Richter zu seinem Amt verholfen, von dem Jurgis das erste Mal ins Gefängnis geschickt worden war; Scully besaß die Aktienmehrheit der Gesellschaft, die Jurgis das baufällige Haus verkauft und dann wieder weggenommen hatte. Doch all das wußte Jurgis nicht – und schon gar nicht, daß auch Scully nur als Werkzeug und Marionette der Fabrikanten fungierte. Für ihn war er einer von den »Großen«, der mächtigste Mann, den er je im Leben kennengelernt hatte.
Scully war ein kleiner, vertrockneter Ire mit zittrigen Händen. Er unterhielt sich kurz mit seinem Besucher, wobei er ihn mit seinen Rattenaugen beobachtete und taxierte. Dann gab er ihm ein paar Zeilen an Mr. Harmon mit, einen der Betriebsdirektoren bei Durham:
»Der Überbringer, Jurgis Rudkus, ist ein spezieller Freund von mir, und aus wichtigem Anlaß liegt mir daran, daß Sie ihm einen guten Posten geben. Er hat sich einmal etwas danebenbenommen, aber Sie haben wohl die Güte, das zu übersehen.«
Nachdem Mr. Harmon das gelesen hatte, sah er fragend auf. »Was meint er mit ›danebenbenommen‹?«
»Ich stand auf der schwarzen Liste«, antwortete Jurgis.
Der Direktor krauste die Stirn. »Schwarze Liste? Was wollen Sie damit sagen?«
Jurgis wurde vor Verlegenheit rot. Er hatte vergessen, daß es ja gar keine schwarze Liste gab. »Ich ... äh ... ich hatte Schwierigkeiten, eine Stelle zu bekommen«, stotterte er.
»Und warum?«
»Ich hatte Streit mit einem Meister – aber nicht meinem eigenen, Sir – und habe ihn geschlagen.«
»Aha.« Mr. Harmon überlegte kurz. »Was für Arbeit möchten Sie denn?«
»Ich mache alles, Sir«, sagte Jurgis. »Nur, ich habe mir im Winter den Arm gebrochen und muß noch ein bißchen vorsichtig sein.«
»Wie wäre es mit Nachtwächter?«
»Das geht nicht, Sir. Abends muß ich unter die Leute gehen.«
»Verstehe – die Politik. Nun, würde es Ihnen am Ausschlachtband für Schweine zusagen?«
»Durchaus, Sir.«
Mr. Harmon ließ einen Zeitkontrolleur kommen und gab ihm Anweisung: »Bringen Sie diesen Mann zu Pat Murphy und sagen Sie ihm, er soll ihm irgendeinen Platz geben.«
Und so marschierte Jurgis zu der Schweineschlachthalle, wo er in früheren Tagen um Arbeit gebettelt hatte. Jetzt trat er keck ein und mußte innerlich lächeln wegen des langen Gesichts, das der Bandmeister machte, als der Kontrolleur sagte: »Auf Anordnung von Mr. Harmon sollen Sie diesen Mann unterbringen.« Denn für den Meister bedeutete das, daß sein Band nun überbesetzt sein und das die Rekordleistung vereiteln würde, die er herausholen wollte; aber er sagte nichts weiter als: »Ja, ist gut.«
So wurde Jurgis wieder Arbeiter, und er suchte sofort seine alten
Bekannten auf, ging in die Gewerkschaft und begann, für »Scotty«
Doyle Stimmung zu machen. Doyle hätte ihm mal sehr geholfen,
erklärte er, und wäre überhaupt ein patenter Kerl; da er selbst
Arbeiter ist, würde er die Arbeiter wirklich und echt vertreten –
warum sollten sie einen jüdischen Millionär wählen, und was, zum
Kuckuck noch mal, habe Mike Scully denn schon groß für sie getan,
daß sie immer seine Kandidaten unterstützen? Inzwischen hatte
Scully Jurgis ein Schreiben an den zuständigen Wahlleiter der
Republikaner gegeben, und Jurgis war hingegangen und hatte die
Leute kennengelernt, mit denen er zusammenarbeiten sollte. Sie
hatten mit dem Geld des Brauereibesitzers bereits einen großen Saal
gemietet, und Jurgis führte nun jeden Abend dem »Republikanischen
Wählerverein Doyle« ein Dutzend neue Mitglieder zu. Schon bald
konnten sie eine pompöse Gründungsfeier aufziehen, mit durch die
Straßen marschierender Blaskapelle, mit Feuerwerk, Kanonenschlägen
und roten Lampions vor dem Saal. Der Andrang dazu war so gewaltig,
daß zwei Wiederholungen nötig wurden – und der blasse und zitternde
Kandidat die kleine Rede, die ihm von einem von Scullys Leuten
aufgesetzt worden war und die er einen ganzen Monat lang auswendig
gelernt hatte, insgesamt dreimal halten mußte. Die Krönung von
allem aber war, daß der berühmte und redegewaltige Senator
Spareshanks, der Präsidentschaftskandidat, in einem Automobil
vorgefahren kam und eine begeisternde Ansprache hielt, in der von
den Rechten der amerikanischen Bürger sowie von Schutz und
Wohlstand für den amerikanischen Arbeiter die Rede war. Sämtliche
Morgenzeitungen brachten lange Zitate daraus, und außerdem
schrieben sie, wie aus gutinformierten Kreisen verlautet, bereite
die unerwartete Popularität des republikanischen
Stadtratskandidaten Doyle Mr. Scully, dem demokratischen
Fraktionschef im Rathaus, nicht geringe Sorgen.
Noch größer wurden diese, als der gewaltige Fackelzug stattfand, bei dem die Mitglieder des »Republikanischen Wählervereins Doyle« alle rote Mützen und Hüte trugen und es für jeden Wahlberechtigten Freibier gab – das beste jemals bei einer Wahlkampagne ausgeschenkte Bier, wie alle bezeugten. Während dieses Umzugs und ebenso bei zahlreichen kleineren Veranstaltungen war Jurgis unermüdlich tätig. Er hielt zwar keine Reden – dafür waren Rechtsanwälte und andere da, die sich darauf verstanden –, aber er half organisieren, verteilte Flugblätter, klebte Plakate und brachte die Massen heran, und war die Schau dann im Gang, kümmerte er sich um das Feuerwerk und das Bier. So gingen im Lauf der Kampagne viele hundert Dollar von dem Geld des jüdischen Brauers durch seine Hände, und er verwaltete sie mit naiver, rührender Ehrlichkeit. Gegen Ende merkte er jedoch, daß die anderen eine Wut auf ihn hatten, weil sie seinetwegen gezwungen waren, entweder weniger Erfolge als er zu melden oder aber darauf zu verzichten, ihr Schäfchen ins trockne zu bringen. Danach tat Jurgis dann sein Bestes, um nicht mehr anzuecken und um wettzumachen, daß er erst so spät entdeckt hatte, wo sich das Faß überall anbohren ließ.
Mike Scully zeigte sich mit ihm sehr zufrieden. Am Wahltag war Jurgis schon um vier Uhr früh auf den Beinen, um Wähler anzuschleppen; er hatte einen zweispännigen Wagen, fuhr damit von Haus zu Haus, holte seine Bekannten ab und führte sie im Triumphzug zu den Urnen. Er selbst wählte ein halbes Dutzend Mal und ließ das auch einige seiner Freunde tun; er holte ein Gruppe Neueinwanderer nach der anderen heran – Litauer, Polen, Böhmen, Slowaken und wenn er sie durch die Mühle gedreht hatte, übergab er sie einem anderen Mann, der sie zum nächsten Wahllokal brachte. Als Jurgis das erste Mal losgefahren war, hatte er von seinem Wahlleiter hundert Dollar mitbekommen, und im Lauf des Tages mußte er dreimal zurück, um sich neue hundert geben zu lassen; von jedem Packen konnte er nicht mehr als fünfundzwanzig in die eigene Tasche stecken, denn die anderen brauchte er zum tatsächlichen Stimmenkauf. Und so verhalfen sie dann – an einem Tag, an dem in den anderen Stadtteilen die Demokraten sensationellen Zuwachs erhielten – dem »Republikaner« Scotty Doyle, dem einstigen Kegelaufsteller, zum Sieg. Als das geschafft war, belohnte sich Jurgis mit einem mordsmäßigen, von fünf Uhr nachmittags bis morgens um drei währenden Besäufnis. Doch tat das nahezu jedermann in Packingtown, denn es herrschte allgemeiner Jubel über diesen Triumph der Volksherrschaft, diese vernichtende Niederlage eines arroganten Plutokraten durch die Macht des einfachen Volkes.