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Vier Uhr, die Trauung war vorüber, und die ersten Kutschen langten vor dem Lokal an. Die ganze Strecke schon folgte ihnen eine Menschenmenge, angelockt durch die lautstarke Aufführung von Marija Berczynskas. Marija hatte eine schwere Last auf ihren breiten Schultern ruhen, nämlich dafür zu sorgen, daß die Feier in gebührlicher Form und nach bester heimatlicher Tradition verlief. Und so war sie – geschäftig hierhin und dorthin hetzend, jedermann unsanft aus dem Weg stoßend, in einem fort mit ihrer gewaltigen Stimme schimpfend und ermahnend – zu sehr darauf bedacht, daß andere die Schicklichkeit einhielten, als daß sie selber sie gewahrt hätte. Sie war als letzte aus der Kirche gekommen, und da sie als erste im Saal sein wollte, hatte sie dem Kutscher befohlen, schneller zu fahren. Als der sich da aber nicht dreinreden ließ, hatte Marija das Wagenfenster aufgerissen, sich hinausgelehnt und dem Kerl gehörig die Meinung gesagt, erst in litauisch, was er nicht verstand, und dann noch einmal in polnisch. Auf seinem hohen Bock ihr gegenüber im Vorteil, hatte er nicht nachgegeben, ja sogar zu widersprechen gewagt, und daraus war ein heftiger Wortwechsel entstanden, der die gesamte Ashland Avenue angehalten und eine halbe Meile lang an jeder Seitenstraße ihr Gefolge um einen neuen Schwarm Gassenjugend vermehrt hatte.

Das war sehr unangenehm, denn vorm Eingang scharten sich ebenfalls schon viele Leute. Die Musik spielte bereits auf, und einen halben Block weit konnte man das dumpfe Brummen eines Cellos vernehmen sowie das Quietschen zweier Geigen, die einander an Höhe und tonaler Akrobatik zu übertreffen suchten. Als Marija all die Menschen sah, hörte sie abrupt auf, sich über des Kutschers Vorfahren auszulassen, sprang vom fahrenden Wagen, stürzte sich in die Menge und bahnte sich hinein in den Saal. Sobald sie drinnen war, drehte sie sich um und preßte nun in die entgegengesetzte Richtung, wobei sie »Eik! Eik! Uzdaryk duris!« rief, und zwar so laut, daß der Krach von der Kapelle dagegen wie Sphärenmusik klang.

»Z. GRAICZUNAS • PASILINKSMINIMAMS DARZAS«, »VYNAS & SZNAPSAS • WEINE & SPIRITUOSEN« und »GEWERKSCHAFTSLOKAL« stand draußen auf den Schildern. Jene Leser, die mit der Sprache des fernen Litauens noch nicht viel zu tun gehabt haben, wird es freuen, erklärt zu bekommen, daß es sich um den Vereinssaal einer Kneipe in jener Gegend von Chicago handelte, auf die man dort als »hinter den Yards« – den Vieh- und Schlachthöfen – verweist. So genau und faktengerecht diese Angabe auch ist, wie erbärmlich unzureichend wäre sie jedoch dem erschienen, der wußte, daß hier jetzt die große Stunde der Verzückung im Leben eines der sanftesten Geschöpfe Gottes anlief, daß dies der Schauplatz der Hochzeitsfeier und Freudenverklärung der kleinen Ona Lukoszaite war!

Sie stand in der Tür, behütet von Kusine Marija, noch ganz atemlos davon, sich durch die Menge zu drängen, und in ihrem Glück überaus rührend, ja ergreifend anzuschauen. In ihren Augen glänzte Staunen, ihre Lider zitterten, und ihr sonst blasses Gesichtchen glühte. Sie trug ein Musselinkleid in augenfälligem Weiß, und auf ihre Schultern fiel ein kleiner gestärkter Schleier, in den fünf rosa Papierrosen und elf grellgrüne Rosenblätter gesteckt waren. Ihre Hände steckten in neuen weißen Baumwollhandschuhen, und sie verkrampfte sie nervös, während sie die Augen langsam umherschweifen ließ. Es war beinah zuviel für sie; in ihrem Gesicht und im Beben ihres Körpers spiegelte sich der Schmerz allzugroßer Gemütsbewegung wider. Sie war so jung – erst fünfzehn – und zudem klein für ihr Alter, das reinste Kind noch. Und jetzt war sie gerade getraut worden, war nun vermählt mit Jurgis, von allen Männern mit ihm, Jurgis Rudkus, dem mit der weißen Blume im Knopfloch seines neuen schwarzen Anzugs, dem mit den mächtigen Schultern und riesigen Händen.

Ona war blauäugig und blond, Jurgis dagegen hatte große schwarze Augen mit buschigen Brauen und fülliges schwarzes Haar, das sich um seine Ohren ringelte – kurz, sie gaben eines jener eigentlich unmöglichen Paare ab, durch die Mutter Natur so oft das Sprichwort »Gleich und gleich gesellt sich gern« Lügen straft. Jurgis konnte sich ein Rinderviertel von zweieinhalb Zentnern auf die Schultern heben und es in einen Waggon tragen, ohne unter der Last zu wanken, ja ohne sich dabei besonders anzustrengen. Jetzt aber stand er verängstigt wie ein gehetztes Wild abseits in einer Ecke und mußte sich jedesmal erst mit der Zunge die Lippen befeuchten, ehe er seinen Freunden für ihre Gratulationen danken konnte.

Allmählich ergab sich eine Trennung zwischen Gaffern und Gästen, jedenfalls so weit, daß die Feier ihren Verlauf nehmen konnte. Solange diese dann anhielt, gab es jedoch keine Minute, da in den Türen und Ecken nicht Gruppen von Zuschauern standen, und kam einer davon nahe genug heran oder machte den Eindruck, daß ihm etwas zu essen nottue, bot man ihm einen Stuhl an und lud ihn zum Mithalten ein. Es gehörte zu den Gesetzen der »Veselija«, daß niemand hungrig bleiben dürfe, und wenn eine solche in den Wäldern Litauens entstandene Regel im Schlachthofviertel von Chicago mit seiner Viertelmillion Einwohner auch schwer einzuhalten ist, so tat man doch, was in den Kräften stand, und die von der Straße hereingekommenen Kinder, ja selbst die Hunde, alle liefen sie satter und glücklicher wieder hinaus. Überhaupt herrschte eine bezaubernde Ungezwungenheit. Die Männer behielten die Hüte auf, und jene, die sie doch absetzten, legten die Jacketts gleich mit ab; man aß, wann und wo es einem beliebte, und wechselte den Platz, so oft man Lust dazu hatte. Es würden Tischreden gehalten und Lieder vorgetragen werden, aber keiner war verpflichtet hinzuhören, wenn er nicht mochte; wer unterdessen selber etwas sagen oder singen wollte, dem stand das völlig frei. Das sich daraus ergebende lautliche Durcheinander störte niemanden, außer vielleicht die Säuglinge, wovon so viele da waren, wie die geladenen Gäste insgesamt hatten. Man wußte nicht, wo man sie hätte lassen sollen, und ein Teil der Vorbereitungen für den Abend hatte darin bestanden, in der einen Saalecke eine Anzahl Wiegen und Kinderwagen aufzustellen. Darin lagen die Babies, immer drei oder vier zusammen und je nachdem alle schlafend oder alle wach. Die etwas größeren Sprößlinge, die schon auf die Tische langen konnten, liefen umher und knabberten genüßlich an Fleischknochen und Bolognawürsten.

 


Der Saal mißt etwa zehn Meter im Quadrat, und seine weißgetünchten Wände sind kahl bis auf einen Kalender, ein Bild von einem Rennpferd und einen goldgerahmten Familienstammbaum. In der Ecke rechts von der aus der Kneipe hereinführenden Tür, in der ein paar Zaungäste lehnen, ist eine Theke, der ein Hausgeist in nicht mehr ganz sauberem Weiß und mit gewichstem schwarzen Schnurrbart sowie sorgfältig pomadisierter Schmachtlocke vorsteht. Gegenüber hat man zwei große Tische aufgestellt, die ein Drittel des Raums einnehmen und beladen sind mit Geschirr und mit kalten Speisen, von denen einige besonders hungrige Gäste schon hörbar schmausen. An der Stirnseite, vorm Platz der Braut, ragt ein wahrer Eiffelturm von Hochzeitstorte auf, schneeweiß, mit oben drauf Rosen und zwei Engeln, außerdem über und über mit Zuckerwerk in Gelb, Grün und Rosa verziert. Hinter der Tafel öffnet sich eine Tür zur Küche, wo man einen Blick erhaschen kann auf einen Herd, von dem Dampfwolken aufsteigen, und auf viele Frauen, alte und junge, die hin- und herhuschen. Die Ecke zur Linken wird eingenommen von den drei Musikanten, die sich auf einem kleinen Podium wacker mühen, gegen das Getöse anzudringen, von den ähnlich beschäftigten Babies und von einem offenen Fenster, durch welches das Volk draußen mit Augen, Ohren und Nasen mitfeiert.

Plötzlich schieben sich von dem Wrasen der Küche Schwaden heran, und wenn man durch sie hindurchschaut, erkennt man Teta beziehungsweise Tante Elzbieta, Onas Stiefmutter, die eine große Platte mit geschmorter Ente hereinträgt. Hinter ihr kommt die kleine Kotrina, sich vorsichtig den Weg bahnend, denn sie wankt unter einer gleichen Last, und eine halbe Minute später erscheint Großmutter Majauszkiene mit einer riesigen gelben Schüssel, fast so füllig wie sie selbst, voller dampfender Kartoffeln. So gewinnt das Hochzeitsmahl Stück für Stück Gestalt: Es gibt einen Schinken, Sauerkraut, Reis, Makkaroni, Bolognawürste, ganze Berge von Kranzbrötchen, Krüge Milch und Humpen schäumendes Bier. Und außerdem ist ja noch die Theke da, keine zwei Schritte hinter einem, wo man alles bestellen kann, was man will, ohne bezahlen zu müssen. »Eiksz! Greicziau!« ruft Marija Berczynskas lautstark und langt selber zu – draußen auf dem Herd sei noch mehr, und das verderbe nur, wenn es nicht gegessen wird.

Unter Rufen und Lachen, Scherzworte und Neckereien austauschend, nehmen alle Platz. Die jungen Männer, die sich größtenteils nahe der Tür zusammengedrängt haben, fassen sich ein Herz und kommen heran, und der verschüchterte Jurgis wird von den Alten geschoben und gescholten, bis er sich schließlich zur Rechten der Braut hinsetzt. Die beiden Brautjungfern, deren Insignien Papierkränze sind, schließen sich an und danach die anderen Gäste, jung und alt, Männlein und Weiblein. Die Stimmung des Augenblicks erfaßt auch den vornehmen Büfettier, und er läßt sich herab, einen Teller Entenbraten anzunehmen; selbst der dicke Polizist – mit der Aufgabe, zu vorgerückter Stunde die Raufereien auseinanderzubringen – zieht sich einen Stuhl heran und setzt sich ans Ende der Tafel. Die Kinder schreien, die Säuglinge plärren, und alle schwatzen, lachen und singen, während durch den ohrenbetäubenden Lärm hindurch Kusine Marija der Musik Anweisungen zuröhrt.

Die Musikanten – wie soll man sie nur beschreiben? Sie sind von Anfang an hier und haben sich schon in Schwung gespielt. Diese Szene müßte zu Musik gelesen, besser noch gesungen werden. Erst die Musik macht das Fest zu dem, was es ist, erst die Musik verwandelt dieses Hinterzimmer einer Kneipe im Schlachthofviertel in den Ballsaal eines Schlosses im Märchenland, in ein Fleckchen Himmel auf Erden.

Der kleine Mann, der das Trio leitet, ist beseelt. Die Saiten seiner Geige sind verstimmt, und auf seinem Bogen fehlt das Kolophonium, doch er ist beseelt – ihn hat die Muse geküßt. Er spielt wie besessen von einem Dämon, nein, von einer ganzen Horde Dämonen. Man kann sie in der Luft förmlich spüren, wie sie ihn wild umtanzen; mit ihren unsichtbaren Füßen geben sie das Tempo an, und der Maestro bemüht sich so, mit ihnen Schritt zu halten, daß seine Haare hochwippen und ihm die Augäpfel aus den Höhlen treten.

Tamoszius Kuszleika ist sein Name, und das Geigespielen hat er sich selber beigebracht, durch nächtelanges Üben nach schwerer Tagesarbeit in der Schlachthalle. Er hat keinen Rock an, seine mit goldenen Hufeisen gemusterte Weste ist schon ziemlich verschossen, und sein weiß-rosa-gestreiftes Hemd erinnert an Pfefferminzstangen. Ein Paar Militärhosen, hellblau mit gelben Biesen, soll ihm wohl die einem Kapellmeister gebührende Autorität geben. Obwohl er nur einen Meter fünfzig mißt, ist dieses Beinkleid gut zwei Handbreit zu kurz. Man fragt sich, woher er es haben mag, vielmehr man würde sich das fragen, wäre ihn zu erleben nicht so aufregend, daß einem zu solchen Überlegungen gar keine Zeit bleibt.

Denn Tamoszius ist beseelt, durch und durch beseelt – jede Faser von ihm einzeln, könnte man fast sagen. Er stampft mit den Füßen, wirft den Kopf zurück, wippt und wiegt hin und her; sein faltiges kleines Gesicht ist unwiderstehlich komisch, und wenn er eine Kadenz oder einen Triller ausführt, ziehen sich seine Brauen zusammen, flattern seine Lippen, zucken seine Lider, ja spreizen sich sogar die Enden seines Querbinders. Zwischendurch dreht er sich immer wieder zu seinen Mitspielern um, nickt, winkt, gestikuliert ihnen zu – sein ganzer Körper beschwört und appelliert im Namen der Kunst.

Sie sind seiner nämlich wenig würdig, die beiden anderen Mitglieder der Kapelle. Die zweite Geige spielt ein Slowake, ein großer hagerer Mann mit schwarzgeränderter Brille und dem stumpfen, geduldigen Blick eines geschundenen Maultiers; er reagiert nur lahm auf die Peitsche, fällt immer wieder in seinen alten Trott zurück. Der Dritte im Bunde, ein Dicker mit roter, wie entzündet aussehender Knollennase, spielt mit schmachtvoll gen Himmel verdrehten Augen. Mit seinem Cello hat er den Baßpart, und so berührt ihn die ganze Aufregung nicht; was sich in den Oberstimmen auch tun mag, er hat nur die Aufgabe, einen langgezogenen und schwermütigen Ton nach dem andern herunterzusägen, und das – für sein Drittel an der Gesamtgage von einem Dollar pro Stunde – von heute nachmittag vier Uhr bis fast zur gleichen Stunde morgen früh.

Das Festmahl ist noch keine fünf Minuten im Gang, da hat sich Tamoszius schon so in Ekstase gespielt, daß er aufsteht; ein, zwei Minuten weiter, und man sieht ihn sich langsam in Richtung Tische vorschieben. Seine Nasenflügel beben, sein Atem geht schnell – die Dämonen treiben ihn. Mit dem Kopf und mit seiner Geige macht er den beiden Kollegen Zeichen, bis sich endlich die lange Gestalt des zweiten Geigers ebenfalls erhebt. So rücken sie dann alle drei Schritt für Schritt auf die Tafelnden zu, wobei Valentinavyczia, der Cellist, sein Instrument jeweils zwischen zwei Tönen ein Stückchen weiter schleift. Schließlich ist das Trio am unteren Ende der Tische versammelt, und Tamoszius steigt dort auf einen Hocker.

Jetzt ist er ganz in seinem Element, beherrscht die Szene. Einige Leute essen, andere plaudern und lachen, aber es wäre weit gefehlt zu glauben, daß auch nur einer von ihnen nicht zuhöre. Tamoszius’ Töne sind nie ganz rein, denn bei den tiefen dröhnt seine Geige, während sie bei den hohen kratzt und quietscht, doch stört das alle ebensowenig wie der Lärm, der Schmutz und die Schäbigkeit ringsum; das ist das Material, aus dem sie ihr Leben schmieden – und mit dem sie auch ihre innersten Gefühle äußern müssen. Und dies hier ist deren Ausdruck; fröhlich und ausgelassen, traurig und wehmütig oder leidenschaftlich und aufrüttelnd, ist diese Musik ihre Musik, die Musik der Heimat. Sie streckt ihnen die Arme entgegen, sie brauchen sich ihr nur hinzugeben. Chicago, seine Kneipen und Elendsquartiere verblassen, grüne Wiesen und im Sonnenlicht glitzernde Flüsse tauchen auf, endlose Wälder und schneebedeckte Hügel. Heimatliche Landschaften und Bilder aus der Kindheit ziehen herauf; alte Freundschaften und Lieben erwachen, Freud und Leid von einst macht wieder lachen und weinen. Manche lehnen sich gedankenverloren zurück und schließen die Augen, andere trommeln auf der Tischplatte den Takt mit. Ab und an steht einer auf und wünscht ein bestimmtes Lied zu hören. Dann leuchtet das Feuer in Tamoszius’ Augen heller auf, er reißt die Geige hoch, ruft seinen Kollegen etwas zu, und schon legen die drei wie um die Wette los. Den Kehrreim singen alle mit, die Frauen nicht weniger laut als die Männer; einige springen auf die Füße und stampfen auf den Boden, heben ihre Gläser und prosten einander zu. Bald fällt irgendwem ein altes Hochzeitslied ein, das die Schönheit der Braut und die Freuden der Liebe besingt, und er verlangt, daß es gespielt werde. In der Ekstase dieses Meisterstücks beginnt Tamoszius, sich zwischen den beiden Tischen hindurchzuschieben, vor zum Platz der Braut. Zwischen den Stuhllehnen bleiben kaum zwei Handbreit Raum, und Tamoszius ist so klein, daß er jedesmal, wenn er einen weiter unten liegenden Ton streicht, jemanden mit seinem Bogen piekt, aber nichtsdestoweniger zwängt er sich dazwischen und beharrt schonungslos darauf, daß die beiden anderen ihm folgen; überflüssig zu sagen, daß während dieses Vorrückens die Klänge des Cellos fast untergehen. Schließlich langen die drei oben an, wo sich Tamoszius dann rechts neben der Braut aufbaut und anfängt, in schmelzenden Tönen seine Seele auszuschütten.

Die kleine Ona ist zu aufgeregt, um etwas essen zu können. Hin und wieder kostet sie ein Häppchen, wenn Kusine Marija sie durch Zwicken in den Ellbogen dazu ermahnt, meist aber sitzt sie nur da, mit immer gleichem Blick, einer Mischung aus Schüchternheit und Staunen. Teta Elzbieta umschwirrt sie wie ein Kolibri, und auch ihre Freundinnen flattern in einem fort hinter ihr herum und tuscheln ihr atemlos etwas zu. Doch Ona scheint sie kaum zu hören – die Musik lockt und lockt, und in ihre Augen tritt wieder der entrückte Ausdruck, während sie beide Hände ans Herz preßt. Nicht lange, und es kommen ihr Tränen, und weil sie sich geniert, sie wegzuwischen, es ihr aber genauso peinlich ist, sie die Wangen hinunterlaufen zu lassen, wendet sie sich mit leichtem Kopfschütteln ab. Sie merkt dabei, daß Jurgis sie beobachtet, und läuft rot an. Als Tamoszius schließlich bei ihr angelangt ist und seinen Zauberstab über ihr schwingt, sind Onas Wangen purpurfarben, und sie sieht aus, als müsse sie gleich aufstehen und hinausstürzen.

Aus dieser Bedrängnis rettet sie jedoch Marija Berczynskas, die plötzlich ebenfalls von der Muse geküßt worden ist. Sie mag ein Lied besonders, ein Lied vom Abschied zweier Liebender; sie möchte es gern hören, und da die Musikanten es nicht kennen, hat sie sich erhoben und macht sich daran, es ihnen vorzusingen. Marija ist klein, aber von kräftiger Statur; in der Konservenfabrik, wo sie arbeitet, hantiert sie den ganzen Tag zehn Pfund schwere Fleischbüchsen. Sie hat ein breites slawisches Gesicht mit ausgeprägten Jochbeinen und roten Wangen. Wenn sie die Zähne entblößt, kann man, so tragisch es auch ist, nicht umhin, an ein Pferd zu denken. Sie trägt eine blaue Flanellbluse, deren Ärmel jetzt aufgerollt sind und ihre starken Arme zeigen. In der Hand hält sie eine Tranchiergabel, und mit der schlägt sie auf den Tisch, um den Takt anzugeben. Sie grölt ihr Lied mit einer Stimme, von der zu sagen genüge, daß sie den ganzen Saal füllt, und die drei Musikanten folgen ihr mühselig Ton um Ton, wobei sie aber meist immer um einen hinterherhinken. So mühen sie sich Strophe auf Strophe durch eines liebeskranken Jünglings wehmutsvolles Scheidelied:

 

Sudiev’ kvietkeli, tu brangiausis;

Sudiev’ ir laime, man biednam,

Matau – paskyre taip Aukszcziausis,

Jog vargt ant svieto reik vienam!

 


Nach dem Lied ist es Zeit für die Rede, und es erhebt sich Dede oder Onkel Antanas, der Vater von Jurgis. Obwohl nicht älter als sechzig, wirkt er wie ein Achtzigjähriger. Er lebt noch kein halbes Jahr in Amerika, und die Verpflanzung ist ihm nicht gut bekommen. In seinen Mannesjahren hatte er in einer Baumwollspinnerei gearbeitet, doch dann begann er zu husten und mußte aufhören; draußen auf dem Lande gab sich das Leiden wieder, aber hier arbeitet er bei Durham im Pökelkeller, und die kalte, feuchte Luft, die er dort von morgens bis abends atmet, hat es wiederkommen lassen. Auch jetzt beim Aufstehen schüttelt ihn ein Husten, und er hält sich am Stuhl fest und dreht sein blasses, eingefallenes Gesicht weg, bis der Anfall vorüber ist.

Normalerweise nimmt man die Veselija-Rede aus einem Buch und lernt sie auswendig. Dede Antanas aber hatte in seiner Jugend einiges gelesen, ja sogar die Liebesbriefe für seine Freunde aufgesetzt, und man merkt, daß er seine Ansprache selber verfaßt, sich die darin enthaltenen Glück– und Segenswünsche allein ausgedacht hat. Dies ist einer der Höhepunkte des Tages. Selbst die kleinen Jungen, die im Saal umhertollen, kommen näher und hören zu, und einige der Frauen schluchzen und wischen sich mit der Schürze die Augen. Es ist sehr zu Herzen gehend, denn Dede Antanas gibt seiner Überzeugung Ausdruck, daß es ihm nicht mehr lange vergönnt sein werde, unter seinen Kindern zu weilen. Seine Worte machen alle so betrübt, daß einer der Gäste, Jokubas Szedvilas, der in der Halsted Street einen Feinkost- und Imbißladen betreibt, kugelrund ist und wie das blühende Leben aussieht, sich bemüßigt fühlt, aufzustehen und zu sagen, so schlimm stehe es ja wohl doch nicht. Und anschließend hält er selbst eine kleine Rede, in der er Braut und Bräutigam überschüttet mit guten Wünschen und Prophezeiungen ehelichen Glücks, von welchem er dann Details anführt, die die jungen Männer sehr ergötzen, Ona aber heftiger denn je erröten lassen. Jokubas hat, was seine Frau wohlgefällig als »poetiszka vaidintuve« bezeichnet – poetische Phantasie.

Viele der Gäste sind jetzt mit dem Essen fertig, und da nicht auf Etikette gemacht wird, hebt sich die Tafel langsam von allein auf. Einige von den Männern versammeln sich an der Theke, andere schlendern umher, lachen und singen; hier und da stimmt ein Grüppchen ein Lied an, gänzlich unbekümmert um den Gesang der anderen, und auch ohne sich durch die Kapelle stören zu lassen. Alle sind mehr oder weniger unruhig, als stehe gleich etwas bevor. Und richtig: Den letzten säumigen Essern wird kaum Zeit gelassen, ihre Teller zu leeren, als man auch schon die Tische mitsamt den Speiseresten in die Ecke schiebt, die Stühle übereinanderstellt und ebenso die Babies aus dem Weg räumt, denn nun geht erst das richtige Feiern los. Tamoszius Kuszleika kehrt, nachdem er sich mit einem Bier erfrischt hat, auf sein Podium zurück, stellt sich aufgerichtet hin und läßt den Blick prüfend in die Runde gehen; gebieterisch klopft er auf seine Fiedel, klemmt sie dann sorgsam unters Kinn, schwenkt den Bogen mit kunstvollem Schlenker durch die Luft, bringt endlich die Saiten zum Klingen, schließt die Lider und schwebt auf den Flügeln eines verträumten Walzers dahin. Der zweite Geiger fällt mit ein, jedoch offenen Auges, sozusagen aufpassend, wohin der Weg führt, und schließlich schlägt Valentinavyczia, nachdem er etwas gewartet und sich mit dem Fuß in den Takt geklopft hat, die Augen zur Decke empor und beginnt dröhnend zu sägen: »Schrum! Schrum! Schrum!«

Die Gesellschaft teilt sich rasch in Paare auf, und bald ist der ganze Saal in Bewegung. Richtig Walzer tanzen kann offenbar niemand, aber das macht gar nichts – man hat Musik, und man tanzt, jeder, wie es ihm Spaß macht, genau wie vorher beim Singen. Die meisten bevorzugen den »Twostep«, besonders die Jungen, denn er ist gerade Mode. Die Älteren bleiben bei den heimatlichen Tänzen, seltsamen und komplizierten Schritten, die sie mit viel Feierlichkeit ausführen. Manche tanzen überhaupt nichts Bestimmtes, sondern fassen sich einfach bei den Händen und überlassen ihren Füßen den Ausdruck ungezügelter Freude an der Bewegung. So machen es auch Jokubas Szedvilas und seine Frau Lucija, die beide in ihrem Laden fast ebensoviel selber verzehren, wie sie verkaufen. Zum Tanzen zu dick, stehen sie in der Mitte des Parketts, halten einander fest in den Armen und wiegen selig lächelnd langsam hin und her, ein Bild unwilder und dennoch schweißtriefender Ekstase.

Bei vielen dieser älteren Jahrgänge erinnern Einzelheiten ihrer Kleidung an die Heimat: bestickte Westen oder Mieder, ein farbenfrohes Halstuch, ein Rock mit breiten Ärmelaufschlägen und Trachtenknöpfen. All dergleichen wird von den Jungen peinlich gemieden; die meisten haben Englisch gelernt und gehen nach der Mode. Die Mädchen tragen Kleider oder Blusen von der Stange, und einige sehen recht schmuck aus. Manche der jungen Männer könnte man, würden sie nicht im Raum den Hut aufbehalten, glatt für Amerikaner halten, Handlungsgehilfen etwa. Jedes dieser jungen Paare hat seinen eigenen Tanzstil. Die einen schmiegen sich aneinander, andere achten betont auf Abstand. Sie strecken die Arme steif aus oder lassen sie locker hängen. Manche hüpfen wie auf Sprungfedern, andere schweben sanft dahin, wieder andere schreiten eigentlich nur. Es gibt stürmische Paare, die wild durch den Saal fegen und dabei alle aus dem Weg stoßen, und es gibt unsichere Paare, denen das angst macht und die ihnen, wenn sie vorbeirauschen, »Nustok! Kas yra?« zurufen. Die jeweiligen Partner bleiben immer zusammen – nie sieht man sie wechseln. Da ist zum Beispiel Alena Jasaityte, die endlose Stunden mit ihrem Verlobten Juozas Raczius tanzt. Alena ist die Schönheit des Abends, und schön wäre sie in der Tat, gäbe sie sich nicht so stolz. Die weiße Bluse, die sie anhat, dürfte einen halben Wochenlohn gekostet haben; Alena arbeitet als Büchsenlackiererin. Beim Tanzen hält sie vornehm mit der Hand den Rock, akkurat so wie die feinen Damen. Juozas fährt bei Durham einen Rollwagen und verdient gutes Geld; mit schrägsitzendem Hut und ständig einer Zigarette im Mundwinkel macht er auf »verwegen«. Dann ist da Jadvyga Marcinkus, ebenfalls schön, jedoch bescheiden. Jadvyga lackiert wie Alena Büchsen, aber da sie für eine kranke Mutter und drei kleine Schwestern sorgen muß, setzt sie ihren Lohn nicht in Blusen um. Sie ist klein und zierlich, und ihre Augen sind so pechschwarz wie ihre Haare, die sie oben auf dem Kopf zu einem Knoten aufgesteckt hat. Ihr weißes Kleid ist alles andere als neu. Sie hat es selber genäht und trägt es schon seit fünf Jahren zu allen Festen; die Taille sitzt zu hoch, fast unter den Armgruben, und es ist auch sonst nicht sehr vorteilhaft für sie. All das stört Jadvyga jedoch wenig – denn sie tanzt mit ihrem Mykolas. Der ist groß und stark; sie schmiegt sich in seine Arme, wie um sich vor den Blicken zu verbergen, und lehnt den Kopf an seine Schulter. Er dagegen hat die Arme fest um sie gelegt, als wolle er sie forttragen. Und so tanzt sie, wird den ganzen Abend, ja würde ewig so weitertanzen, verzückt vor Glückseligkeit. Wer die beiden sieht, dem mag ein Lächeln ankommen, wer aber ihre Geschichte kennt, der lächelt nicht. Fünf Jahre sind sie nun bereits verlobt, und Jadvyga ist das Herz schon ganz schwer. Sie hätten längst geheiratet, doch Mykolas hat einen Vater, der den lieben langen Tag trinkt, und in seiner großen Familie ist er der einzige andere Mann. Trotzdem würden sie es wohl möglich gemacht haben – immerhin ist Mykolas Facharbeiter aber er hatte ein paar schlimme Unfälle, die ihnen allen Mut nahmen. Er ist Ausbeiner, und das ist ein gefährlicher Beruf, zumal wenn man Akkord arbeitet und Geld zum Heiraten zusammenbringen will. Die Hände sind glitschig, und das Messer ist glitschig, man schuftet im Irrsinnstempo, und spricht einen dann plötzlich jemand an oder stößt man gegen einen Knochen, rutscht die Hand auf die Klinge, und man schneidet sich furchtbar. Die Wunde selbst, so klaffend sie auch sein mag, wäre nicht so schlimm; sie kann heilen, allein es besteht immer die Gefahr einer Infektion, und da weiß man nie. Zweimal hat Mykolas innerhalb der letzten drei Jahre nun schon mit Blutvergiftung zu Hause gelegen, einmal drei und einmal bald sieben Monate. Beim zweiten Mal verlor er auch noch seine Stelle, und das bedeutete weitere sechs Wochen ohne Verdienst, mit täglichem Anstehen vor den Konservenfabriken, früh um sechs, bei bitterer Kälte und in fußhohem Schnee. Kluge Leute können einem an Hand von Statistiken beweisen, daß ein Ausbeiner auf vierzig Cent die Stunde kommt, aber wahrscheinlich haben sie noch nie eines Ausbeiners Handflächen gesehen.

Wenn Tamoszius und seine Mannen mal notgedrungen Pause machen, bleiben die Tanzenden stehen, wo sie gerade sind, und warten geduldig. Zu ermüden scheinen sie nie, und außerdem wäre auch gar kein Platz da, wo sie sich hinsetzen könnten. Es ist ja ohnehin nur für eine Minute, denn schon fängt der Kapellmeister wieder an, ungeachtet aller Proteste der beiden Kollegen. Diesmal ist es ein anderer, ein litauischer Tanz. Einige bleiben bei ihrem geliebten Twostep, die meisten aber gehen eine verwickelte Folge von Bewegungen durch, die mehr an Schlittschuhlaufen als an Tanzen erinnern. Das Ganze gipfelt in einem rasenden Prestissimo, bei dem sich die Paare an den Händen fassen und sich wie wild zu drehen beginnen. Das ist so mitreißend, daß sich alle anschließen, bis der ganze Saal zu einem einzigen Wirbel von Röcken und Leibern wird, überaus verwirrend anzuschauen. Den Anblick aller Anblicke aber bietet jetzt Tamoszius Kuszleika. Die alte Fiedel krächzt und kreischt um Erbarmen, doch ihr Herr hat kein Mitleid. Auf seiner Stirn perlt Schweiß, er beugt sich vor gleich einem Radrennfahrer im Endspurt, sein Körper vibriert und rüttelt wie eine durchgegangene Dampflok. Dem Hagelschauer seiner Töne vermag das Ohr gar nicht mehr zu folgen, und das hetzende Hin und Her seines Arms nimmt das Auge nur verschwommen als bläulichen Nebel wahr. In grandioser Steigerung kommt er schließlich zum Ende des Stücks, wirft die Hände empor und taumelt erschöpft zurück. Mit einem letzten Ausruf der Begeisterung fliegen die Tänzer auseinander, wanken hierhin und dorthin und kommen erst an den Wänden des Saals zum Stehen.

Danach gibt es Bier für alle, auch für die Musikanten. Die Ausgepumpten atmen tief durch und sammeln Kraft für das große Ereignis des Abends, den »Acziavimas«. Das ist eine Zeremonie, die, hat sie erst einmal angefangen, gut und gern drei, vier Stunden dauert und aus einem ununterbrochenen Tanz besteht. Die Gäste bilden einen großen Ring, fassen sich an den Händen, und wenn die Musik einsetzt, beginnen sie sich im Kreis zu bewegen. In der Mitte steht die Braut, und einer nach dem andern treten die Männer vor und tanzen mit ihr – jeder so lange er mag. Es geht dabei sehr lustig zu, mit Lachen und Singen, und hat der Gast zu Ende getanzt, sieht er sich Teta Elzbieta gegenüber, die ihm einen Hut hinhält. In den wirft er dann Geld hinein: einen Dollar, vielleicht auch fünf, was gerade in seinen Kräften steht und wieviel ihm die Ehre wert ist. Es wird von den Gästen erwartet, daß sie für dieses Vergnügen zahlen; anständige Gäste sorgen dafür, daß nach Abzug der Ausgaben eine hübsche Summe als Starthilfe für das junge Paar übrigbleibt.

Was diese Feier kostet – bei dem Gedanken daran kann einem himmelangst werden. Sicher über zweihundert Dollar, wenn nicht gar dreihundert, und dreihundert Dollar, das ist mehr, als so mancher hier im Saal das ganze Jahr verdient. Es sind kräftige Männer darunter, die von frühmorgens bis spätabends schwer arbeiten, in eiskalten Kellern, wo zollhoch Wasser steht, Männer, die sechs, sieben Monate im Jahr vom Sonntagnachmittag bis zum nächsten Sonntagmorgen nie die Sonne zu sehen kriegen, und die dennoch auf keine dreihundert Dollar kommen. Es sind Kinder hier, kaum älter als zehn, die gerade auf die Arbeitstische hinaufsehen können – die Eltern haben ihr Alter falsch angegeben, um ihnen die Stellen zu verschaffen –, und die im Jahr nicht die Hälfte, ja vielleicht nicht einmal ein Drittel dieser dreihundert Dollar nach Hause bringen. Und dann an einem einzigen Tag seines Lebens eine solche Summe auszugeben, nur für eine Hochzeitsfeier! (Denn ob man sie nun auf einen Schlag für die eigene Hochzeit ausgibt oder nach und nach für die Hochzeiten all seiner Freunde, läuft letzten Endes aufs selbe hinaus.)

Gewiß, es ist eine große Torheit, ja eine Tragik – aber doch so schön! Einen heimatlichen Brauch nach dem andern haben diese armen Leute aufgegeben, an diesen einen jedoch klammern sie sich mit aller Kraft ihrer Seele. Nein, auf die Veselija können sie nicht verzichten! Denn das hieße nicht nur geschlagen werden, sondern sich auch geschlagen geben – und dieser feine Unterschied hält ja die Welt in Gang. Die Veselija ist ihnen aus uralten Zeiten überkommen, und sie hat den Sinn, einem deutlich zu machen, daß es sich aushalten lasse, in einer Höhle zu hausen und ins Dunkel zu starren, wenn man einmal im Leben hat seine Fesseln sprengen, seine Schwingen spüren und die Sonne sehen können, wenn man einmal im Leben erkennt, daß das Dasein mit all seinen Sorgen und Ängsten gar nichts so Gewaltiges ist, sondern bloß eine Luftblase auf dem Wasser eines Stromes, etwas, das man durch die Luft tanzen lassen kann wie ein Jongleur seine goldenen Bälle, etwas, das man in vollen Zügen genießen darf wie einen Kelch erlesenen Wein. Hat man sich so als Herr der Dinge erfahren, kann man zurückkehren in die Tretmühle und ein Leben lang von der Erinnerung zehren.

 


Unaufhörlich drehten sich die Tanzenden im Reigen – wurde ihnen schwindlig, drehten sie sich anders herum. Viele Stunden hielt das nun schon an; es war längst dunkel geworden, und der Saal wurde durch zwei rußende Petroleumlampen spärlich erhellt. Der Musikanten feuriger Elan war mittlerweile verpufft; abgemattet spielten sie bloß immer noch ein und dieselbe Melodie. Sie bestand aus etwa zwanzig Takten, und hatten sie die heruntergestrichen, begannen sie wieder von vorn. Alle zehn Minuten oder so vergaßen sie das Neuanfangen und sanken erschöpft zurück, worauf es unweigerlich zu einer heftigen und beängstigenden Szene kam, die den auf seinem Stuhl hinter der Tür eingenickten Polizisten erschreckt hochfahren ließ.

Es war jedesmal Marija Berczynskas. Marija gehörte zu jenen nimmersatten Seelen, die die entschwindende Muse krampfhaft am Rockzipfel festzuhalten suchen. Die wundervolle Hochstimmung, die sie den ganzen Tag erfüllt hatte, begann jetzt zu weichen, und Marija wollte sie partout nicht gehen lassen. Ihr Herz rief mit den Worten Fausts: »Verweile doch, du bist so schön!« Sie mußte sie aufhalten, um jeden Preis, ob nun mit Bier oder durch Geschrei, Musik und Tanz. So jagte sie ihr stets von neuem nach. Aber sobald sie nur halbwegs in Fahrt geriet, drosselten ihr diese schlafmützigen Musikanten auch schon den Dampf. Da stimmte Marija jedesmal ein Gebrüll an, stürzte zu ihnen hin, drohte, Zornesröte im Gesicht, mit den Fäusten und stampfte auf. Vergebens suchte der verschreckte Tamoszius sich mit dem Hinweis auf die Schwäche des Fleisches zu verteidigen, vergebens plädierte der atemlos keuchende Ponas Jokubas, vergebens flehte Teta Elzbieta. »Szalin!« belferte Marija. »Palauk! Isz kelio! Wofür werdet ihr bezahlt, ihr Trantüten?« Da hub die Kapelle aus purer Angst wieder an, und Marija kehrte zum Weitermachen an ihren Platz zurück.

Allein sie hielt den Acziavimas jetzt noch in Gang. Ona wurde durch ihre Erregung am Ermatten gehindert, die anderen Frauen aber waren alle müde, und die meisten Männer ebenfalls, nur Marija lief noch auf vollen Touren. Sie trieb die Tanzenden an – der Kreis hatte sich inzwischen zu einer Birne verformt mit Marija als Stiel; sie zog in die eine Richtung und schob in die andere, schrie, stampfte und sang, ein wahrer Vulkan von Energie. Ab und an wehte von draußen kühle Nachtluft herein, weil jemand beim Reinkommen oder Rausgehen die Tür offengelassen hatte, und Marija knallte sie dann wieder zu, indem sie ihr im Vorbeitanzen einen Fußtritt versetzte. Einmal führte das zu einer Karambolage, deren unglückliches Opfer der kleine Sebastijonas Szedvilas wurde. Blind gegen alles ringsum, war der Dreijährige umhergelaufen, denn er hatte eine Flasche jener als »Brause« bekannten himbeerroten, eiskalten und köstlichen Flüssigkeit vorm Mund. Als er über die Schwelle kam, traf ihn die zuschlagende Tür mit voller Wucht, und das Gebrüll, in das er daraufhin ausbrach, ließ das Tanzen abrupt zum Stillstand kommen. Marija, die zwar hundertmal am Tag schreckliche Morddrohungen ausstieß, aber keiner Fliege ein Leid antun konnte, riß Sebastijonas in ihre Arme und begann, ihn unter Küssen zu ersticken. Das brachte der Kapelle eine lange Ruhepause und viel zu trinken ein, während Marija ihr Opfer versöhnte, indem sie es auf die Theke setzte, sich daneben stellte, dem Kleinen ein Stangenglas Bier an die Lippen hielt und ihn vom Schaum nippen ließ.

Währenddessen fand in einer anderen Ecke eine besorgte Besprechung zwischen Teta Elzbieta, Dede Antanas und ein paar engen Freunden der Familie statt. Es zeichnete sich Verdruß ab. Die Veselija ist zwar nur eine stillschweigende, nirgendwo festgelegte Übereinkunft, aber gerade deshalb um so verbindlicher für alle. Wenn auch eines jeden Zuschuß verschieden war, so kannte doch der einzelne den von ihm erwarteten Beitrag und strengte sich an, sogar ein bißchen mehr zu geben. Jetzt aber, seit sie in dem neuen Land waren, änderte sich das alles; es schien, als atme man hier mit der Luft ein schleichendes Gift ein – dem vor allem sämtliche jungen Männer erlagen. Sie kamen in Scharen, schlugen sich den Bauch mit gutem Essen voll und machten sich hinterher einfach aus dem Staub. Beispielsweise warf einer den Hut eines anderen zum Fenster hinaus, und dann gingen beide raus, ihn zu holen – und wurden nie wiedergesehen. Oder es rottete sich ein halbes Dutzend zusammen und marschierte ganz offen aus dem Saal, wobei sie dich ungeniert anschauten und sich lustig machten. Wieder andere, und das war noch schlimmer, hielten sich immer nur an der Theke auf, tranken sich auf Kosten des Gastgebers voll, kümmerten sich nicht im geringsten um die anderen und ließen sie in dem Glauben, daß sie schon mit der Braut getanzt hätten oder das später noch tun wollten.

All so was geschah jetzt, und die Familie nahm es bestürzt, aber hilflos wahr. So lange hatten sie sich abgeplagt und solche Auslagen gehabt! Ona stand dabei, die Augen vor Furcht geweitet. Diese schrecklichen Rechnungen – wie hatten sie sie verfolgt, von morgens bis abends an ihrer Seele genagt, sie nachts nicht schlafen lassen! Wie oft war sie auf dem Weg zur Arbeit die einzelnen Posten durchgegangen: fünfzehn Dollar für den Saal, zweiundzwanzig Dollar fündundzwanzig Cent für die Enten, zwölf Dollar für die Musik, fünf Dollar für die Kirche, außerdem noch eine Gabe für den Segen der Heiligen Jungfrau – und so weiter ohne Ende! Die schlimmste Rechnung stand noch aus, nämlich die von Graiczunas für Bier und Schnaps. Auf mehr als eine Schätzung ließ sich ein Wirt vorher nie ein – um dann hinterher anzukommen, sich am Kopf zu kratzen und zu sagen, es sei doch mehr geworden, denn die Gäste hätten ja getrunken wie die Löcher. Bei ihm durfte man gewiß sein, erbarmungslos übers Ohr gehauen zu werden, selbst wenn man sich einbildete, zu seinen besten Freunden zu gehören. Die ersten Biere zapfte er aus einem schon halb leeren Faß und die letzten aus einem noch halb vollen, in Rechnung aber setzte er zwei ganze Fässer. Er hatte sich zwar verpflichtet, eine bestimmte Qualität zu einem bestimmten Preis auszuschenken, doch was man mit seinen Gästen eingegossen bekam, waren ein unbeschreibliches Gebräu und irgendwelcher Fusel. Freilich konnte man sich beschweren, doch würde das nichts weiter eingebracht haben als einen verdorbenen Abend, und zur Polizei oder gar vor Gericht gehen – da hätte man sich genausogut gleich an den Himmel wenden können. Der Kneipier stand mit allen Verwaltungsbonzen seines Stadtbezirks auf gutem Fuß, und wer einmal erfahren hatte, was es hieß, sich mit solchen Leuten anzulegen, der war klug genug, zu zahlen, was verlangt wurde, und keine Widerworte zu machen. Das alles war um so schlimmer, weil die Zuschüsse der wenigen, die wirklich ihr Bestes getan hatten, für diese ein echtes Opfer darstellten. Zum Beispiel der arme Ponas Jokubas. Von ihm waren schon vorher fünf Dollar gegeben worden – und wußte nicht jeder, daß Mr. Szedvilas erst vor kurzem auf seinen Laden zweihundert Dollar Hypothek hatte aufnehmen müssen, um die seit Monaten anstehende Miete begleichen zu können? Und dann die verhutzelte Ponia Aniele, die Witwe war mit drei kleinen Kindern und außerdem schwer an Rheuma litt; sie arbeitete als Waschfrau bei Geschäftsleuten in der Halsted Street – zu einem Lohn, den zu hören einem das Herz brechen würde. Aniele Jukniene hatte die gesamten Einnahmen mehrerer Monate aus dem Verkauf der Eier ihrer acht Hühner beigesteuert. Sie hielt die Tiere in einem kleinen Verschlag hinten an ihrem Haus, und den ganzen Tag lang stöberten ihre Kinder auf der Müllkippe nach Futter für diese Hühner. Manchmal, wenn die Konkurrenz dort zu stark war, sah man sie auch in der Halsted Street, wo sie suchend am Rinnstein entlanggingen, mit hinter sich ihrer Mutter, die aufpaßte, daß ihnen niemand ihre Funde raubte. In Geld ließ sich der Wert dieser Hühner für die arme Mrs. Jukniene nicht ausdrücken. Für sie bedeuteten sie mehr, denn sie verliehen ihr das Gefühl, durch sie etwas umsonst zu bekommen – durch sie der Welt, von der sie sonst immer nur übervorteilt wurde, ein Schnippchen zu schlagen. Deshalb ließ sie die Tiere tagsüber nie aus den Augen, und sie hatte gelernt, bei Nacht wie eine Eule zu sehen, um sie auch dann bewachen zu können. Vor längerer Zeit war ihr eines gestohlen worden, und es verging kein Monat, da nicht wer versuchte, ein weiteres zu stehlen. Das gerade jetzt zu verhindern war mit zig blinden Alarmen und viel Aufregung verbunden gewesen, und so läßt sich ermessen, welches Opfer Mrs. Jukniene brachte, nur weil Teta Elzbieta ihr einmal für ein paar Tage etwas Geld geliehen und sie davor bewahrt hatte, aus ihren vier Wänden hinausgesetzt zu werden.

Während der Klagen über diese Dinge kamen immer mehr Freunde und Bekannte hinzu. In der Hoffnung, das Gespräch mit anzuhören, traten sogar einige näher, die selber zu den Schuldigen gehörten – unverfrorener ging’s wahrlich nicht mehr. Schließlich holte jemand auch Jurgis herbei, und man erzählte ihm die Sache. Jurgis hörte schweigend zu, runzelte nur die großen schwarzen Brauen. Ab und zu funkelte es darunter auf, und er warf grimmige Blicke durch den Saal. Vielleicht wäre er gern mit seinen geballten Riesenfäusten auf ein paar dieser Schmarotzer losgegangen, doch dann machte er sich wohl klar, wie wenig ihm das nützen würde. Jetzt noch jemanden hinauszuwerfen ließe keine Rechnung geringer werden, sondern gäbe bloß einen Skandal, und Jurgis wünschte nichts weiter, als mit Ona zu verschwinden und die Welt Welt sein zu lassen. Also entspannten sich seine Hände wieder, und er erklärte ruhig: »Es ist nun mal geschehen, und da hilft kein Weinen, Teta Elzbieta.« Dann fiel sein Blick auf Ona, die dicht neben ihm stand, und er sah ihre angstgroßen Augen. »Kleines«, sagte er leise, »mach dir keine Sorgen – das hier soll uns nicht verdrießen. Irgendwie bringen wir das Geld schon zusammen. Ich werde eben mehr arbeiten!« Das sagte Jurgis immer. Ona hatte sich schon daran gewöhnt als an den Ausweg aus allen Schwierigkeiten – »Ich werde eben mehr arbeiten!« Das waren bereits in Litauen seine Worte gewesen, nachdem ein Gendarm ihm seinen Paß abgenommen und ein zweiter ihn verhaftet hatte, weil er keinen bei sich trug, und er von diesem, der mit dem ersten unter einer Decke steckte, um ein Drittel seiner gesamten Barschaft erleichtert worden war. Er hatte das auch in New York gesagt, als der redegewandte Hotelschlepper, dem sie in die Hände gefallen waren, ihnen so horrende Zimmerpreise abverlangt hatte und sie dann trotz Bezahlung beinahe nicht hätte gehen lassen. Jetzt sagte Jurgis es zum dritten Mal, und Ona atmete erleichtert auf. Es war so wunderbar, einen Mann zu haben, richtig wie eine erwachsene Frau – noch dazu einen, der mit allen Problemen fertig wurde und der so groß und stark war! Der letzte Schluchzer des kleinen Sebastijonas ist gestillt und die Kapelle wieder an ihre Pflicht erinnert worden. Der Acziavimas setzt von neuem ein, aber da nur noch wenige zum Tanzen mit der Braut übrig sind, ist man mit der Kollekte sehr bald durch, und es wird wieder zu normalem Paartanzen übergegangen. Die Uhr zeigt jedoch schon nach Mitternacht, und es ist nicht mehr so wie zuvor: Die Tanzenden sind satt und träge – die meisten haben eine Menge getrunken, und ihre Beschwingtheit ist längst verflogen. Sie bewegen sich in monotonem Rhythmus, Tanz um Tanz, Stunde um Stunde, mit stierer werdenden Augen und wie nur noch halb bei Bewußtsein. So fest die Männer die Frauen auch an sich gedrückt haben, nehmen die Partner eine halbe Stunde lang einer nicht des anderen Gesicht wahr. Einige Paare mögen nicht mehr tanzen und haben sich in die Ecken zurückgezogen, sitzen dort Arm in Arm. Jene, die noch mehr getrunken haben, torkeln durch den Saal und stoßen überall an; andere stehen zu zweien oder dreien zusammen und singen, jede Gruppe ihr eigenes Lied. Mit fortschreitender Zeit zeigen sich die verschiedensten Rauschstadien, besonders bei den jungen Männern. Manche wanken einander unterhakend oder umarmend einher und lallen sentimentales Zeug – andere fangen beim geringsten Anlaß Streit an und werden handgemein, so daß es nötig wird, dazwischenzugehen. Der dicke Ordnungshüter erlaubt sich jetzt kein Nickerchen mehr; wiederholt befühlt er seinen Knüppel, ob er auch griffbereit hängt. Er muß auf dem Sprung sein, muß blitzschnell reagieren, denn diese Schlägereien nachts um zwei sind, einmal außer Kontrolle geraten, wie ein Waldbrand und können den Einsatz der gesamten Mannschaft von der Wache notwendig machen. Man muß jedem Kampfhahn, den man sieht, sofort eins über den Kopf ziehen, ehe es so viele werden, daß man das nicht mehr kann. Um hier im Schlachthofviertel eingeschlagene Schädel wird wenig Aufhebens gemacht, denn Männern, die tagaus, tagein Tieren den Schädel einschlagen, scheint das zu einer Gewohnheit zu werden, die sie zwischen durch auch an ihren Freunden und manchmal sogar an ihren Familien praktizieren. Wir dürfen uns also glücklich schätzen, daß dank unseren modernen Methoden ein paar wenige die nun mal leider nötige Arbeit des Schädeleinschlagens für die ganze zivilisierte Welt besorgen können.

Heute nacht kommt es zu keiner Rauferei – vielleicht weil auch Jurgis aufpaßt, mehr noch als der Polizist. Jurgis hat zwar tüchtig mitgepichelt, wie es wohl jeder tun würde, wenn sowieso alles bezahlt werden muß, ob es nun getrunken wird oder nicht, doch er ist nicht der Typ, der sich leicht gehen läßt und schnell aus der Haut fährt. Nur einmal gibt es um ein Haar etwas – verursacht durch Marija Berczynskas. Marija ist seit etwa zwei Stunden offenbar der Meinung, der Altar in der Ecke mit der schmuddlig weißen Gottheit sei, wenn auch nicht die wahre Stätte der Musen, so aber doch das, was der auf Erden am nächsten kommt. Und sie hat sich gerade in kämpferische Stimmung gethekt, als ihr das von den Schurken, die sich ums Bezahlen gedrückt haben, zu Ohren kommt. Spornstreichs, ohne sich erst noch mit Fluchen aufzuhalten, begibt sie sich auf den Kriegspfad, und als man sie zurückreißt, hat sie bereits zwei der Nassauer am Rockkragen gepackt. Zum Glück läßt der Polizist mit sich reden, und so ist es nicht Marija, die rausgeworfen wird.

All das unterbricht die Musik für nicht länger als ein, zwei Minuten. Dann setzt die erbarmungslose Melodie wieder ein – die Melodie, die schon eine halbe Stunde lang ohne eine einzige Abwechslung gespielt wird. Diesmal ist es ein amerikanisches Lied, ein Gassenhauer, den sie auf der Straße aufgeschnappt haben; den Text scheinen alle zu kennen, jedenfalls die erste Zeile, die sie in einem fort und ohne Pause vor sich hinsingen: »In the good old summer time ... in the good old summer time! In the good old summer time ... in the good old summer time!« Von dieser Tonfolge mit ihrer sich endlos wiederholenden Dominante geht augenscheinlich etwas Hypnotisches aus. Sie hat alle, die sie hören, und ebenso jene, die sie spielen, in Stumpfsinn versetzt. Keiner vermag sich ihr zu entziehen oder das auch nur zu wollen; es ist drei Uhr früh, und sie haben all ihre Fröhlichkeit vertanzt, ebenso all ihre Energie, selbst jene, die maßloses Trinken verleihen kann – dennoch bringt es keiner unter ihnen fertig, ans Aufhören zu denken. Um Punkt sieben an diesem Montagmorgen muß jeder einzelne von ihnen auf seinem Arbeitsplatz bei Durham, Brown oder Jones sein, und sie haben sich vorher natürlich noch umzuziehen. Wer nur eine Minute zu spät kommt, dem wird ein voller Stundenlohn abgezogen, und sind es gar viele Minuten, hat er damit zu rechnen, seine Messingmarke zur Wand gedreht vorzufinden, was bedeutet, daß er entlassen ist und sich in die hungrige Menge einreihen muß, die jeden Morgen von sechs bis gegen halb neun Uhr vor den Toren der Fleischfabriken auf Einstellung hofft. Von dieser Regel gibt es keine Ausnahme, nicht einmal für die kleine Ona; sie hat darum gebeten, den Tag nach ihrer Hochzeit freizubekommen, unbezahlt natürlich, doch ist ihr das abgelehnt worden. Solange es so viele gibt, die auf alle Arbeitsbedingungen eingehen, besteht kein Grund, sich mit solchen zu inkommodieren, die Sonderwünsche haben.

Ona ist nahe daran, ohnmächtig zu werden – der Schnaps- und Bierdunst im Saal hat auch sie benebelt. Sie hat zwar keinen Tropfen getrunken, aber alle anderen hier hauchen solche Fahnen vor sich her, daß man buchstäblich Alkohol atmet; bei einigen der auf ihren Stühlen oder auf dem Fußboden schlafenden Männer sind sie so stark, daß man es in ihrer Nähe gar nicht aushält. Ab und zu schaut Jurgis seine Ona verlangend an – die Schüchternheit hat er längst abgelegt aber da sind die Leute, und so geduldet er sich noch, wobei er die Tür beobachtet, denn es ist eine Droschke bestellt. Aber die kommt und kommt nicht, und schließlich mag er nicht länger warten, sondern geht hin zu Ona, die blaß wird und zittert. Er legt ihr ihr Umschlagtuch um und dann noch seine Jacke. Sie wohnen nur zwei Straßen weiter, und er pfeift auf die Droschke.

Es gibt so gut wie keine Verabschiedung – die Tanzenden merken gar nicht, daß das Brautpaar geht, und allen Kindern sowie vielen der älteren Leute sind vor Erschöpfung schon lange die Augen zugefallen. Dede Antanas schläft fest und ebenso das Ehepaar Szedvilas; Jokubas schnarcht in allen Tonarten. Teta Elzbieta und Marija schluchzen laut, und dann ist um Jurgis und Ona her nur noch die stille Nacht mit im Osten bereits etwas verblassenden Sternen. Ohne ein Wort nimmt er Ona auf seine Arme und schreitet mit ihr los; mit einem Seufzer lehnt sie den Kopf an seine Schulter. Als er vor ihrer Haustür ankommt, weiß er nicht recht, ob sie ohnmächtig ist oder nur schläft, und als er sie mit einer Hand halten muß, während er aufschließt, sieht er, daß sie die Augen aufgeschlagen hat.

»Du gehst heute nicht arbeiten, Kleines«, flüstert er, und sie greift seinen Arm und stößt hervor: »Nein, nein, das wag ich nicht! Es wäre unser Ruin!«

Doch er erwidert ihr abermals: »Laß das meine Sorge sein. Ich schaff das Geld schon ran – werde eben mehr arbeiten.«