15
Diese rätselhafte Sache ging
schon seit dem Sommer, und jedesmal versprach Ona ihm mit von
Furcht erfüllter Stimme, es werde nicht wieder vorkommen – doch
vergeblich. Von Anfall zu Anfall bekam Jurgis größere Angst; er
neigte immer mehr dazu, Elzbietas tröstenden Worten zu mißtrauen
und zu argwöhnen, daß hinter all dem etwas Schreckliches stecke,
das man ihn nicht wissen lassen wollte. Ein-oder zweimal während
dieser Ausbrüche fing er Onas Blick auf; er kam ihm vor wie der
eines gehetzten Tieres, und er hörte sie mitten in ihrem Weinkrampf
hin und wieder Worte der Angst und Verzweiflung stammeln. Nur weil
er selber so abgestumpft und niedergeschlagen war, sorgte er sich
nicht weiter deswegen, sondern bloß immer dann, wenn er es direkt
sah und hörte – er vegetierte dahin wie ein empfindungsloses
Lasttier, war sich immer nur des Augenblicks bewußt.
Der Winter nahte wieder, bedrohlicher und grausamer denn je. Es war Oktober, und der Hochbetrieb für Weihnachten begann. Bis spät in die Nacht hinein liefen die Maschinen in den Yards, und Marija, Elzbieta und Ona als deren Rädchen arbeiteten jetzt fünfzehn bis sechzehn Stunden am Tag. Es blieb ihnen nichts anderes übrig; wollten sie ihre Stellen behalten, mußten sie schaffen, was an Arbeit anfiel. Außerdem besserte es ihr Einkommen ein bißchen auf, und so wankten sie unter der Last weiter. Sie fingen jeden Morgen früh um sieben an, aßen um zwölf ihr mitgebrachtes Mittagbrot und arbeiteten dann durch bis zehn oder elf Uhr nachts, ohne zwischendurch noch mal einen Happen zu sich zu nehmen. Jurgis wollte auf sie warten, um sie nach Hause zu bringen, aber das ließen sie nicht zu; die Düngerfabrik machte keine Überstunden, und da hätte er nur in einer Kneipe warten können. So stolperte jede von ihnen hinaus in die Dunkelheit zu der Ecke, wo sie sich trafen, oder stieg, wenn die anderen schon fort waren, in die Straßenbahn und kämpfte mühsam dagegen an, nicht einzuschlafen. Zu Hause angekommen, waren sie immer zu müde, um zu essen oder sich auszuziehen; noch mit den Schuhen an ließen sie sich ins Bett fallen und lagen da wie erschlagen. Hielten sie nicht durch, war es aus mit ihnen, das stand fest; schafften sie es jedoch, würden sie vielleicht genügend Kohlen für den Winter kaufen können.
Ende November, kurz vorm Erntedanktag, kam ein Blizzard. Er setzte am Nachmittag ein, und am Abend lagen bereits fünf Zentimeter Schnee. Jurgis wollte auf die Frauen warten, ging dann jedoch zum Aufwärmen in eine Kneipe, rannte nach zwei Gläsern aber wieder hinaus und nach Hause, um dem Dämon zu entfliehen. Dort legte er sich zu einem kurzen Nickerchen hin, bis die Frauen kommen würden, schlief aber sofort fest ein. Als er die Augen wieder aufschlug, war es mitten in einem Alptraum, und er merkte, daß Elzbieta ihn rüttelte und anschrie. Zuerst begriff er gar nicht, was sie sagte – daß Ona nicht heimgekommen sei. Er fragte nach der Uhr. Schon Morgen, Zeit zum Aufstehen. Ona sei die Nacht über nicht zu Hause gewesen! Und es wär bitter kalt, der Schnee läge fußhoch.
Jurgis fuhr mit einem Ruck hoch. Marija weinte vor Angst, und die Kinder wimmerten zur Gesellschaft mit, besonders Stanislovas mit seinem Horror vor dem Schnee. Jurgis brauchte nichts weiter anzuziehen als Schuhe und Jacke, und eine halbe Minute später war er schon zur Tür hinaus. Dann wurde ihm jedoch klar, daß Beeilung ihm gar nichts nutzte, denn er wußte ja nicht, wo er suchen sollte. Es herrschte noch finstere Nacht, und dicke Schneeflocken wirbelten herab; alles war so still, daß man sie fallen hören konnte. In den paar Sekunden, die er unschlüssig dastand, wurde er vollkommen weiß.
Er lief los in Richtung Yards, wobei er unterwegs in jede Kneipe hineinschaute, die schon aufhatte. Ona konnten auf dem Heimweg die Kräfte verlassen haben. Vielleicht war ihr auch etwas an den Maschinen zugestoßen, und als er zu dem Gebäude kam, wo sie arbeitete, erkundigte er sich dort bei einem Nachtwächter. Nein, sagte der, seines Wissens habe es keinen Unfall gegeben. In der schon offenen Zeitkontrolle wurde ihm die Auskunft gegeben, Mrs. Rudkus’ Karte sei gestern abend zurückgekommen, also habe seine Frau das Werk verlassen.
Danach konnte er nichts weiter tun, als warten, und er stapfte im Schnee auf und ab, um sich warm zu halten. In den Yards herrschte schon reger Betrieb: Ganz hinten wurde Vieh ausgeladen, und auf der anderen Straßenseite mühten sich in der Dunkelheit die Fleischträger und schleppten zwei Zentner schwere Rinderviertel in die Kühlwagen. Noch vor dem ersten Tagesschimmer kamen die Massen der Arbeiter an; fröstelnd und mit schlenkernden Essenträgern eilten sie vorbei. Jurgis baute sich neben dem Fenster der Zeitkontrolle auf, denn dort war am meisten Licht; in dem dichten Schneegestöber mußte er scharf aufpassen, um Ona nicht zu übersehen.
Es wurde sieben, die Stunde, in der die große Yard-Maschine in Gang kam. Jurgis hätte jetzt an seinem Platz in der Düngerfabrik sein müssen, statt dessen wartete er hier unter Angstqualen auf Ona. Es war schon eine Viertelstunde nach Arbeitsbeginn, als er aus dem Schneetreiben eine Gestalt auftauchen sah, und mit einem Aufschrei stürzte er auf sie zu. Es war Ona! Sie kam gerannt, und als sie ihn erkannte, wankte sie und fiel ihm halb in die ausgestreckten Arme.
»Was war denn?« rief er aufgeregt. »Wo bist du gewesen?«
Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie wieder genügend Atem zum Antworten hatte. »Ich konnte nicht nach Hause kommen«, stieß sie hervor. »Der Schnee – es fuhr keine Straßenbahn.«
»Aber wo bist du geblieben?« fragte er.
»Ich mußte bei einer Kollegin übernachten«, keuchte sie. »Bei Jadvyga.«
Jurgis holte tief Luft. Doch dann bemerkte er, daß sie schluchzte und bebte – wie bei jenen Nervenanfallen, die er so fürchtete. »Was ist denn?« rief er. »Was ist passiert?«
»Ach, Jurgis, ich hatte solche Angst!« Sie klammerte sich wild an ihn. »Ich habe mir schreckliche Sorgen gemacht!«
Sie standen nahe dem Fenster der Zeitkontrolle, und die Leute starrten sie bereits an. Jurgis führte Ona zur Seite. »Aber weshalb denn?« fragte er verwirrt.
»Ich habe Angst gehabt – einfach Angst!« schluchzte Ona. »Du hattest doch keine Ahnung, wo ich war, und ich wußte nicht, was du machen würdest. Ich wollte ja nach Hause, aber zum Laufen war ich zu müde. Ach, Jurgis, Jurgis!«
Er war so froh, sie wiederzuhaben, daß er keinen anderen klaren Gedanken fassen konnte. Ihr übermäßiges Erregtsein machte ihn nicht stutzig, ebensowenig ihre Angst und ihre verworrenen Beteuerungen. Er ließ sie sich ausweinen, und da es mittlerweile schon auf acht Uhr zuging und sie einen weiteren Stundenlohn verlieren würden, wenn sie sich nicht beeilten, nahm er dann am Fabriktor Abschied von Ona mit ihrem blassen Gesicht und von Furcht erfüllten Augen.
Danach war kurze Zeit Ruhe. Weihnachten stand vor der Tür, und da
der Schnee und die durchdringende Kälte anhielten, brachte Jurgis
seine Frau Morgen für Morgen zur Arbeit, stampfte, sie halb
tragend, mit ihr durch die Dunkelheit, bis dann eines Nachts das
Ende kam.
Es waren nur noch drei Tage bis zum Fest. Gegen Mitternacht kamen Marija und Elzbieta nach Hause und schrien bestürzt auf, als sie sahen, daß Ona noch nicht da war. Sie waren mit ihr verabredet gewesen und nach vergeblichem Warten am Treffpunkt zu Onas Arbeitsstelle gegangen. Dort hatte man ihnen gesagt, die Schinkeneinnäherinnen hätten vor einer Stunde Feierabend gemacht und wären schon alle fort. In dieser Nacht schneite es nicht und herrschte auch keine besondere Kälte – und trotzdem war Ona nicht nach Hause gekommen! Diesmal mußte etwas Ernstes sein.
Sie weckten Jurgis. Er setzte sich auf und hörte sich mürrisch an, was sie berichteten. Sie werde eben wieder zu Jadvyga gegangen sein, sagte er; die wohne nur zwei Straßen von den Yards ab, und vielleicht sei Ona zu müde gewesen. Zugestoßen sein könne ihr nichts – und selbst wenn, vor dem Morgen lasse sich doch nichts unternehmen. Damit drehte Jurgis sich auf die andere Seite und schnarchte schon wieder, noch ehe die beiden die Tür zugemacht hatten.
Am Morgen aber war er fast eine Stunde eher auf als sonst und bereits unterwegs. Jadvyga Marcinkus lebte mit ihrer Mutter und ihren Schwestern in einer aus einem einzigen Raum bestehenden Kellerwohnung auf der anderen Seite der Yards, hinter der Halsted Street, denn Mykolas hatte vor kurzem durch Blutvergiftung eine Hand verloren, und ihre Heirat war auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. Ihre Tür ging auf einen engen Hinterhof hinaus, und Jurgis sah Licht im Fenster und hörte im Vorbeigehen etwas auf dem Herd brutzeln. Als er anklopfte, dachte er schon, Ona würde öffnen.
Statt dessen kam eine von Jadvygas kleinen Schwestern und schaute durch den Türspalt.
»Wo ist Ona?« fragte er.
»Ona?« Ratlos starrte ihn das Kind an.
»Ja«, sagte Jurgis. »Ist sie denn nicht hier?«
»Nein«, antwortete das Kind und versetzte Jurgis damit in Angst und Schrecken. Einen Augenblick später erschien Jadvyga und spähte über den Kopf der Kleinen hinweg. Als sie Jurgis erkannte, trat sie rasch aus seinem Blickfeld, denn sie war noch nicht ganz angezogen. Jurgis müsse entschuldigen, begann sie, ihre Mutter sei sehr krank ...
»Ona ist nicht hier?« unterbrach er sie. Er war so beunruhigt, daß er sie nicht ausreden lassen konnte.
»Aber nein«, erklärte Jadvyga. »Wie kommst du darauf, daß sie hier sein könnte? Hat sie gesagt, sie käme her?«
»Das nicht«, gab er zurück. »Aber sie ist nicht nach Hause gekommen, und da dachte ich, sie wäre bei dir, so wie neulich.«
»Wie neulich?«
»Ja, als sie hier über Nacht geblieben ist.«
»Das muß ein Irrtum sein«, antwortete sie. »Ona ist hier nie über Nacht geblieben.«
Er begriff noch nicht ganz. »Doch, doch«, rief er, »vor etwa drei Wochen, Jadvyga! Sie hat es mir ja selbst erzählt – die Nacht, als es so schneite und sie nicht nach Hause konnte.«
»Das muß ein Irrtum sein«, erklärte Jadvyga abermals. »Hier war sie jedenfalls nicht.«
Er wich nicht von der Schwelle, und Jadvyga in ihrer Besorgnis – sie hatte Ona gern – machte die Tür ganz auf, während sie sich mit der anderen Hand die Jacke zuhielt. »Hast du dich auch bestimmt nicht verhört?« rief sie. »Sie muß woanders gemeint haben. Sie ...«
»Sie sagte, hier«, beharrte Jurgis. »Sie hat mir alles von dir erzählt, wie es dir geht und was du gesagt hast. Du warst doch nicht weg?«
»Aber nein!« beteuerte sie – und dann kam eine grämliche Stimme: »Jadvyga, mach die Tür zu, sonst erkältet sich das Kleine!«
Jurgis blieb noch eine halbe Minute stehen und stammelte seine Ratlosigkeit durch den nur fingerbreiten Türspalt, und da es wirklich nichts mehr zu sagen gab, entschuldigte er sich und ging.
Halb benommen lief er weiter, ohne zu merken, wohin. Ona hatte ihn hintergangen! Sie hatte ihn belogen! Was konnte das bedeuten? Wo war sie gewesen? Und wo war sie jetzt? Er konnte es nicht fassen – geschweige denn es sich erklären, doch stürmten hundert wilde Vermutungen auf ihn ein, und es überkam ihn ein Gefühl drohenden Unheils.
Da er nichts weiter tun konnte, lief er zurück zur Zeitkontrolle und bezog wieder seinen Beobachtungsposten. Er wartete bis fast eine Stunde nach sieben und ging dann hinunter in den Saal, wo Ona arbeitete, um sich bei der Aufseherin zu erkundigen. Die war, wie sich herausstellte, noch nicht da; alle aus der Innenstadt kommenden Straßenbahnen fuhren seit gestern nacht nicht mehr, denn im Elektrizitätswerk hatte es einen Ausfall gegeben. Die Schinkeneinnäherinnen waren aber, unter anderer Aufsicht, schon fleißig bei der Arbeit. Das Mädchen, das Jurgis Auskunft gab, hatte sehr zu tun und schaute sich beim Sprechen um, ob sie beobachtet wurden. Dann kam ein Arbeiter heran, der einen Karren schob; er kannte Jurgis als den Mann von Ona und fragte, was denn los sei. »Vielleicht war was mit der Bahn«, meinte er. »Kann ja sein, daß sie in der City war.«
»Nein«, erklärte Jurgis, »da fährt sie nie hin.«
»Dann eben nicht«, sagte der Arbeiter.
Jurgis kam es vor, als ob er dabei einen schnellen Blick mit dem Mädchen tauschte, und er fragte sofort: »Was weißt du darüber?«
Aber der Mann hatte bemerkt, daß ein Vorarbeiter herübersah, und er schob seinen Karren weiter. »Gar nichts«, sagte er über die Schulter hinweg. »Woher soll ich auch wissen, wo deine Frau hingeht?«
Jurgis lief wieder hinaus und schritt vor dem Gebäude auf und ab. Den ganzen Vormittag blieb er dort und vergaß vollständig seine Arbeit. Gegen Mittag ging er zur Polizei, um dort nachzufragen, kam dann zurück und bezog angstvoll wieder seinen Posten. Am Nachmittag machte er sich schließlich auf den Heimweg.
Er lief die Ashland Avenue hinunter. Die Straßenbahnen verkehrten wieder, und mehrere, bis zu den Trittbrettern voller Menschen, fuhren an ihm vorbei. Bei ihrem Anblick mußte Jurgis an die spöttische Bemerkung des Arbeiters denken, und unwillkürlich beobachtete er die Wagen – mit dem Ergebnis, daß er plötzlich einen überraschten Ausruf tat und wie angewurzelt stehenblieb.
Dann stürmte er los. Bis zur nächsten Querstraße hastete er der Bahn hinterher und blieb nur wenig zurück. Dieser verschossene schwarze Hut mit der zerdrückten roten Stoffblume – vielleicht war es gar nicht der von Ona, aber die Wahrscheinlichkeit sprach dagegen. Bald würde er es genau wissen, denn zwei Häuserblocks weiter müßte sie aussteigen. Er verlangsamte sein Tempo und ließ der Bahn Vorsprung.
Sie stieg aus, und sobald sie in der Seitenstraße außer Sicht war, setzte sich Jurgis wieder in Trab. Jetzt war sein Argwohn geweckt, und er schämte sich nicht, ihr nachzuspionieren. Er sah sie um die Ecke kurz vor ihrem Haus biegen und dann, nachdem er einen Spurt eingelegt hatte, die Vorstufen zu ihrer Tür hinaufgehen. Darauf machte er kehrt und lief fünf Minuten lang auf und ab, die Hände zu Fäusten geballt, die Lippen zusammengepreßt und innerlich völlig aufgewühlt.
Als er die Tür öffnete, erblickte er Elzbieta, die ebenfalls nach Ona gesucht hatte und wieder heimgekommen war. Sie lief auf Zehenspitzen und legte den Finger auf die Lippen. Jurgis wartete, bis sie dicht vor ihm stand.
»Sei ganz leise«, flüsterte sie hastig.
»Was ist los?« fragte er.
»Ona schläft«, antwortete sie mit verhaltenem Atem. »Ich fürchte, sie war nicht mehr bei Sinnen, Jurgis. Sie ist die ganze Nacht draußen umhergeirrt, und ich hab’s eben erst geschafft, sie ein bißchen zu beruhigen.«
»Wann ist sie denn gekommen?« fragte er.
»Bald nachdem du heute früh gegangen warst.«
»War sie inzwischen noch mal weg?«
»Nein, natürlich nicht. Sie ist so matt, Jurgis, so ...«
Da knirschte er mit den Zähnen. »Du lügst mich an«, sagte er.
Elzbieta erbleichte vor Schreck. »Wie ... wie meinst du das?« stotterte sie.
Doch Jurgis gab ihr keine Antwort. Er schob sie beiseite, schritt zur Schlafzimmertür und öffnete sie.
Ona saß auf dem Bett. Als er hereinkam, drehte sie sich zu ihm um und sah ihn an mit angstgeweiteten Augen. Er schloß die Tür vor Elzbieta und trat auf seine Frau zu. »Wo bist du gewesen?« heischte er.
Sie hatte die Hände im Schoß verkrampft, und er sah, daß ihr Gesicht kalkweiß und schmerzverzerrt war. Sie mußte erst ein paarmal nach Luft ringen, ehe sie ihm antworten konnte, und begann dann leise und hastig: »Jurgis, ich ... ich scheine nicht ganz bei mir gewesen zu sein. Ich bin gestern abend losgegangen und konnte und konnte nicht nach Hause finden. Ich bin gelaufen, immerzu, die ganze Nacht durch, glaube ich, und ... und ... erst heute früh hier angelangt.«
»Du brauchst doch Ruhe«, sagte er hart. »Warum bist du dann noch mal weggegangen?«
Er sah ihr gerade ins Gesicht und konnte die ihr plötzlich in die Augen tretende Unsicherheit sehen. »Ich ... ich mußte ... einholen gehen«, stammelte sie fast unhörbar. »Ich ...«
»Du lügst mich an«, unterbrach er sie. Mit geballten Fäusten trat er einen Schritt näher. »Warum lügst du mich an?« rief er zornentbrannt. »Was treibst du, daß du das tun mußt?«
»Jurgis!« Sie stand auf. »O Jurgis, wie kannst du nur!«
»Du hast mich angelogen, sage ich!« brüllte er. »Hast mir erzählt, du wärst damals die Nacht bei Jadvyga gewesen, aber dort warst du gar nicht. Sondern da, wo du auch letzte Nacht gewesen bist – irgendwo in der City, denn ich habe dich aus der Bahn steigen sehen. Also – wo warst du?«
Es war, als hätte er ihr ein Messer ins Herz gestoßen. Sie schien völlig zusammenzubrechen. Eine halbe Sekunde stand sie schwankend da, starrte ihn mit vor Entsetzen aufgerissenen Augen an, dann taumelte sie mit einem Angstschrei auf ihn zu und streckte ihm die Arme entgegen.
Er aber trat absichtlich zur Seite und ließ sie stürzen. Sie fing sich an der Bettkante ab, sank dann nieder, vergrub das Gesicht in den Händen und begann hemmungslos zu weinen.
Es folgte einer jener hysterischen Anfälle, bei denen ihm so oft bange geworden war. Ona schluchzte und heulte, ihre Angst und ihre Qual steigerten sich immer mehr. Wilde Stürme der Erregung schüttelten sie wie ein Unwetter die Bäume auf den Hügeln; sie bebte und flog am ganzen Leibe, als hätte ein böser Teufel von ihr Besitz ergriffen, der sie folterte und zerfleischte. Sonst hatte das Jurgis immer Furcht und Schrecken eingejagt, jetzt jedoch stand er mit zusammengepreßten Lippen und geballten Händen da – mochte sie sich totheulen, diesmal würde sie ihn nicht rühren, kein bißchen. Da ihm bei ihren Schluchzern aber doch das Blut erstarrte und die Lippen zuckten, war er froh über die Unterbrechung, als die Tür aufging und Teta Elzbieta schreckensbleich hereingestürzt kam. Dennoch fuhr er sie mit einem Fluch an. »Raus!« brüllte er. »Raus!« Und als sie zögernd stehenblieb und zum Sprechen ansetzte, packte er sie beim Arm, schob sie unsanft hinaus, schlug die Tür zu und rückte den Tisch davor. Dann drehte er sich wieder zu Ona um und schrie: »Los – antworte mir!«
Doch sie hörte ihn gar nicht – sie war noch in der Gewalt des bösen Geistes. Jurgis sah, wie ihre ausgestreckten Hände zitternd über das Bett fuhren, als hätten sie eigenes Leben; er sah, wie ihr Leib von Zuckungen ergriffen wurde, die sich dann bis in die Gliedmaßen fortsetzten. Sie schluchzte und würgte; es war, als hätten die Laute gar nicht alle Platz in einer einzigen Kehle, als stürzten sie gleich Meereswellen übereinander. Dann wuchs ihre Stimme zum Kreischen an, das immer lauter und greller wurde, bis es schließlich in einen wilden und schrecklichen Lachkrampf umschlug. Jurgis ertrug es, solange er konnte; dann sprang er zu ihr hin, packte sie bei den Schultern, rüttelte sie und brüllte ihr ins Ohr: »Hör auf, sag ich! Hör auf!«
Aus ihrer Qual sah sie zu ihm hoch, dann sank sie vor seine Füße und umklammerte sie trotz seines Versuchs, zur Seite zu treten; mit dem Gesicht auf dem Fußboden lag sie da und krümmte sich. Sie so wimmern zu hören schnürte Jurgis die Kehle zu, und er schrie sie abermals und noch heftiger an: »Hör auf, sag ich!«
Diesmal gehorchte sie, verhielt den Atem und blieb still bis auf die keuchenden Schluchzer, die ihren ganzen Körper schüttelten. Eine endlose Minute lang lag sie völlig reglos, so daß ihren Mann kalte Angst packte und er schon dachte, sie sterbe. Plötzlich aber vernahm er ganz schwach ihre Stimme: »Jurgis! Jurgis!«
»Was ist?« sagte er.
Er mußte sich zu ihr niederbeugen, so kraftlos war sie. In abgebrochenen, mühsam hervorgebrachten Sätzen flehte sie ihn an: »Hab doch Vertrauen! Glaube mir!«
»Glauben – was?« schrie er.
»Daß ich ... daß ich schon weiß, was ich tue ... Daß ich dich liebe! Und frag nicht mehr – nicht danach. O Jurgis, bitte, bitte! Es ist besser so ... es ist ...«
Er wollte sie unterbrechen, doch sie ließ ihn nicht zu Wort kommen, redete hastig weiter: »Wenn du nur wolltest ... mir ... mir nur glauben wolltest. Ich habe keine keine Schuld ... Es ging nicht anders ... Es wird alles wieder gut ... Es ist ja nichts ... nichts, was etwas zu bedeuten hat. Ach, Jurgis, bitte, bitte!«
Sie klammerte sich an ihn, versuchte sich hochzuziehen und ihn anzusehen; er spürte das schwache Zucken ihrer Hände und das Heben und Senken ihres an ihn gepreßten Busens. Es gelang ihr, seine eine Hand zu packen, und sie drückte sie krampfhaft, zog sie an ihr Gesicht und benetzte sie mit ihren Tränen. »Ach, glaub mir doch, glaub mir doch!« schluchzte sie von neuem.
Er aber brüllte wütend: »Ich denke nicht daran!«
Doch sie ließ ihn nicht los und rief in ihrer Verzweiflung: »Ach, Jurgis, überleg doch, was du tust! Es richtet uns zugrunde – jawohl, zugrunde! Das darfst du nicht. Nein, tu es nicht, nein! Du darfst einfach nicht! Ich werde noch wahnsinnig ... ich überlebe das nicht ... Nein, Jurgis ... Ich bin schon ganz durcheinander ... Es hat nichts zu bedeuten, und du brauchst es wirklich nicht zu wissen. Wir können trotzdem glücklich sein – können uns trotzdem liebhaben. Ach, bitte, bitte, glaub mir doch!«
Ihre Worte machten ihn rasend. Er entriß ihr seine Hand und stieß Ona von sich. »Antworte mir! Verdammt noch mal, du sollst antworten!«
Sie sank zu Boden und verfiel wieder in Weinen; es klang wie das Wehklagen einer Seele im Fegefeuer. Jurgis konnte das nicht ertragen. Er schlug mit der Faust auf den Tisch neben ihm und brüllte wieder los: »Wirst du wohl antworten!«
Da begann sie zu kreischen, mit einer Stimme, die wie die eines wilden Tieres gellte: »Nein, nein!«
»Warum nicht?« schrie er.
»Ich weiß nicht, wie!«
Er sprang auf, packte sie am Arm, riß sie hoch und sah sie durchdringend an. »Sag mir, wo du die Nacht über warst!« keuchte er. »Los, raus damit!«
Flüsternd, sich jedes Wort einzeln abringend, sagte sie: »Ich ... war ... in ... einem ... Haus ... in der City ...«
»In was für einem Haus? Was soll das heißen?«
Sie versuchte, das Gesicht abzuwenden, doch er hielt ihre Augen mit seinem Blick fest. »Im Haus von Miss Henderson«, kam es leise von ihren Lippen.
Er begriff nicht gleich. »Im Haus von Miss Henderson?« wiederholte er. Doch dann ging ihm jäh auf, was das bedeutete. Wie von einem Keulenschlag getroffen, schrie er auf und taumelte zurück. An der Wand fand er Halt; er fuhr sich mit der Hand an die Stirn, starrte vor sich hin und flüsterte: »Mein Gott!«
Im nächsten Augenblick stürzte er sich auf Ona, die zu seinen Füßen lag. Er packte sie an der Kehle und stieß heiser hervor: »Wer hat dich da mit hingenommen? Raus mit der Sprache!«
Daß sie sich loszuwinden versuchte, machte ihn nur noch wütender; er glaubte, sie tue es aus Angst oder wegen seines schmerzenden Griffs – er erkannte nicht, daß sie sich schrecklich schämte. Dennoch antwortete sie ihm: »Connor.«
»Connor – wer ist das?«
»Der Lademeister«, sagte sie, »der Mann, der ...«
In seiner Erregung drückte er noch fester zu, und erst als sich ihre Augen schlossen, merkte er, daß er dabei war, sie zu erwürgen. Da lockerte er seinen Griff, blieb neben ihr hocken und wartete, bis ihre Lider sich wieder öffneten. Sein Atem schlug ihr heiß ins Gesicht.
»Sag’s mir«, flüsterte er schließlich. »Alles.«
Sie lag völlig reglos da, und er mußte die Luft verhalten, um sie verstehen zu können. »Ich ... ich wollte es nicht«, begann sie. »Ich habe versucht ... habe alles versucht ... es nicht zu müssen. Und ich hab’s nur getan ... um uns zu retten. Es war der einzige Ausweg.«
Wieder war eine Zeitlang nichts weiter zu hören als sein stoßweises Atmen. Ona schloß die Augen, und als sie weitersprach, schlug sie sie nicht auf. »Er sagte zu mir, er würde dafür sorgen, daß ich meine Stelle verliere ... und nicht nur ich, sondern wir alle ... und daß dann keiner von uns hier jemals wieder Arbeit kriegt. Und er meinte das ernst ... er hätte uns ruiniert.«
Jurgis zitterten die Arme so sehr, daß er sich kaum aufstützen konnte und beim Zuhören immer wieder vornüberkippte. »Wann ... wann hat das angefangen?« fragte er.
»Schon ziemlich früh ... als ich noch gar nicht lange da war.« Sie sprach wie in Trance. »Sie hatten das alles eingefädelt – Miss Henderson und er. Sie hat mich gehaßt. Und er ... er wollte mich haben. Er sprach mich immer an, draußen auf der Rampe ... machte mir den Hof ... und wurde von Mal zu Mal deutlicher. Er bittete und bettelte ... er tät mich lieben. Erst bot er mir Geld ... dann kam er mit Drohungen: daß er alles über uns weiß und daß er uns verhungern lassen kann. Daß er deinen Aufseher kennt ... und auch den von Marija. Daß er uns zu Tode hetzen wird. Aber wenn ich ... wenn ich nur wollte, sagte er, dann würden wir alle immer Arbeit haben. Und eines Tages hielt er mich fest ... ließ mich nicht los ... und ...«
»Wo war das?«
»Auf dem Flur ... spätabends, als schon alle gegangen waren. Ich konnte nicht anders. Ich dachte an dich ... an unsern Jungen ... an Mutter und die Kinder. Ich hatte Angst vor ihm ... traute mich nicht zu schreien.«
Eben noch war ihr Gesicht aschfahl gewesen, jetzt aber glühte es dunkelrot. Sie rang weiter nach Atem. Jurgis gab keinen Laut von sich.
»Das war vor zwei Monaten. Dann wollte er mich in ... in jenes Haus holen. Für fest. Er sagte, wir alle ... wir brauchen dann nicht mehr zu arbeiten. Er ließ mich hinkommen ... an den Abenden. Dir sagte ich ... du dachtest, ich wär noch in der Fabrik. Aber neulich schneite es so, und ich konnte nicht heimfahren. Und letzte Nacht ... da ging keine Straßenbahn. Eine kleine Panne ... und richtet uns alle zugrunde. Ich wollte zu Fuß gehen, konnte aber nicht. Du solltest es nie erfahren. Es wäre ... es wäre alles gutgegangen. Wir hätten weiterleben können ... so wie bisher ... und du hättest nie etwas davon zu wissen brauchen. Er hatte mich schon ein bißchen über ... hätte mich bald in Ruhe gelassen. Ich kriege ein Kind ... ich werde häßlich. Das hat er mir gestern erklärt, sogar zweimal. Und mir einen Fußtritt gegeben. Und jetzt ... jetzt wirst du ihn totschlagen ... wirst ihn totschlagen ... und wir werden zugrunde gehen ...«
Ona hatte das alles gesagt, ohne sich zu regen; wie eine Tote lag sie jetzt da, keine Wimper zuckte. Und auch Jurgis sagte kein Wort. Er zog sich am Bett hoch und stand auf. Ohne sich noch einmal nach ihr umzudrehen, ging er zur Tür, zog den Tisch wieder weg und machte sie auf. Er sah auch nicht Elzbieta, die verängstigt in der Ecke hockte. Ohne Kopfbedeckung stürzte er hinaus und ließ die Haustür hinter sich offen. Sobald er auf der Straße war, begann er zu rennen.
Er rannte wie ein Besessener, schaute weder nach rechts noch nach
links. Erst in der Ashland Avenue wurde er langsamer, weil ihm die
Luft ausging. Als er eine Straßenbahn sah, spurtete er hinterher
und schwang sich hinauf. Sein Blick war wild, seine Haare
flatterten, und er atmete keuchend wie ein verwundeter Stier, aber
die anderen Fahrgäste nahmen das nicht weiter zur Kenntnis –
vielleicht fanden sie es ganz natürlich, daß jemand, der so roch
wie Jurgis, sich auch entsprechend gebärdete. Wie üblich rückten
sie von ihm weg. Vorsichtig, nur mit den Fingerspitzen nahm ihm der
Schaffner seine fünf Cent ab, ging dann hinein und überließ ihm die
ganze Plattform. Jurgis merkte es nicht einmal – seine Gedanken
waren weit weg. Seine Seele glich einem rotglühenden Schmelzofen;
wie zum Sprung geduckt, stand er da und wartete ...
Als die Bahn am Tor zu den Yards hielt, war er wieder genügend bei Atem, und so sprang er ab und rannte los. Die Leute drehten sich nach ihm um und starrten ihm nach, aber er sah niemanden – da war die Fabrik, und er raste durch den Eingang und den Flur hinunter. Jurgis wußte, wo Ona arbeitete, und vom Sehen kannte er auch Connor, den Lademeister. Er stürmte in den Saal hinein und schaute sich nach ihm um.
Draußen waren die Packer schwer bei der Arbeit; sie luden die versandfertigen Kisten und Fässer auf die Wagen. Jurgis suchte mit raschem Blick die Rampe ab, aber der Kerl war nicht da. Doch dann hörte er plötzlich eine Stimme auf dem Flur. Sofort stürzte er dorthin – und stand Connor gegenüber.
Der war ein großer, rotgesichtiger Ire von grobschlächtigem Äußeren und mit Schnapsfahne. Als er Jurgis über die Schwelle setzen sah, wurde er weiß wie die Wand. Eine Sekunde lang schwankte er, ob er wegrennen solle, doch dann war sein Angreifer schon über ihm. Er hob die Hände, um das Gesicht zu schützen, aber Jurgis, der mit der vollen Kraft von Arm und Körper zuschlug, traf ihn genau zwischen die Augen, so daß er hintenüberschlug. Im nächsten Moment war er auf ihm und grub ihm die Finger in die Kehle.
Für Jurgis stank der ganze Kerl nach der Schandtat, die er begangen hatte; ihn zu berühren machte ihn wahnsinnig – ließ jeden seiner Nerven vibrieren, weckte alles Wilde und Böse in ihm. Dieser Unhold hatte Ona mißbraucht – und jetzt hatte er ihn gepackt, hatte ihn in seiner Gewalt! Jetzt war er an der Reihe! Er sah nur noch rot, wie in einem Nebel von Blut, und mit einem Wutschrei riß er sein Opfer hoch und schmetterte es mit dem Hinterkopf auf den Boden.
Natürlich geriet der ganze Saal in Aufruhr: Frauen kreischten oder fielen in Ohnmacht, Männer kamen herbeigestürzt. Jurgis war so bei der Sache, daß er nichts davon wahrnahm; er merkte kaum, daß man ihn zu hindern suchte. Erst als ihn bereits ein halbes Dutzend Männer an Beinen und Schultern gepackt hatten und an ihm zerrten, begriff er, daß man ihm seine Beute entreißen wollte. Blitzschnell fuhr er mit dem Kopf nieder und stieß die Zähne in Connors Wange. Als sie ihn wegrissen, triefte er von Blut und hingen kleine Fetzen Haut in seinem Mund.
Sie zwangen ihn zu Boden, aber obwohl sie sich an seine Arme und Beine klammerten, konnten sie ihn kaum halten. Er kämpfte wie ein Löwe, warf sich herum, schüttelte sie halb ab und stürzte sich wieder auf seinen bewußtlosen Feind. Aber es mischten sich immer mehr Männer ein, bis sich ein regelrechter Berg von verschlungenen Gliedern und Leibern zuckend und stoßend durch den Flur wälzte. Am Ende drückten sie Jurgis durch ihr bloßes Gewicht den Atem ab und trugen ihn dann zur Werkwache, wo er still liegenblieb, bis die Polizei herbeigerufen war und ihn wegschaffte.