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Das sei typisch für die, sagten die Arbeiter – den Betrieb stillzulegen, ohne auch nur eine halbe Stunde vorher was davon anzukündigen! Das wär schon öfter vorgekommen, und das werde sich auch nicht ändern. Sie hätten so viele Erntemaschinen hergestellt, wie die Welt braucht, und mm müßten sie warten, bis sich welche abgenutzt haben. Man könne niemandem daran die Schuld geben; es wäre eben so. Tausende Männer und Frauen würden mm mitten im Winter entlassen und müßten von ihren Ersparnissen leben, so sie welche haben, oder aber vor die Hunde gehen. Zu den Zehntausenden in der Stadt, die ohne Arbeit und ohne Dach überm Kopf sind, kämen jetzt noch mal einige tausend hinzu!

Niedergeschlagen ging Jurgis mit seinem bißchen Lohn in der Tasche nach Hause. Wieder war ihm eine Binde von den Augen gerissen worden, wieder eine Fallgrube aufgedeckt! Was nutzten gute Behandlung von Seiten der Arbeitgeber, wenn die einem den Arbeitsplatz nicht zu erhalten vermochten, wenn mehr Erntemaschinen produziert wurden, als die Welt kaufen konnte! Welch teuflischer Hohn lag doch darin, daß ein Mensch schuftete wie ein Sklave, um Erntemaschinen für das Land herzustellen, nur um dann hinausgesetzt und dem Hungertod preisgegeben zu werden, weil er seine Sache zu gut gemacht hatte!

 


Jurgis brauchte zwei Tage, um über diese deprimierende Enttäuschung hinwegzukommen. In Alkohol konnte er sie nicht ersäufen, denn sein Geld hatte Elzbieta in Verwahrung genommen, und sie kannte ihn zu gut, um sich durch seine drohenden Forderungen auch nur im geringsten einschüchtern zu lassen; dafür hockte er auf dem Dachboden und brütete vor sich hin: Wozu sich überhaupt eine Arbeit suchen, wenn man sie ja doch wieder los wird, noch ehe man Zeit gehabt hat, sie zu erlernen? Aber in ihrer Kasse setzte bereits wieder Ebbe ein, und der kleine Antanas hatte Hunger und weinte, weil es oben unterm Dach so kalt war; außerdem wollte Madame Haupt, die Hebamme, etwas von ihrem Geld sehen. Also machte er sich wieder auf die Suche.

Zehn Tage lang streifte er durch die Straßen und Gassen der Riesenstadt, hundeelend und hungrig, und bettelte um Arbeit, egal welcher Art. Er versuchte es in Geschäften und Büros, in Restaurants und Hotels, im Hafen und auf den Verschiebebahnhöfen, in Depots und Lagerhäusern, in großen und kleinen Fabriken, deren Erzeugnisse in die ganze Welt hinausgingen. Ein, zwei freie Stellen fanden sich öfter, aber für jede waren immer gleich hundert Bewerber da, und er kam nicht an die Reihe. Er nächtigte in Schuppen, Kellern und Torwegen – bis plötzlich der Winter noch einmal zurückkehrte, mit Schneesturm und Temperaturen von schon bei Sonnenuntergang zwanzig Grad unter Null und nachts natürlich entsprechend mehr. Da kämpfte Jurgis wie eine Bestie, um in die große Polizeiwache in der Harrison Street hineinzukommen, und schlief dort im Treppenflur, der so überfüllt war, daß er sich mit zwei anderen Männern eine einzige Stufe teilen mußte.

Kämpfen mußte er in diesen Tagen überhaupt oft: um einen vorderen Platz an den Fabriktoren und hin und wieder auch mit Banden auf der Straße. Beispielsweise stellte er fest, daß das Geschäft, Reisenden die Koffer zu tragen, in festen Händen war – sobald er sich darin versuchen wollte, fielen acht bis zehn Männer und Jungen über ihn her, und er mußte um sein Leben rennen. Vom nächsten Polizisten ließ sich da kein Schutz erwarten, denn der war stets geschmiert.

Daß Jurgis nicht verhungerte, verdankte er einzig und allein den paar Cents, die die Kinder ihm brachten. Aber selbst damit konnte er nicht fest rechnen, denn zum einen war die Kälte so schlimm, daß an manchen Tagen die Kinder gar nicht kommen konnten, und zum anderen liefen auch sie ständig Gefahr, von Rivalen beraubt und verprügelt zu werden. Zudem hatten sie das Gesetz gegen sich – der kleine Vilimas, der zwar schon zwölf war, aber wie ein Neunjähriger aussah, wurde einmal auf der Straße von einer strengblickenden Dame mit Lorgnon angehalten und mußte sich von ihr sagen lassen, er sei noch zu jung zum Arbeiten, und wenn er nicht aufhört mit dem Zeitungsverkaufen, lasse sie ihn vom Jugendamt wegholen. Und Kotrina wurde eines späten Abends von einem fremden Mann am Arm gepackt, der sie dann in einen dunklen Kellergang locken wollte, ein Erlebnis, das sie so mit Angst erfüllte, daß sie kaum noch zu bewegen war weiterzuarbeiten.

Schließlich fuhr Jurgis an einem Sonntag, an dem sowieso keine Arbeit zu finden war, mit der Straßenbahn schwarz nach Hause. Dort warteten sie schon seit drei Tagen auf ihn – es bestand Aussicht, daß er eine Stelle bekommen würde.

Es war eine lange Geschichte. Der kleine Juozapas, in diesen Tagen vor Hunger halb verrückt, war hinaus auf die Straße gegangen, um selber zu betteln. Juozapas hatte nur ein Bein, denn er war als kleines Kind von einem Wagen überfahren worden, aber er hatte sich einen Besenstiel verschafft, den er als Krücke unter den Arm klemmte. Draußen war er mit anderen Kindern bekannt geworden und mit denen mitgegangen zu Mike Scullys Müllkippe, drei oder vier Straßen entfernt. Dort kamen jeden Tag Hunderte Wagenladungen Abfall und Gerümpel aus dem Viertel am See an, wo die reichen Leute wohnten, und in diesen Haufen stöberten die Kinder nach Eßbarem: Brotkanten, Kartoffelschalen, Apfelgehäusen, Fleischknochen, alles halb gefroren und daher noch unverdorben. Juozapas schlang sich den Bauch voll und brachte dann noch, in eine Zeitung gewickelt, eine Menge mit nach Hause. Er fütterte gerade den kleinen Antanas damit, als seine Mutter heimkam. Elzbieta erstarrte vor Schreck, denn sie konnte nicht glauben, daß Lebensmittel aus dem Müll noch genießbar seien. Als am nächsten Tag aber keiner krank geworden war und Juozapas vor Hunger zu weinen anfing, gab sie nach und erlaubte ihm, wieder hinzugehen. Und bei der Heimkehr am Nachmittag hatte der Junge dann etwas Interessantes zu erzählen. Während er dort mit einem Stock herumstocherte, habe ihn von der Straße her eine Dame zu sich gerufen. Eine richtige feine Dame, erklärte der Kleine, und wunderschön. Sie habe alles über ihn wissen wollen: ob er den Abfall für die Hühner holt, warum er an einem Besenstiel geht, warum Ona gestorben ist, warum Jurgis ins Gefängnis mußte, was Marija hat und überhaupt alles. Zum Schluß habe sie ihn noch gefragt, wo er wohnt, und gesagt, sie will ihn mal besuchen kommen und ihm eine richtige Krücke bringen. Sie hätte einen Hut aufgehabt mit einem Vogel drauf, fügte Juozapas hinzu, und um den Hals eine ganz lange Schlange aus Pelz.

Sie kam tatsächlich, schon am nächsten Vormittag, kletterte die Leiter hinauf und schaute sich das Quartier der Familie an; beim Anblick der Blutflecke auf dem Boden, dort, wo Ona gestorben war, wurde sie bleich. Sie arbeite und wohne im »Stockyards Settlement« dem sozialen Hilfswerk drüben in der Ashland Avenue, erklärte sie. Elzbieta sagte, sie wisse, wo das ist, direkt über einer Futtermittelhandlung; jemand habe ihr geraten, da doch mal hinzugehen, aber sie hätte das nicht gewollt, denn das habe sicher was mit Religion zu tun, und der Priester sehe es nicht gern, wenn sie sich mit einem anderen Glauben einlassen. Da zögen reiche Leute hin, die erfahren wollen, wie die Armen leben, aber was sie sich davon versprechen, wär ihr unerfindlich. Elzbieta sagte das alles ganz treuherzig, und die junge Dame lachte und war um eine Antwort verlegen – sie stand nur da, ließ die Augen in die Runde schweifen und mußte an eine zynische Bemerkung denken, die einmal jemand zu ihr gemacht hatte, nämlich daß sie am Rande des Höllenfeuers stehe und Schneebälle hineinwerfe, um die Temperatur zu senken.

Elzbieta war froh, jemanden zu haben, dem sie ihr Herz ausschütten konnte, und sie berichtete, was sie alles für Leid getroffen habe: die Sache mit Ona, das Gefängnis, wie sie das Haus losgeworden seien, Marijas Unfall, Onas Tod und daß Jurgis keine Arbeit finden könne. Beim Zuhören stiegen der jungen Dame Tränen in die Augen, und mittendrin brach sie in Schluchzen aus und verbarg das Gesicht an Elzbietas Schulter, ohne Rücksicht darauf, daß die eine schmutzige alte Kittelschürze anhatte und es auf dem Dachboden von Flöhen wimmelte. Der armen Elzbieta war es peinlich, eine so traurige Geschichte erzählt zu haben, und die junge Dame mußte lange bitten, ehe sie fortfuhr. Das Ende vom Lied war, daß sie ihnen einen Korb mit Lebensmitteln schickte und außerdem einen Brief daließ, mit dem Jurgis zu einem Herrn gehen sollte, der eine leitende Stellung in einem der großen Stahlwerke im Süden der Stadt hatte. »Er wird dafür sorgen, daß man ihm dort irgendwo Arbeit gibt«, hatte sie gesagt und unter Tränen lächelnd hinzugefügt: »Sonst heirate ich ihn nicht.«

 


Die Stahlwerke lagen fünfzehn Meilen weit weg, und wie üblich war es so eingerichtet, daß man zweimal Fahrgeld bezahlen mußte, um dort hinzugelangen. Weit und breit leuchtete der Himmel rot von der Lohe, die aus Reihen turmhoher Schlote herausloderte, denn es war noch stockdunkel, als Jurgis ankam. Der ausgedehnte Komplex, eine Stadt für sich, war von einem Zaun umgeben, und an dem Tor, wo neue Arbeitskräfte eingestellt wurden, warteten bereits an die hundert Mann. Bald nach Tagesanbruch ertönten Fabriksirenen, und urplötzlich erschienen Tausende von Menschen; sie strömten herbei aus den Kneipen und Logierhäusern gegenüber oder kamen von vorbeifahrenden Straßenbahnen gesprungen – im grauen Licht der Morgendämmerung sah es aus, als wüchsen sie aus dem Boden. Sie ergossen sich durch das Tor, und dann verebbte der Strom allmählich, bis man nur noch vereinzelte Zuspätkommende heranrennen sah und den auf und ab gehenden Wachmann sowie die hungrigen Arbeitsuchenden, die kältebibbernd von einem Bein aufs andere traten.

Jurgis legte sein kostbares Schreiben vor. Der Pförtner war mürrisch und stellte ihm eine ganze Liste von Fragen, aber Jurgis erklärte, nicht zu wissen, was in dem Brief stehe, und da er ihn vorsichtshalber zugeklebt hatte, blieb dem Mann nichts weiter übrig, als ihn an den Adressaten weiterzuleiten. Ein Bote kam zurück mit dem Bescheid, Mr. Rudkus solle warten. So durfte Jurgis das Tor passieren, und vielleicht hatte er nicht einmal besonderes Mitleid mit den anderen, die weniger Glück hatten und ihn neidvoll beobachteten.

Die riesigen Werke kamen in Gang – man konnte ein gewaltiges Dröhnen vernehmen, ein Rollen, Rumpeln und Hämmern. Nach und nach wurde der Schauplatz erkennbar: hohe schwarze Gebäude hier und da, lange Reihen von Werkstätten und Hallen, dazwischen überallhin abzweigende Schmalspurgleise, auf dem Boden graue Schlacke und am Himmel ein Meer von wogendem schwarzen Rauch. Die eine Seite des Geländes begrenzte ein Verladebahnhof mit einem Dutzend Schienensträngen und die andere Seite der See mit den Anlegestellen für Frachtdampfer.

Jurgis hatte Zeit genug, sich umzuschauen und Betrachtungen anzustellen, denn es dauerte zwei Stunden, ehe er gerufen wurde. Er ging ins Verwaltungsgebäude, wo sich dann ein Zeitkontrolleur mit ihm unterhielt. Der Chef sei beschäftigt, sagte der Mann, aber er selbst werde versuchen, etwas für ihn zu finden. Er habe wohl noch nie in einem Stahlwerk gearbeitet? Doch er sei zu jeder Arbeit bereit, ja? Nun, dann wolle man mal schauen.

Sie begaben sich auf einen Rundgang, und was Jurgis dabei zu sehen bekam, ließ ihn von einem Staunen ins andere fallen. Er fragte sich, ob er sich wohl je daran gewöhnen könne, an so einem Ort zu arbeiten, wo die Luft von ohrenbetäubenden Donnerschlägen erbebte und von allen Seiten zugleich Warnsignale auf ihn einkreischten, wo Kleinlokomotiven auf ihn zugerast kamen und weißglühende Metallmassen zischend an ihm vorbeischossen, wo Explosionen von Feuer und sprühenden Funken ihn blendeten und ihm das Gesicht versengten. Die Männer hier waren alle schwarz vor Ruß, hohläugig und hager; sie werkten mit grimmigem Eifer, stürzten hierhin und dorthin, hoben niemals die Augen von der Arbeit. Jurgis heftete sich an seinen Führer, wie sich ein verängstigtes Kind an seine Amme klammert, und während der Kontrolleur einen Vorarbeiter nach dem anderen heranrief und ihn fragte, ob er Verwendung für noch eine ungelernte Kraft habe, sah Jurgis sich um und bekam immer größere Augen.

Er wurde zur Bessemer-Anlage gebracht, wo Stahlblöcke hergestellt wurden – einem Kuppelbau von den Ausmaßen eines großen Theaters. Jurgis stand dort, wo im Theater der Rang gewesen wäre, und unten, sozusagen auf der Bühne, sah er drei überdimensionale birnenförmige Kessel – so riesig, daß alle Teufel der Hölle darin ihren Sud hätten brauen können in denen etwas Weißes, Blendendes brodelte, spritzte und toste, als wären dort Vulkane am Ausbrechen; man mußte brüllen, um hier gehört zu werden. Flüssiges Feuer schwappte aus diesen Kesseln und zerplatzte unten wie Bomben – aber die Leute, die dort arbeiteten, schienen so sorglos, daß Jurgis vor Schrecken der Atem stockte. Dann ertönte ein Pfiff, und oben, gewissermaßen auf dem Schnürboden des Theaters, kam eine kleine Lok mit einer Ladung angedampft, die für einen der Kessel bestimmt war; gleich darauf pfiff es abermals, unten auf der Bühne fuhr rückwärts ein zweiter Zug heran – und plötzlich, ohne jede Vorwarnung, neigte sich eine der Mammutbirnen, kippte ganz nach vorn, und heraus schoß eine lange, breite und laut zischende Stichflamme! Entsetzt wich Jurgis zurück, denn er hielt das für einen Unfall. Eine weiße Feuersäule stürzte herab, blendend wie die Sonne und mit einem Rauschen, wie wenn im Wald ein Baumriese gefällt wird. Funken stoben durch die ganze Länge des Gebäudes und verhüllten alles dem Blick. Durch die Finger der schützend vorgehaltenen Hand sah Jurgis, wie dem Kessel ein Sturzbach aus loderndem Feuer entströmte, von einem unirdischen Weiß, das in den Augen schmerzte. Über dem Strom leuchteten strahlende Regenbogen, um ihn herum tanzten blaue, rote und goldene Lichter, er selber aber war unbeschreiblich weiß. Aus Wunderwelten kam er geflutet, der Strom des Lebens selbst, und bei seinem Anblick tat die Seele einen Sprung und floh auf ihm davon, rasch und unaufhaltsam, zurück in ferne Lande, wo Schönheit und Schauder wohnen. Dann kippte der gigantische Kessel, nun leer, wieder in die Normallage, und Jurgis sah zu seiner Erleichterung, daß niemand verletzt worden war. Er drehte sich um und folgte seinem Führer hinaus ins Tageslicht.

Sie gingen zwischen den Hochöfen hindurch und kamen zu den Walzstraßen, wo Stahlblöcke hin- und hergeschoben und zerschnitten wurden, als wären sie butterweich. Überall ringsum, vor, hinter, neben und über einem wirbelten riesige Maschinenarme durch die Luft, drehten sich riesige Räder, krachten riesige Hämmer nieder; hoch oben ächzten und stöhnten Laufkräne, griffen mit eisernen Händen nach unten und packten eiserne Beute, – es war, als stände man im Mittelpunkt der Erde, wo sich das Räderwerk der Ewigkeit dreht.

Schließlich gelangten die beiden Männer dorthin, wo Eisenbahnschienen gefertigt wurden. Jurgis hörte hinter sich etwas tuten und konnte gerade noch einem Wagen aus dem Weg springen, der eine weißglühende Bramme heranfuhr, einen mannsgroßen Stahlblock von rechteckigem Querschnitt. Mit plötzlichem Krachen kam der Wagen zum Stehen, und die Bramme glitt hinüber auf eine bewegliche Plattform, wo stählerne Finger und Arme sie packten, in Position rückten und geschwind in den Griff mächtiger Walzen schoben. Kaum auf deren anderer Seite wieder herausgekommen, wurde sie mit einem Schwung herumgeschleudert wie ein Eierkuchen in der Pfanne, wobei es abermals krachte und knirschte, und dann erneut gepackt und durch ein weiteres Walzenpaar hindurch wieder zurückgeschoben. So donnerte sie unter ohrenbetäubendem Lärm hin und her und wurde dabei immer dünner, flacher und länger. Sie wirkte beinahe wie ein Lebewesen; sie wollte diesen Irrsinnsweg nicht nehmen, befand sich aber in den Klauen des Schicksals und wurde weitergerissen, so sehr sie auch kreischend, rasselnd und zitternd protestierte. Allmählich wurde sie rank und schlank, eine große rote Schlange, dem Fegefeuer entschlüpft; und jetzt hätte man schwören können, sie sei lebendig – wie sie sich windend und krümmend durch die Walzen glitt, wie so heftige Zuckungen und Schauder sie bis zum Schwanzende durchliefen, daß dieses fast davongeschleudert wurde. Es gab für sie keine Ruhe, bevor sie nicht kalt und schwarz war – und dann brauchte sie bloß noch durchgeschnitten und ausgegradet zu werden, und fertig war die Eisenbahnschiene.

Am Ende dieses Produktionsweges bekam Jurgis seine Chance. Die Schienen mußten per Hand mit Hebebäumen weitergerückt werden, und der Vorarbeiter hier konnte noch einen Mann gebrauchen. Jurgis legte seinen Mantel ab und fing gleich an.

 


Der Weg zur Arbeit hätte ihn täglich zwei Stunden und wöchentlich einen Dollar und zwanzig Cent Fahrgeld gekostet. Das ging natürlich nicht, und so rollte er sein Bettzeug zusammen und nahm es mit; durch Vermittlung eines Kollegen kam er in einem polnischen Logierhaus unter, wo er für zehn Cent die Nacht auf dem Fußboden schlafen durfte. Essen tat er an den Freibüfetts der Kneipen, und jeden Samstag fuhr er nach Hause, mitsamt Bettzeug und allem, und brachte den Großteil seines Lohnes der Familie. Elzbieta war über diese Regelung nicht eben glücklich. Sie befürchtete, er könne sich daran gewöhnen, ohne sie zu leben; und daß er sein Kind nur einmal in der Woche sieht, sei auch nicht gut, aber es lasse sich nun mal nicht anders einrichten. Für Frauen bestanden in den Stahlwerken keine Möglichkeiten, und Marija war wieder arbeitsfähig und hoffte von Tag zu Tag, eine Stelle in den Yards zu bekommen.

Innerhalb einer Woche verlor Jurgis das Gefühl der Hilflosigkeit und des Verlorenseins in dem Schienenwalzwerk. Er lernte, sich zurechtzufinden, all die Wunder und Schrecken einfach hinzunehmen und zu arbeiten, ohne auf das Rumpeln und Krachen zu achten. Seine blinde Angst schlug um ins andere Extrem: Er wurde so leichtsinnig und gleichgültig wie die anderen hier, die sich im Eifer des Gefechts nur wenig vorsahen. Wenn man einmal darüber nachdachte, war es eigentlich ein Wunder, daß diese Männer sich so ins Zeug legten, wovon sie doch gar nichts hatten – sie wurden nach Stunden bezahlt und bekamen für ihr Interesse und ihren Eifer keinen einzigen Cent mehr. Zudem wußten sie, daß sie bei einem Unfall beiseite geworfen und vergessen würden, und dennoch kürzten sie auf gefährliche Weise ihre Wegstrecken ab und wandten Arbeitsweisen an, die schneller und effektiver, allerdings auch riskanter waren. An seinem vierten Tag dort sah Jurgis, wie einem Mann, der vor einem Wagen herlief und dabei stolperte, der Fuß abgequetscht wurde, und ehe er drei Wochen da war, wurde er Zeuge eines noch schrecklicheren Unfalls. Es gab eine Reihe gemauerter Schmelzöfen, bei denen der geschmolzene Stahl durch jede Ziegelritze weiß herausleuchtete. Ein paar davon waren schon bedrohlich ausgebaucht, und trotzdem arbeiteten Männer direkt davor; beim Öffnen und Schließen der Türen trugen sie blaue Schutzbrillen. Eines Morgens, als Jurgis gerade vorbeiging, barst einer dieser Öfen und besprühte zwei Arbeiter mit einem Schauer flüssiger Glut. Als sie sich vor Schmerzen schreiend auf dem Boden wälzten, stürzte Jurgis ihnen zu Hilfe und büßte dabei fast die ganze Haut seiner einen Handfläche ein. Der Betriebsarzt verband ihn, aber gedankt wurde ihm von niemandem; er war acht Tage arbeitsunfähig, für die er keinen Lohn erhielt.

Zum Glück hatte es gerade mit der lang erhofften Putzstelle für Elzbieta geklappt, die nun morgens um fünf in einer Fleischfabrik beim Schrubben der Bürofußböden mithelfen durfte. Jurgis kam nach Hause, hüllte sich in Decken, um sich warm zu halten, und schlief entweder oder spielte mit dem kleinen Antanas. Juozapas war die meiste Zeit draußen beim Stöbern auf der Müllkippe, und Elzbieta und Marija suchten nach weiterer Arbeit.

Antanas war jetzt über eineinhalb Jahre alt und die reinste Sprechmaschine. Er lernte so rasch, daß es seinem Vater jedesmal, wenn er ihn nach einer Woche wiedersah, vorkam, als habe er ein neues Kind. Jurgis setzte sich dann hin, hörte ihm zu, bestaunte ihn und rief entzückt: »Palauk! Muma! Tu mano szirdele!« Der Kleine war die einzige Jurgis noch auf der Welt gebliebene Freude – seine einzige Hoffnung, sein einziger Erfolg. Gottlob, daß Antanas ein Junge war! Er war zäh wie ein Kieferknorren und hatte einen Appetit wie ein Wolf. Nichts hatte ihm bisher geschadet, und nichts konnte ihm schaden; all die Leiden und Entbehrungen hatte er ohne Folgen überstanden – seine Stimme war nur um so lauter, sein Lebenswille um so entschiedener geworden. Er ließ sich kaum bändigen, der kleine Racker, aber seinen Vater störte das nicht; er beobachtete ihn und lächelte vor sich hin: Je mehr er sich zum Draufgänger entwickelte, um so besser würde er sich später durchsetzen können.

Jurgis hatte sich angewöhnt, wenn er einigermaßen bei Kasse war, ein Sonntagsblatt zu kaufen; für fünf Cent war eine wundervolle Zeitung zu haben, ein ganzer Armvoll Papier, mit Nachrichten aus aller Welt in großen Schlagzeilen, so daß Jurgis sie langsam buchstabieren konnte, wenn ihm bei den schwierigen Wörtern die Kinder halfen. Da wurde von Schlachten berichtet, von Morden und plötzlichen Todesfällen – einfach phantastisch, wie die diese vielen unterhaltsamen und aufregenden Ereignisse immer gleich in Erfahrung brachten; die Geschichten beruhten sicher alle auf Wahrheit, denn ausdenken konnte sich so etwas doch niemand, und außerdem waren ja überall ganz lebensechte Bilder dabei. Solch eine Zeitung bot so viel wie ein Zirkusbesuch, war beinah so schön wie eine Sauftour; jedenfalls bildete sie einen Hochgenuß für einen Arbeiter, der abgespannt und abgestumpft war, der nie die Möglichkeit gehabt hatte, sich Bildung zu erwerben, der von morgens bis abends in einer tristen Tretmühle schuftete, jahraus, jahrein, ohne daß er jemals eine grüne Wiese zu sehen bekam oder sich eine Stunde Vergnügen leisten konnte und zur Anregung seiner Phantasie nur den Alkohol hatte. Unter anderem enthielten diese Zeitungen ganze Seiten mit lustigen Geschichten, die aus lauter kleinen Zeichnungen bestanden, also regelrechte Bilderbogen abgaben, und die waren für Antanas die größte Wonne seines Lebens. Er sammelte sie, schleppte sie dann herbei und gab nicht eher Ruhe, bis sein Vater sie ihm erklärte; es kamen alle möglichen Tiere darin vor, und Antanas konnte, während er stundenlang auf dem Fußboden lag und mit seinen kleinen Wurstfingern auf sie zeigte, sie sämtlich mit Namen nennen. War eine Geschichte einfach genug daß Jurgis sie verstand, verlangte Antanas, daß er sie ihm wiederhole, und dann behielt er sie und plapperte lustige kleine Sätze daraus nach, die er auf umwerfend komische Weise mit welchen aus anderen Geschichten vermischte. Auch seine Aussprache war einfach zu drollig – und was er alles für Redensarten aufschnappte und sich merkte, die seltsamsten und unmöglichsten Sachen! Als der kleine Schlingel das erste Mal mit »Verdammt noch mal!« herausplatzte, fiel sein Vater vor Lachen fast vom Stuhl; aber bald fand er das gar nicht mehr lustig, denn Antanas hängte nun an alles und jedes ein »Verdammt noch mal!« an.

 


Als Jurgis seine Hand wieder gebrauchen konnte, nahm er sein Bettzeug und ging zurück zum Schienenheben. Es war jetzt April; der Schnee war kalten Regengüssen gewichen, und die ungepflasterte Straße vor Anieles Haus wurde zu einer regelrechten Gracht. Jurgis mußte hindurchwaten, um zur Vortreppe zu kommen, und wenn es schon dunkel war, konnte es leicht passieren, daß er bis zur Hüfte im Schlamm steckenblieb. Aber das machte ihm nicht viel aus – es war ja das Zeichen, daß der Sommer nahte. Marija hatte inzwischen in einer der kleineren Konservenfabriken eine Stelle als Fleischzurichterin bekommen, und er sagte sich, er habe nun seine Lektion weg und wolle sich hinfort in keinen Unfall mehr verwickeln lassen – so daß doch noch Aussicht bestehe auf ein Ende ihrer langen Leidenszeit. Sie könnten wieder Geld sparen, und wenn der nächste Winter kommt, würden sie eine vernünftige Wohnung haben; die Kinder könnten zurück in die Schule, wären dann von der Straße und würden sich wieder an Anstand und Freundlichkeit gewöhnen. So begann Jurgis abermals Pläne zu schmieden und Träume zu hegen.

Und eines Samstags dann sprang er, ungeduldig, nach Hause zu kommen, an der Haltestelle von der Straßenbahn. Die Abendsonne schien schräg unter einer Wolkenbank hervor, aus der Wasserfluten auf die schlammdurchweichte Straße niedergegangen waren. Am Himmel wölbte sich ein Regenbogen, und ein zweiter spannte sich in der Brust von Jurgis – denn er hatte sechsunddreißig Stunden Ruhe vor sich und konnte mit seiner Familie Zusammensein. Doch als das Haus in Sicht kam, sah er vor der Tür einen Menschenauflauf. Er rannte die Vorstufen hinauf, drängte sich durch die Menge und stieß in Anieles Küche auf lauter aufgeregte Frauen. Das erinnerte ihn so lebhaft an seine Heimkehr aus dem Gefängnis, als er Ona im Sterben vorgefunden hatte, daß ihm das Herz stockte.

»Was ist passiert?« rief er.

Es wurde totenstill im Raum, und er sah, daß alle ihn anstarrten. »Was ist passiert?« rief er noch einmal.

Dann hörte er oben auf dem Dachboden Wehklagen – die Stimme gehörte Marija. Er wollte zur Leiter, doch Aniele packte ihn beim Arm. »Nein, nein«, rief sie, »geh nicht dort rauf!«

»Was ist?« schrie er.

Und Aniele antwortete tonlos: »Antanas ist tot. Ist draußen auf der Straße ertrunken.«