23


Schon früh im Herbst machte Jurgis sich wieder nach Chicago auf. Das Wanderleben verlor seines Reiz, sobald man sich im Heu nicht mehr warm halten konnte, und gleich vielen tausend anderen wiegte sich Jurgis in der Illusion, durch rechtzeitiges Eintreffen dem Massenansturm auf Arbeit zuvorzukommen. Versteckt in einem seiner Schuhe, trug er fünfzehn Dollar bei sich; die hatte er vor den Kneipenwirten gerettet, weniger aus Gewissensgründen als aus der Angst heraus, die ihn bei der Vorstellung befiel, im Winter in der Stadt arbeitslos zu sein.

Mit mehreren anderen zusammen reiste er per Güterzug; sie versteckten sich nachts in Waggons, immer in Gefahr, hinausgeworfen zu werden, auch wenn der Zug gerade Tempo drauf hatte. Nach der Ankunft in Chicago trennte Jurgis sich von seinen Gefährten, denn er hatte Geld und sie nicht, und er war entschlossen, sich in dem bevorstehenden Kampf zu behaupten. Er habe jetzt Erfahrung, sagte er sich, und er werde durchhalten, mochten andere dabei auch draufgehen. In linden Nächten würde er im Park oder auf einem Wagen, in einer leeren Tonne oder Kiste schlafen, und bei Regen oder Kälte würde er sich in einer Zehn-Cent-Absteige eine Pritsche mieten oder sich für drei Cent das Recht erwerben, im Flur eines Mietshauses zu nächtigen. Ernähren würde er sich von dem freien Essen in den Kneipen und sich das immer nur mit einem einzigen Schnaps für fünf Cent erkaufen, nie mehr. So könnte er sich mindestens zwei Monate über Wasser halten, und in dieser Zeit gelinge es ihm sicher, Arbeit zu finden. Seiner sommerlichen Sauberkeit müsse er natürlich Lebewohl sagen, denn schon nach der ersten Nacht in einem Logierhaus würden seine Sachen von Ungeziefer wimmeln. Nirgendwo in der Stadt gab es für ihn eine Möglichkeit, sich auch nur das Gesicht zu waschen, es sei denn am Ufer des Sees, und der fror ja bald zu.

Zuerst ging er zu den Stahlwerken und dann zu den Erntemaschinenwerken, aber wie kaum anders zu erwarten, waren seine alten Stellen längst besetzt. Um die Yards machte er einen großen Bogen – er sei jetzt frei und ledig, sagte er sich, und wolle das auch bleiben, wolle, wenn er Arbeit bekommt, seinen Lohn für sich allein haben. Er begann nun mit der langen, beschwerlichen Runde durch die Fabriken und Lagerhäuser, marschierte den ganzen Tag von einem Ende der Stadt zum anderen, doch immer waren schon zwischen zehn und hundert Mann vor ihm da. Er sah auch die Zeitungen durch, aber von zungenfertigen Vermittlern ließ er sich jetzt nichts mehr erzählen; über deren Maschen war er während seiner Walzenzeit aufgeklärt worden.

Am Ende aber, nach fast einem Monat vergeblichem Suchen, fand er doch durch eine Zeitungsannonce Arbeit. Inseriert war nach hundert Arbeitern, und obwohl er das für eine Finte hielt, ging er hin, weil es kein weiter Weg war. Er fand eine Warteschlange vor, die einen Häuserblock lang war, aber als zufällig aus einer Ausfahrt ein Fuhrwerk herauskam und die Reihe durchbrach, erkannte er seine Chance und sprang in die Lücke. Die anderen drohten ihm und suchten ihn wieder hinauszudrängen, doch da begann er lautstark zu schimpfen, um einen Polizisten aufmerksam zu machen, woraufhin sie Ruhe gaben, da sie wußten, wenn der sich einmischte, würde er sie alle davonjagen.

Ein, zwei Stunden später stand Jurgis in einem Büro vor einem Schreibtisch, hinter dem ein vierschrötiger Ire saß.

»Wo haben Sie schon in Chicago gearbeitet?« fragte der, und ob es ihm nun ein Schutzengel oder sein inzwischen geschärfter Verstand eingab, jedenfalls antwortete Jurgis: »Noch nirgends, Sir.«

»Woher kommen Sie?«

»Aus Kansas City, Sir.«

»Haben Sie Zeugnisse?«

»Nein, Sir. Ich bin bloß ungelernter Arbeiter. Aber ich habe kräftige Arme.«

»Ich brauche Leute für Schwerarbeit. Alles unterirdisch, Ausschachten von Stollen für Telephonkabel. Vielleicht sagt Ihnen das nicht zu?«

»Doch, doch, Sir. Mir ist jede Arbeit recht. Was zahlen Sie Lohn?«

»Fünfzehn Cent die Stunde.«

»Bin einverstanden, Sir.«

»Gut. Gehen Sie dort rüber und lassen Sie ihre Personalien aufnehmen.«

Eine halbe Stunde später war Jurgis bereits beim Arbeiten tief unter den Straßen Chicagos. Für Telephonleitungen war das ein merkwürdiger Stollen: gut zweieinhalb Meter hoch, fast ebenso bereit, mit ganz ebenem Boden, und es gingen unzählige Abzweigungen von ihm ab – das reinste Spinnennetz unter der Stadt. Jurgis lief mit seiner Kolonne über eine halbe Meile zu der Stelle, wo sie arbeiten sollten. Noch seltsamer war, daß der Stollen elektrisches Licht hatte und daß eine zweigleisige Schmalspurbahn hindurchführte.

Aber Jurgis war nicht hier unten, um Fragen zu stellen, und er dachte über diese Sache nicht weiter nach. Erst nahezu ein Jahr später sollte er erfahren, welche Bewandtnis das Ganze hatte. Vom Magistrat war in aller Stille ein harmloser kleiner Erlaß verabschiedet worden, der einer Firma die Genehmigung erteilte, unter den Straßen der Stadt Telephonleitungen zu verlegen, und kraft dessen hatte dann eine große Aktiengesellschaft begonnen, ganz Chicago mit einem Untergrundbahnnetz für Güterverkehr zu untertunneln. Es gab in der Stadt einen Interessenverband von Arbeitgebern, der etliche hundert Millionen Dollar Kapital repräsentierte und den man eigens zu dem Zweck gegründet hatte, die Gewerkschaften kirre zu kriegen. Größter Dorn im Auge war ihnen die der Fuhrleute, und wenn diese Frachttunnel einmal fertig waren und all die großen Fabriken und Lager mit den Güterbahnhöfen verbanden, konnte der Fuhrmannsgewerkschaft die Luft gedrosselt werden. Ab und an kam die Sache im Magistrat gerüchtweise zur Sprache, und einmal wurde sogar ein Untersuchungsausschuß gebildet – aber dann wechselte jedesmal ein kleines Vermögen den Besitzer, und das Munkeln verstummte, bis schließlich die Stadt aus dem Schlaf schreckte und sich vor vollendete Tatsachen gestellt sah. Natürlich gab es einen Riesenskandal; es kam heraus, daß die Sitzungsberichte des Magistrats gefälscht und noch andere betrügerische Schiebungen gemacht worden waren, und ein paar von Chicagos größten Kapitalisten wanderten hinter Gitter – selbstredend nur theoretisch. Die Stadträte erklärten, sie hätten von all dem nichts gewußt, ungeachtet der Tatsache, daß sich der Haupteingang zu der Anlage unmittelbar hinter der Kneipe befand, die einem von ihnen gehörte.

Jurgis arbeitete in einem gerade erst begonnenen Abschnitt, und so war ihm klar, daß er den Winter hindurch Arbeit haben würde. Vor Freude darüber leistete er sich am Abend ein kleines Besäufnis, und mit dem Rest seines Geldes nahm er sich eine Dauerschlafstelle in einem Mietskasernenzimmer, wo er sich mit vier, fünf anderen Arbeitern eine große selbstgemachte Strohmatratze teilen mußte. Das kostete einen Dollar die Woche, und für vier weitere ging er in einem Kosthaus nahe seiner Arbeitsstelle in Verpflegung. So blieben ihm jede Woche vier Dollar übrig, für ihn eine unvorstellbare Summe. Am Anfang hatte er noch die Ausgaben für sein Werkzeug und auch für ein Paar feste Stiefel, denn seine Schuhe gingen schon aus dem Leim, sowie für ein Flanellhemd, da das eine, das er den ganzen Sommer getragen hatte, nur noch aus Fetzen bestand. Eine Woche lang überlegte er, ob er sich auch einen Mantel kaufen solle. Er konnte einen bekommen, der einem jüdischen Hausierer mit Kurzwaren gehört hatte; der Mann war in dem Zimmer nebenan gestorben, und die Wirtin hatte seinen Überzieher als Miete einbehalten. Jurgis meinte dann aber, ohne Mantel auskommen zu können, da er ja tagsüber unter der Erde und nachts im Bett sei.

Eine glückliche Entscheidung war das freilich nicht, denn nun trieb ihn die Kälte um so schneller in die Kneipen. Jurgis arbeitete jetzt von früh um sieben bis abends halb sechs mit dazwischen einer halben Stunde Mittagspause, was bedeutete, daß er an den Werktagen niemals die Sonne zu sehen bekam. Abends blieb ihm nur, in ein Lokal zu gehen; nirgends sonst war Licht und Wärme, nirgends sonst konnte er ein bißchen Musik hören oder mit einem Bekannten sitzen und plaudern. Ein Zuhause hatte er nicht mehr, und es gab auch keine Liebe in seinem Leben – nur einen kläglichen Ersatz dafür in der Kumpanei des Lasters. Sonntags waren die Kirchen offen, aber ein übelriechender Arbeiter, dem Läuse über den Kragen krochen, in welcher Kirche konnte der sitzen, ohne daß die Leute von ihm wegrückten und die Nase rümpften? Nun ja, er hatte seine Ecke in einem stickigen, obwohl ungeheizten Zimmer mit Blick auf eine kaum mehr als anderthalb Meter entfernte kahle Mauer, und er hatte auch die tristen Straßen, durch die die Winterstürme fegten; davon abgesehen blieben ihm nur die Kneipen – und um sich dort aufhalten zu können, mußte er natürlich trinken. Bestellte er sich ab und zu ein Glas, durfte er es sich bequem machen, mit Würfeln, speckigen Karten oder auf einem schmutzigen Billard um Geld spielen oder sich eine bierfleckige rosa »Sportzeitung« mit Bildern von Mördern und halbnackten Frauen anschauen. Für solche Vergnügungen gab er sein Geld hin, und so sah sein Leben während der sechseinhalb Wochen aus, die er für die Großkaufleute von Chicago schuftete, damit sie die Macht der Fuhrmannsgewerkschaft brechen konnten.

Bei einem so heimlich durchgezogenen Objekt wie diesem machte man sich nicht viel Gedanken um das Wohl der Arbeiter. Im Schnitt kostete der Tunnelbau täglich ein Menschenleben und mehrere schwere Verletzungen, doch erfahren von jedem dieser Unfälle selten mehr als ein, zwei Dutzend Leute. Es wurde zwar mit den neuen Bohrmaschinen gearbeitet und so wenig wie möglich gesprengt, doch schloß das nicht aus, daß Gestein herabstürzte, Stützen zusammenbrachen und Explosionen vorzeitig losgingen; hinzu kamen noch die durch den Schienenverkehr bedingten Gefahren. Und so geschah es, daß eines Abends, als Jurgis mit seiner Kolonne auf dem Weg nach draußen war, aus einer der unzähligen rechtwinklichen Abzweigungen eine Lok mit einer beladenen Lore herausschoß, ihn an der Schulter traf, gegen die Betonwand schleuderte und bewußtlos zu Boden streckte.

Als er wieder zu sich kam, hörte er die laute Glocke eines Krankenwagens. Er lag, mit einer Decke zugedeckt, in diesem Wagen, und der bahnte sich langsam seinen Weg durch die ihre Weihnachtseinkäufe machende Menschenmenge. Man brachte ihn in ein städtisches Krankenhaus, wo ein junger Chirurg ihm den gebrochenen Arm richtete; dann wurde er gewaschen und auf eine Station zu -zig anderen verletzten und verstümmelten Männern gelegt.

Hier verbrachte Jurgis das Fest, und es waren die schönsten Weihnachten, die er bisher in Amerika erlebt hatte. Jedes Jahr gab es in diesem Krankenhaus Skandale und Untersuchungen, denn die Zeitungen behaupteten immer wieder, daß die Ärzte ausgefallene Experimente an ihren Patienten vornehmen dürften, aber Jurgis wußte davon nichts – seine einzige Klage war, daß er hier Konservenfleisch essen mußte, mit dem niemand, der je in Packingtown gearbeitet hatte, auch nur seinen Hund gefüttert hätte. Jurgis hatte sich oft gefragt, wer denn eigentlich das Büchsenfleisch aus den Yards esse – jetzt ging es ihm auf: Es wurde an Behörden und Vertragslieferanten verkauft, und essen mußten es Soldaten und Seeleute, Häftlinge und Krankenhauspatienten, Arbeiter in Holzfäller-Camps und Gleisbaukolonnen.

Nach vierzehn Tagen wurde Jurgis entlassen. Nicht etwa daß sein Arm ausgeheilt gewesen wäre und er wieder hätte arbeiten gehen können, aber er kam jetzt ohne Pflege aus, und sein Bett wurde für wen anders gebraucht, dem es schlechter ging als ihm. Daß er gänzlich hilflos war und nicht die Mittel hatte, sich in der Zwischenzeit durchzubringen, interessierte weder die Krankenhausverwaltung noch sonst jemanden in der Stadt.

Zufällig war der Unfall an einem Montag passiert, so daß Jurgis gerade erst Essen und Miete für die vergangene Woche bezahlt und dann auch noch fast den ganzen Rest seines Lohnes vom Samstag ausgegeben hatte. Seine gesamte Barschaft waren fünfundsechzig Cent, und anderthalb Dollar standen ihm noch für die Arbeit am Montag zu. Wahrscheinlich hätte er die Gesellschaft belangen und ein Schmerzensgeld bekommen können, aber das wußte er nicht, und ihn darüber aufzuklären, dazu war die Gesellschaft nicht verpflichtet. Er holte sich seinen Restlohn ab und auch sein Werkzeug, das er in einer Pfandleihe für fünfzig Cent versetzte. Danach ging er zu seiner Wirtin; sie hatte seine Schlafstelle inzwischen anderweitig vermietet, und jetzt war für ihn nichts mehr frei. Die Inhaberin seines Kosthauses, die er als nächstes aufsuchte, musterte ihn kritisch und stellte diverse Fragen. Da er bestimmt noch monatelang arbeitsunfähig bleiben würde und er bei ihr nur sechs Wochen Gast gewesen war, entschied sie sehr schnell, daß ihm Kredit zu gewähren zu riskant sei.

Jurgis stand also, als er hinausging, in jeder Beziehung auf der Straße. Schlimmer konnte seine Lage kaum noch sein: Es war bitterkalt, dichter Schneefall schlug ihm ins Gesicht; er hatte keine Bleibe, keinen Mantel, nur zwei Dollar fünfundsiebzig in der Tasche und die Gewißheit, in den nächsten Monaten nicht einen Cent dazuverdienen zu können. Der Schnee bot ihm jetzt keine Chance auf Arbeit; Jurgis mußte vorbeigehen und zusehen, wie andere munter und kraftvoll schippten – und er trug den linken Arm in der Schlinge! Er konnte auch nicht hoffen, sich mit gelegentlichen Ladearbeiten durchzubringen, ja nicht einmal mit dem Verkaufen von Zeitungen oder dem Tragen von Koffern, denn den Rivalen dabei war er jetzt nicht gewachsen. Als ihm das alles klar wurde, erfaßte ihn unbeschreibliches Entsetzen. Es ging ihm wie einem waidwunden Tier im Wald; er mußte sich unter ungleichen Bedingungen mit seinen Feinden messen. Niemand nahm auf seine Verletzung Rücksicht, niemand fühlte sich bemüßigt, ihm den Kampf auch nur ein wenig zu erleichtern. Selbst wenn er sich aufs Betteln verlegte, war er im Nachteil, wie er noch merken sollte.

Zu Anfang beherrschte ihn nur ein Gedanke: der schrecklichen Kälte zu entkommen. Er ging in eine Kneipe, in der er früher verkehrt hatte, und trank ein Glas Whiskey, stand dann bibbernd am Feuer und wartete darauf, an die Luft gesetzt zu werden. Nach ungeschriebenem Gesetz erkauft man mit dem Bestellen eines Getränks in einem Lokal das Recht, sich so lange dort aufzuhalten, bis man ausgetrunken hat; dann muß man das nächste Glas bestellen oder gehen. Daß Jurgis ein alter Kunde war, gab ihm Anspruch, ein bißchen länger zu verweilen, aber er war ja zwei Wochen weggeblieben und inzwischen sichtlich auf den Hund gekommen. Er konnte zwar bitten und erzählen, was er für Pech gehabt habe, aber erreichen würde er damit wenig; ein Kneipier, der sich durch solche Geschichten rühren läßt, würde an einem Tag wie diesem sein Lokal bald bis zur Tür voller Obdachloser haben.

Also ging Jurgis in eine andere Kneipe und gab abermals fünf Cent aus. Inzwischen war er so hungrig, daß er dem heißen Rindfleischeintopf nicht widerstehen konnte, was seinen Aufenthalt beträchtlich verkürzte. Als er wieder zum Gehen aufgefordert wurde, machte er sich auf zu einer Spelunke im Levee-Viertel, wo er manchmal mit einem Arbeitskollegen, einem rattenäugigen Böhmen, nach Frauen Ausschau gehalten hatte. Jurgis gab sich der eitlen Hoffnung hin, daß man ihn dort als »Aufwärmer« dulden würde. In Kaschemmen erlaubten die Wirte im Winter oft ein, zwei jammervoll aussehenden Fechtbrüdern, die vollgeschneit oder regendurchweicht hereinkommen, sich ans Feuer zu setzen und erbarmungswürdig dreinzuschauen, um Kundschaft anzulocken. Kam dann ein Arbeiter ins Lokal, froh, daß der Arbeitstag um war, bekümmerte es ihn, beim Genießen seines Glases solch einen Anblick vor der Nase zu haben, und so rief er vielleicht: »He, alter Junge, was ist denn? Machst ja ‘n Gesicht wie verhagelte Petersilie.« Dann konnte der andere seine Elendsgeschichte erzählen, und der Arbeiter sagte: »Komm, trink einen mit, dann schaut die Welt gleich anders aus.« So tranken sie zusammen ein Glas, und wenn der Fechtbruder unglücklich genug aussah oder sein Mundwerk gut genug geölt war, auch noch ein zweites; entdeckten sie gar, daß sie aus demselben Land kamen oder in derselben Stadt gelebt oder in derselben Branche gearbeitet hatten, setzten sie sich vielleicht an einen Tisch und klönten ein oder zwei Stunden – und ehe sie es sich versahen, hatte der Wirt einen Dollar eingenommen. So fies das auch erscheinen mag, man konnte es dem Kneipier nicht verargen. Er befand sich in der gleichen Zwangslage wie der Fabrikant, der sein Produkt verfälschen und mit lügnerischen Angaben dafür werben muß. Tut er das nicht, tut es ein anderer; und ein Wirt, der nicht zugleich noch Stadtrat ist, hat wahrscheinlich Schulden bei den großen Brauereien und lebt in ständiger Angst vorm Gerichtsvollzieher.

An diesem Nachmittag war der Bedarf an »Aufwärmern« aber schon gedeckt, und es gab keinen Platz für Jurgis. Insgesamt mußte er sechsmal fünf Cent opfern, um an jenem schrecklichen Tag ein Dach überm Kopf zu haben, und dann wurde es gerade erst dunkel – aber die Polizeiwachen machten nicht vor Mitternacht auf. In der letzten Kneipe war jedoch ein Zapfer, der ihn leiden mochte und ihn an einem Tisch dösen ließ, bis der Wirt zurückkam. Als Jurgis ging, gab er ihm einen Tip: Im nächsten Block sei eine religiöse Sekte, und die halte eine Wiedererweckung ab oder wie sich das nennt, jedenfalls was mit Predigen und Singen, und da würden Hunderte von Obdachlosen hingehen, um sich aufzuwärmen.

Jurgis machte sich sogleich dorthin auf und sah draußen ein Plakat, auf dem stand, Einlaß sei um sieben Uhr dreißig. Darauf lief oder vielmehr rannte er eine Straße weiter, verbarg sich eine Weile in einem Torweg, trabte wieder zurück, und immer so fort, bis die Zeit heran war. Ganz steif vor Kälte und unter Gefahr, sich den Arm erneut zu brechen, kämpfte er sich mit der Menschenmenge nach drinnen und erwischte einen Platz nahe dem großen Ofen.

Um acht Uhr war der Saal so voll, daß sich die Redner hätten geschmeichelt fühlen können; selbst in den Gängen standen bis zur Mitte Leute, und an der Tür war die Menge so kompakt, daß man auf ihr hätte entlanglaufen können. Auf dem Podium sah man drei ältliche Herren in Schwarz und eine junge Dame am Klavier. Zuerst wurde ein frommes Lied gesungen, und dann hielt einer von den dreien, ein großer Hagerer mit glattrasiertem Gesicht und schwarzem Kneifer, eine Ansprache. Jurgis hörte Bruchstücke davon, weil er sich nicht zu schlafen getraute – er wußte, daß er entsetzlich schnarchte, und jetzt hinausgeworfen zu werden wäre ihm wie ein Todesurteil erschienen.

Der Mann predigte von »Sünde und Erlösung«, von der unendlichen Gnade Gottes und seiner Vergebung menschlicher Schwäche. Es war ihm sehr ernst, und er meinte es gut, aber Jurgis spürte beim Zuhören Haß in sich aufkeimen. Was wußte denn der von Sünde und Leid – der mit seinem gebügelten schwarzen Rock und gestärkten weißen Kragen. Der hatte warme Glieder, einen satten Magen und die Tasche voll Geld und wollte Männern was erzählen, die ums nackte Überleben kämpften, gegen die satanischen Mächte Hunger und Kälte! Natürlich war das ungerecht, aber Jurgis fand, daß diese Leute keine Berührung mit dem Leben hatten, von dem sie redeten, und also auch nicht dessen Probleme zu lösen vermochten; mehr noch, sie waren selbst eines davon – sie waren Teil der bestehenden Ordnung mit ihrer Unterdrückung und Prügelung von Menschen! Sie gehörten zu den immer die Oberhand habenden und anmaßenden Besitzenden; sie hatten ihren Saal und ihren Ofen, es mangelte ihnen nicht an Essen, Kleidung und Geld, und so hatten sie gut predigen vor den Hungrigen, die in Demut zuhören durften! Deren Seelen wollten sie retten – dabei konnte jeder, der auch nur ein bißchen Grips hatte, doch sehen, daß ihren Seelen nichts weiter fehlte, als daß sie keine menschenwürdige Existenz für ihre Körper hatten finden können.

 


Um elf war die Veranstaltung zu Ende, und die Zuhörer zogen verzagt einer nach dem anderen wieder hinaus in den Schnee, wobei sie murmelnd über die paar Verräter fluchten, die es mit der Reue bekommen hatten und aufs Podium gestiegen waren. Noch eine ganze Stunde, bis die Polizeiwache aufmachte – und Jurgis hatte keinen Mantel, war außerdem von den zwei Wochen Krankenhaus geschwächt. In diesen sechzig Minuten kam er fast um vor Kälte. Er mußte schnell laufen, um sein Blut überhaupt in Bewegung zu halten, und als er zu der Wache kam, fand er dort eine Menschenmenge, die vor dem Eingang die ganze Straße blockierte. Es war der Januar 1904, als dem Land »schwere Zeiten« bevorstanden und die Zeitungen täglich von Fabrikstillegungen berichteten; man schätzt, daß bis zum Frühjahr eineinhalb Millionen Menschen ihre Arbeit verloren. Folglich waren sämtliche zum Übernachten geeigneten Schlupfwinkel in der Stadt belegt, und vor der Polizeiwache gab es einen wilden Kampf aller gegen alle, um hineinzukommen. Als sie schließlich zum Bersten voll war und die Türen geschlossen wurden, stand die Hälfte noch draußen – und darunter Jurgis, der mit seinem unbrauchbaren Arm abgedrängt worden war. Es blieb ihm nichts weiter übrig, als zu einem Logierhaus zu gehen und weitere zehn Cent zu opfern. Es brach ihm schier das Herz, das tun zu müssen, jetzt um halb eins, nachdem er sich in dem Sektensaal und auf der Straße die halbe Nacht bereits um die Ohren geschlagen hatte. Um Punkt sieben würde er aus dem Quartier hinaus müssen – in den asylartigen billigen Logierhäusern waren die Bretterpritschen so konstruiert, daß sie heruntergeklappt werden konnten, und jeder, der beim Wecken nicht gleich aufstand, wurde einfach auf den Boden gekippt.

Das war nur ein einziger Tag, und die Kältewelle hielt zwei Wochen an. Nach sechs Tagen hatte Jurgis keinen Cent mehr, und da ging er auf die Straße, um sich mit Betteln am Leben zu erhalten.

Sobald sich die Stadt morgens mit Leben füllte, fing er an. Von einer Kneipe aus zog er los, und nachdem er sich vergewissert hatte, daß kein Polizist in Sicht war, sprach er jeden leidlich aussehenden Passanten an, erzählte seine traurige Geschichte und bat um ein paar Cents. Hatte er etwas bekommen, rannte er um die Ecke zurück zu seinem Stützpunkt, um sich wieder aufzuwärmen, und wenn der Spender das sah, schwor er sich im Weitergehen, nie mehr einem Bettler etwas zu geben. Keiner der Angebettelten nahm sich die Zeit, sich zu fragen, wo Jurgis unter den Umständen denn sonst hätte hingehen sollen – wo er, der Spender, in seinem Fall hingegangen wäre. In der Kneipe bekam Jurgis nicht nur mehr und besseres Essen, als es für dasselbe Geld in einem Restaurant gab, sondern dazu auch noch einen Schnaps zum Aufwärmen. Außerdem fand er hier einen behaglichen Platz am Ofen, wo er mit einem Leidensgenossen plaudern konnte, bis ihm mollig warm war. Und er fühlte sich in der Kneipe auch zu Hause. Für den Wirt gehörte es zum Geschäft, Bettlern im Tausch gegen die Erträge ihrer Beutezüge Aufenthalt, Essen und Trinken zu bieten; und wer sonst in der ganzen Stadt tat das schon? Wäre etwa der Spender dazu bereit gewesen?

Man müßte meinen, daß der arme Jurgis einen erfolgreichen Bettler abgab. Er kam ja gerade erst aus dem Krankenhaus, sah furchtbar elend aus und trug den einen Arm in der Schlinge; außerdem hatte er keinen Mantel und zitterte jämmerlich vor Kälte. Aber ach, es erging ihm wie dem ehrlichen Kaufmann, der feststellen muß, daß die echte und unverfälschte Ware von der raffinierten Nachahmung an die Wand gedrückt wird! Als Bettler war Jurgis bloß ein stümperhafter Amateur im Konkurrenzkampf mit organisierten und fachkundig arbeitenden Professionellen. Er war erst ein paar Tage aus dem Krankenhaus heraus  aber diese Geschichte war abgedroschen, und wie hätte er sie beweisen können? Er trug den Arm in der Schlinge – eine Aufmachung, die eines regulären Bettlers kleiner Sohn als unter seiner Würde empfunden hätte. Er war blaß und bibberte – aber die anderen waren mit Schminke hergerichtet und hatten das Zähneklappern eingeübt. Daß er ohne Mantel war – nun, man konnte unter ihnen Leute antreffen, bei denen man geschworen hätte, daß sie nichts weiter anhaben als eine fadenscheinige Sommerjacke und dünne Baumwollhosen – so kunstgerecht hatten sie die mehreren Garnituren reinwollene Unterwäsche kaschiert, die sie darunter trugen. Viele dieser Berufsbettler hatten ihre Familie, ihr gemütliches Heim und ein vierstelliges Bankkonto; manche hatten sich aus dem aktiven Dienst zurückgezogen und sich darauf verlegt, andere auszustaffieren und zurechtzumachen oder Kinder für sich arbeiten zu lassen. Es gab welche, die hatten beide Arme eng an den Leib geschnürt, sich ausgestopfte Stümpfe in die Ärmel gesteckt und ein krankes Kind angeheuert, das ihnen die Bettelschale trug. Andere hatten keine Beine und bewegten sich auf Brettern mit Rädern voran; wieder andere waren durch Blindsein begünstigt und wurden von hübschen kleinen Hunden geführt. Einige weniger Glückliche hatten Selbstverstümmelung betrieben, hatten sich Brandwunden oder mit Chemikalien grausige Verätzungen beigebracht; es konnte passieren, daß einem auf der Straße plötzlich jemand einen vereiterten und brandig verfärbten Finger entgegenstreckte oder eine Hand mit verrutschtem schmutzigem Verband, aus dem blaurote Wunden hervorschauten. Diese Verzweifelten waren der Bodensatz der Kloaken Chicagos, Elende, die nachts Unterschlupf suchten in den Kellern abbruchreifer Mietshäuser, in denen Regenwasser stand, in Pennerkneipen und Opiumhöhlen, zusammen mit abgewrackten Dirnen, die aus Chinesenpuffs hinausgesetzt worden waren zum Krepieren. Jeden Tag fischte das Schleppnetz der Polizei Hunderte von ihnen von den Straßen, und in der Verwahrungsanstalt konnte man sie sehen, zusammengepfercht in einem Inferno en miniature, mit häßlichen, tierischen Gesichtern, aufgedunsen und von venerischen Krankheiten gezeichnet, lachend, schreiend, kreischend in allen Stadien der Trunkenheit, wie Hunde kläffend, schnatternd wie Affen, im Delirium tobend und sich selbst zerfleischend.