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Den Sommer über hatten die Fleischfabriken abermals Hochbetrieb, und Jurgis verdiente wieder besser. Allerdings nicht so gut wie im Vorjahr, denn die Fabrikanten stellten mehr Leute ein. Jede Woche kamen neue – es lag regelrecht Methode darin, denn sie schienen die alle bis zur nächsten Flaute behalten zu wollen, so daß dann der einzelne weniger denn je hatte. Mit diesem System würden sie früher oder später sämtliche freien Arbeitskräfte von Chicago ausgebildet haben, die Arbeit bei ihnen zu tun. Wahrlich raffiniert ausgedacht: Die Arbeiter mußten die Neuen anlernen, die dann eines Tages kommen und ihren Streik brechen würden, und inzwischen wurden sie selbst so knapp gehalten, daß sie sich für diese Kraftprobe nicht wappnen konnten!

Doch glaube niemand, daß die Vielzahl von eingestellten Leuten für irgend jemanden leichteres Arbeiten bedeutet hätte. Im Gegenteil, das Tempovorlegen wurde von Tag zu Tag schlimmer, in einem fort tüftelten sie neue Geräte und Einrichtungen zur Arbeitsbeschleunigung aus – und die waren wie die Daumenschrauben mittelalterlicher Folterkammern. Die Fabrikanten holten sich neue Schrittmacher und bezahlten sie besser; sie trieben die Arbeiter mit neuen Maschinen an – es hieß, in den Schweineschlachthallen werde die Durchlaufgeschwindigkeit der Tiere durch ein Uhrwerk gesteuert und dieses jeden Tag ein bißchen schneller eingestellt. Bei der Akkordarbeit drückten sie die Zeit, verlangten die gleiche Arbeit in weniger Stunden, aber zum selben Lohn, und hatten sich die Arbeiter an dieses neue Tempo gewöhnt, wurde der Lohn gesenkt, damit er wieder zu der gekürzten Zeit paßte! In den Konservenfabriken hatte man das schon so oft gemacht, daß die Arbeiterinnen schier verzweifelten; ihre Löhne waren innerhalb der letzten zwei Jahre um ein volles Drittel gesunken, und es braute sich ein Sturm der Unzufriedenheit zusammen, der jeden Tag losbrechen konnte. Nur einen Monat, nachdem Marija Zurichterin geworden war, gab die Fabrik, wo sie vorher gearbeitet hatte, durch Anschlag eine Lohnkürzung bekannt, nach der sich der Verdienst um fast die Hälfte verringerte. Die Empörung der Arbeiterinnen darüber war so groß, daß sie, ohne erst zu verhandeln, geschlossen hinauszogen und sich draußen auf der Straße organisierten. Eines der Mädchen hatte irgendwo gelesen, das passende Symbol für unterdrückte Arbeiter sei eine rote Fahne, und so machten sie sich eine, marschierten damit durch die ganzen Yards und schrien ihren Zorn in die Gegend. Ergebnis dieses Ausbruchs war zwar eine neue Gewerkschaft, der improvisierte Streik aber wurde binnen drei Tagen durch den Zulauf neuer Arbeitskräfte lahmgelegt, und das Mädchen, das die rote Fahne getragen hatte, wanderte ab in die Innenstadt, wo es in einem großen Warenhaus zu einem Wochenlohn von zweieinhalb Dollar unterkam.

Jurgis und Ona hörten diese Geschichten mit Bestürzung – man konnte ja nie wissen, wann es einen selber treffen würde. Es war schon ein paarmal gemunkelt worden, daß einer der größten Betriebe den Lohn für ungelernte Kräfte auf fünfzehn Cent die Stunde kürzen wolle, und Jurgis war klar, wenn es dazu kam, wäre er auch bald dran. Er hatte inzwischen begriffen, daß Packingtown eigentlich gar nicht aus lauter Einzelfirmen bestand, sondern ein einziger großer Konzern war, der sogenannte »Fleisch-Trust«. Jede Woche setzten sich die Direktoren der Betriebe zusammen und verglichen ihre Unterlagen; so gab es für alle Arbeiter in den Yards nur eine Lohnskala und galt die gleiche Leistungsnorm. Jurgis bekam erzählt, daß sie auch die Einkaufspreise für Schlachtvieh sowie die Verkaufspreise für Fleischprodukte untereinander absprachen; aber das war etwas, wovon er nichts verstand und was ihn deshalb auch nicht kümmerte.

Die einzige, die keine Lohnkürzung befürchtete, war Marija; in ihrer Naivität beglückwünschte sie sich, daß es in ihrer Fabrik kurz vor ihrer Einstellung gerade erst eine gegeben hatte. Marija entwickelte sich zur geschickten Fleischzurichterin, und es ging wieder aufwärts mit ihr. Im Verlauf des Sommers und Herbstes schafften es Jurgis und Ona, ihr die Schulden voll zurückzuzahlen, und so legte sich Marija ein Sparbuch an. Tamoszius hatte ebenfalls eins; beide sparten um die Wette und begannen wieder damit, die Kosten für einen Haushalt durchzurechnen.

Der Besitz großer Reichtümer bringt jedoch Sorgen und Verpflichtungen mit sich, wie Marija bald erfahren mußte. Sie war dem Rat einer Freundin gefolgt und hatte ihre Ersparnisse bei einem Bankhaus in der Ashland Avenue eingezahlt. Natürlich wußte sie über diese Bank nichts weiter, als daß sie groß war und einen imposanten Eindruck machte – wie sollte eine arme ausländische Arbeiterin denn auch etwas vom Bankgeschäft verstehen, noch dazu bei der hiesigen Hektik der Finanzwirtschaft? Folglich lebte Marija in steter Angst, ihrer Bank könne etwas zustoßen, und sie machte morgens immer einen Umweg, um sich zu vergewissern, daß das Haus noch dastand. Sie dachte dabei vornehmlich an ein Feuer, denn sie hatte ihr Geld in Scheinen eingezahlt und fürchtete, wenn die verbrannten, würde die Bank ihr keine anderen geben. Jurgis machte sich deswegen über sie lustig; stolz auf sein überlegenes Wissen als Mann, erklärte er ihr, die Bank habe feuerfeste Tresore, und darin seien all ihre Millionen sicher verwahrt.

Als Marija eines Morgens ihren üblichen Umweg machte, sah sie jedoch zu ihrem Entsetzen vor der Bank eine Menschenmenge, die einen halben Block lang die Straße verstopfte. Vor Schreck wich ihr alles Blut aus dem Gesicht. Sie begann zu rennen, schrie den Leuten die Frage zu, was denn los sei, wartete jedoch die Antwort nicht ab, sondern lief weiter, bis das Gedränge so dicht wurde, daß sie nicht mehr durchkam. Es handle sich um einen »Run«, sagte man ihr hier, aber sie wußte nicht, was das ist, und wandte sich von einem zum anderen, suchte voll schrecklicher Angst herauszubekommen, was sie meinten. Sei mit der Bank was nicht in Ordnung? Das wisse niemand genau, aber alle nähmen es an. Könne sie ihr Geld nicht abheben? Das sei nicht klar, aber man befürchte nein; alle hier würden ihr Geld abheben wollen. Es sei noch zu früh, um etwas sagen zu können – die Bank mache erst in drei Stunden auf. In rasender Verzweiflung begann Marija, sich durch ein Gewühl von Männern, Frauen und Kindern, die alle genauso aufgeregt waren wie sie, zum Eingang vorzudrängen. Es war ein wüstes Tohuwabohu: Frauen kreischten, rangen die Hände und wurden ohnmächtig, Männer schlugen um sich und trampelten alles nieder, was ihnen den Weg versperrte. Mitten in dem Handgemenge fiel Marija ein, daß sie ihr Sparbuch ja nicht bei sich hatte, ihr Geld also ohnehin nicht bekommen würde, und so kämpfte sie sich den Weg hinaus frei und rannte zurück nach Hause. Das war ihr Glück, denn wenige Minuten später rückte ein Polizeikommando an.

Eine halbe Stunde später war Marija wieder da und mit ihr Teta Elzbieta, beide völlig außer Atem vom Laufen und ganz krank vor Angst. Die Menge hatte sich inzwischen zu einer ordentlichen Schlange formiert, die sich ein paar Querstraßen weit hinzog und von einer halben Hundertschaft Polizei flankiert wurde. Den beiden Frauen blieb nichts weiter übrig, als sich hinten anzustellen. Um neun Uhr machte die Bank auf und begann mit dem Auszahlen; aber was half das Marija, die dreitausend Leute vor sich stehen sah – genug, um ein Dutzend Banken bis auf den letzten Cent zu leeren?

Zu allem Übel setzte auch noch Sprühregen ein, der sie bis auf die Haut durchnäßte. Dennoch standen sie den ganzen Vormittag lang dort und krochen ihrem Ziel näher – auch den ganzen Nachmittag warteten sie, jetzt mit sinkendem Mut, weil sie sahen, daß das Ende der Geschäftszeit nahte und sie nicht mehr drankommen würden. Marija war entschlossen, unter allen Umständen auszuharren und ihren Platz zu halten, aber da fast alle anderen genauso dachten und die lange kalte Nacht hindurch dablieben, rückte sie nur wenig vor. Gegen Abend kam Jurgis; er hatte von den Kindern gehört, was los war, und brachte etwas zu essen sowie trockene Umschlagtücher, was ihnen das Warten ein bißchen erleichterte.

Am nächsten Morgen fanden sich schon vorm Hellwerden eine noch größere Menschenmenge sowie auch noch mehr Polizei ein. Marija hielt verbissen aus, gelangte gegen Nachmittag in die Bank hinein und bekam ihr Geld – alles in großen Silberdollars, ein ganzes Kopftuch voll. Jetzt, da sie es in den Händen hatte, schwand ihre Angst, und sie wollte es wieder einzahlen, doch der Mann am Schalter erklärte indigniert, von denen, die beim Sturm auf die Bank mitgemacht hatten, würden keine Einlagen mehr angenommen. Also mußte Marija ihre Dollars heimtragen, wobei sie sich in einem fort rechts und links umsah, jeden Augenblick damit rechnend, überfallen zu werden. Sie langte zwar sicher zu Hause an, aber das bedeutete noch keine Lösung des Problems. Bis sie eine andere Bank fand, blieb ihr nichts weiter übrig, als die Münzen in ihre Kleider einzunähen, und so lief Marija eine gute Woche lang schwer mit Silber beladen herum und getraute sich nicht, die Straße vor dem Haus zu überqueren, weil Jurgis ihr gesagt hatte, sie würde bis über den Kopf im Schlamm versinken. Mit ihrer Last machte sie sich auf den Weg zu den Yards, wieder voller Angst – diesmal, ob sie ihren Arbeitsplatz verloren habe. Aber zum Glück hatten rund zehn Prozent der Arbeiter von Packingtown ihre Ersparnisse bei jener Bank gehabt, und es wäre unpraktisch gewesen, so viele auf einmal zu entlassen. Ausgelöst worden war die Panik, weil ein Polizist versucht hatte, in der Kneipe neben der Bank einen Betrunkenen festzunehmen, was zu jener Stunde, da die Leute alle auf dem Weg zur Arbeit waren, einen Auflauf verursachte und so den »Run« ins Rollen brachte.

Um diese Zeit begannen auch Jurgis und Ona ein Sparkonto. Sie hatten nicht nur all ihre Schulden bei Jonas und Marija glattgemacht, sondern auch die Möbel fast abbezahlt, konnten also eine Kleinigkeit für Notzeiten zurücklegen. Solange sie jeder wöchentlich neun oder zehn Dollar heimbrachten, kamen sie gut über die Runden. Außerdem kehrten die Wahlen wieder, und Jurgis holte dabei einem Reinverdienst in Höhe eines halben Wochenlohns heraus. In diesem Jahr lagen die Parteien Kopf an Kopf, und das Echo des Wahlkampfes hallte sogar bis nach Packingtown herüber. Die beiden rivalisierenden Gruppen von Jägern nach Posten, wo es etwas abzusahnen gab, mieteten Säle, veranstalteten Feuerwerke und hielten Reden, um die Leute für ihre Sache zu interessieren. Obwohl Jurgis nicht alles verstand, wußte er zu dieser Zeit schon genug, um sich darüber klar zu sein, daß es nicht richtig ist, seine Stimme zu verkaufen. Da es jedoch alle taten und seine Weigerung nicht das geringste am Wahlausgang geändert hätte, wäre der Gedanke, es nicht zu tun – wenn er ihn überhaupt gehabt hätte geradezu absurd erschienen.

 


Kalte Winde und kürzer werdende Tage kündigten ihnen an, daß der Winter wieder im Anrücken war. Die Erholungspause schien ihnen zu kurz gewesen – sie hatten gar nicht richtig Zeit gehabt, sich für ihn zu rüsten; doch er kam trotzdem, unerbittlich, und die Augen des kleinen Stanislovas nahmen wieder ihren verängstigten Ausdruck an. Auch Jurgis wurde bange, denn er wußte, Ona würde dieses Jahr der Kälte und dem Schnee nicht gewachsen sein. Was, wenn eines Tages ein Blizzard hereinbrach und keine Bahn mehr fuhr? Dann könnte Ona nicht zu Brown gelangen und würde am nächsten Tag feststellen müssen, daß man ihren Arbeitsplatz einer anderen gegeben hatte, die näher wohnte und verläßlicher war!

In der Woche vor Weihnachten hatten sie den ersten großen Schneesturm, und da erwachte in Jurgis ein wahrer Löwenmut. Vier Tage lang blieb die Straßenbahn in der Ashland Avenue außer Betrieb, und in dieser Zeit erfuhr Jurgis zum ersten Mal im Leben, was es heißt, gegen wirkliche Widerstände angehen zu müssen. Er hatte auch früher schon Schwierigkeiten zu überwinden gehabt, aber das war ein Kinderspiel gewesen im Vergleich zu dem jetzigen Kampf auf Leben und Tod. Am ersten Morgen brachen sie zwei Stunden vor Tagesanfang auf; er trug Ona, die in Decken eingehüllt war, wie einen Sack Mehl über der Schulter, und der unter seiner Vermummung kaum noch zu sehende kleine Stanislovas hielt sich an seinem Jackensaum fest. Tobender Wind peitschte Jurgis ins Gesicht, und es herrschten zwanzig Grad Kälte; bei jedem Schritt sank er bis zu den Knien ein, in manchen Wehen sogar bis zu den Achseln. Der Schnee hielt seine Füße fest und suchte ihn zu Fall zu bringen, türmte sich vor ihm zu einer Wand auf, um ihm zum Umkehren zu zwingen, doch Jurgis warf sich ihm entgegen, stürzte sich in ihn hinein, keuchend und vor Wut schnaubend wie ein angeschossener Büffel. So erkämpfte er sich Meter für Meter den Weg, und als er endlich bei Brown anlangte, taumelte er und konnte kaum noch aus den Augen sehen; nach Luft ringend, lehnte er sich gegen einen Pfeiler und dankte Gott, daß die Rinder an diesem Tag mit Verspätung in die Schlachthalle kamen. Am Abend war es dann wieder das gleiche, und da Jurgis nie sagen konnte, wann er Schluß haben würde, machte er mit einem Kneipier aus, daß Ona bei ihm im Lokal in einer Ecke sitzen und auf ihn warten dürfe. Einmal war es schon elf Uhr und pechschwarze Nacht, aber sie schafften es trotzdem, heil nach Hause zu kommen.

Dieser Schneesturm brachte so manchen um sein Brot, denn die Menge der Arbeitssuchenden draußen war größer als je, und die Fabrikanten warteten nicht lange auf einen, der fehlte. Als alles vorüber war, lachte Jurgis das Herz: Er war dem Feind entgegengetreten und hatte ihn bezwungen, fühlte sich nun als Herr über sein Schicksal. Ähnlich mag einem König des Waldes zumute sein, der in ehrlichem Kampf seine Feinde überwunden hat – und dann nachts in eine hinterhältige Falle gerät.

Lebensgefährlich wurde es in den Schlachthallen immer dann, wenn ein Rind ausbrach, was besonders bei jungen Ochsen vorkam. In der Hetze des verlangten Tempos passierte es mitunter, daß die Wand der Tötefalle zu früh hochgezogen wurde und das darin zusammengebrochene Tier hinausglitt, noch ehe es ganz betäubt war, so daß es sich wieder erheben konnte und nun Amok lief. Dann erscholl ein gellender Warnschrei – und die Männer ließen alles fallen und stürzten hinter den nächsten Pfeiler, wobei hier und da welche auf dem glitschigen Boden ausrutschten und einer über den anderen fiel. Das war schon schlimm genug im Sommer, wenn man sehen konnte, im Winter aber blieb einem das Herz stehen, denn da war die Halle so voll Wrasen, daß die Sicht keine anderthalb Schritte weit reichte. Gewiß, der Ochse war meist blind vor Angst und nicht wirklich darauf aus, jemanden anzugreifen, aber wie leicht konnte man in ein Messer hineinlaufen, da ja nahezu jeder eins in der Hand hatte! Und dann kam auch noch der Hallenmeister mit einem Gewehr angerannt und begann, wild draufloszuballern!

Bei einem solchen Tumult geriet Jurgis in seine Falle. Anders kann man es nicht nennen; es war so grausam und so ganz und gar nicht vorauszusehen. Zuerst nahm er kaum Notiz davon, denn es war ja nur ein ganz leichter Unfall, nichts weiter, als daß er sich beim Beiseitespringen den Knöchel verknackst hatte. Er verspürte zwar einen stechenden Schmerz, doch da er nicht zimperlich war, widmete er dem kaum Beachtung. Auf dem Heimweg aber merkte er, daß es doch ziemlich weh tat, und am nächsten Morgen zeigte der Knöchel eine starke Schwellung, war fast doppelt so dick geworden, und Jurgis kam mit dem Fuß nicht in den Schuh hinein. Selbst da fluchte er bloß kurz, umwickelte ihn mit alten Lappen und humpelte zur Straßenbahn. Zufällig herrschte an diesem Tag bei Brown reger Betrieb, und den ganzen Vormittag hinkte Jurgis mit seinem schmerzenden Fuß einher. In der Mittagspause wurde er vor Schmerzen ohnmächtig, und nach ein paar weiteren Stunden konnte er einfach nicht mehr und mußte es dem Aufseher sagen. Der herbeigeholte Betriebsarzt untersuchte den Fuß und schickte Jurgis dann heim und ins Bett, wobei er hinzufügte, durch seinen Leichtsinn habe er sich eingebrockt, vielleicht monatelang liegen zu müssen. Es sei kein Unfall, für den die Firma haftbar gemacht werden kann – und damit war die Sache für den Arzt erledigt.

Irgendwie schaffte es Jurgis nach Hause. Elzbieta half ihm ins Bett und machte einen kalten Umschlag um seinen verletzten Fuß; sie gab sich alle Mühe, sich ihre Bestürzung nicht anmerken zu lassen. Als am Abend die anderen heimkamen, fing sie sie draußen ab und erzählte ihnen, was passiert war, und auch sie setzten eine heitere Miene auf und sagten zu Jurgis, es dauere ja sicher bloß eine Woche oder so, und er brauche sich keine Sorgen zu machen.

Doch nachdem sie ihn zum Einschlafen gebracht hatten, setzten sie sich am Küchenfeuer zusammen und besprachen angstvoll flüsternd die Lage. Es stehe ihnen ganz klar eine schlimme Zeit bevor. Jurgis und Ona hätten nur an die sechzig Dollar auf der Bank, und es wär jetzt die flaue Saison. Jonas und Marija würden vielleicht bald bloß noch das Kostgeld verdienen, und darüber habe die Familie dann nichts weiter als Onas Lohn und das bißchen von dem Jungen. Die Miete müsse bezahlt werden, außerdem ständen noch einige Möbelraten an, ferner sei gerade die Versicherung fällig, und jeden Monat brauchten sie einen Sack Kohlen nach dem andern. Es sei jetzt Januar, also tiefster Winter, die denkbar schlechteste Zeit, in Not zu geraten. Es kämen wieder Schneestürme, und wer solle dann Ona zur Arbeit tragen? Wahrscheinlich, ja ganz sicher werde sie ihre Stelle verlieren. Da begann auch der kleine Stanislovas zu jammern: Was werde nun mit ihm?

Es war furchtbar, daß ein an sich so gerinfügiger Unfall, wie er jedem zustoßen kann, soviel Leid nach sich zog. Die Verbitterung darüber bildete Jurgis’ tägliche Nahrung. Es nutzte nichts, daß die anderen ihm etwas vorzumachen suchten; er war sich über die Lage genauso klar wie sie und wußte, daß die Familie regelrecht verhungern konnte. Diese Sorge verzehrte ihn im wahrsten Sinne des Wortes – schon nach zwei, drei Tagen sah er richtig abgehärmt aus. Für einen kräftigen Mann wie ihn, einen Kämpfer, war es auch wirklich zum Verrücktwerden, so hilflos daliegen zu müssen – ganz die alte Geschichte vom gefesselten Prometheus. Während Jurgis Stunde um Stunde auf seinem Bett lag, bewegten ihn Gefühle, wie er sie bis dahin nicht gekannt hatte. Bisher war ihm das Leben eine Freude gewesen – es legte einem zwar Prüfungen auf, jedoch keine, die ein Mann nicht zu bewältigen vermochte. Jetzt aber kam, wenn er sich nachts von einer Seite auf die andere wälzte, ein gräßliches Gespenst ins Zimmer geschlichen, bei dessen Anblick es ihm kalt über den Rücken lief und ihm die Haare zu Berge standen. Es war, als sähe er die Welt unter seinen Füßen wegsacken, als stürzte er in einen bodenlosen Abgrund und in gähnende Schlünde der Verzweiflung. Es mochte also doch wahr sein, was die anderen ihm über das Leben erzählt hatten, nämlich daß dafür mitunter selbst die besten Kräfte eines Mannes nicht auslangten. Es mochte also wahr sein, daß er, so sehr er sich auch anstrengte und abrackerte, am Ende doch scheiterte und zugrunde ging! Der Gedanke daran lag wie eine eiskalte Hand auf seinem Herzen – der Gedanke, daß er und seine Lieben hier, in dieser grausigen Heimstatt aller Schrecken, liegen und vor Hunger und Kälte umkommen konnten, ohne daß ein Ohr ihre Hilfeschreie hörte und eine helfende Hand sich ihnen entgegenstreckte! Ja, es war so, war wirklich so: In dieser riesigen Stadt mit ihrer Fülle aufgehäufter Reichtümer konnte man noch genauso von den reißenden Kräften der Natur zu Tode getrieben werden wie einst zur Zeit der Höhlenmenschen.

Ona verdiente jetzt an die dreißig Dollar im Monat und Stanislovas etwa dreizehn. Dazu kam das Kostgeld von Jonas und Marija, rund fünfundzwanzig Dollar. Nach Abzug der Miete, der Zinsen und der Möbelraten blieben ihnen sechzig Dollar, wovon jedoch noch zehn für Kohlen abgingen. Sie verzichteten auf alles, was nicht unbedingt lebensnotwendig war; sie liefen in alten, fadenscheinigen Sachen umher, die sie nicht vor der Kälte schützten, und wenn die Schuhe der Kinder entzweigingen, banden sie sie mit Strippe zusammen. Ona, ohnehin nicht richtig gesund, schadete sich noch mehr, indem sie auch bei schlechtem Wetter zu Fuß zur Arbeit ging, statt mit der Bahn zu fahren. Obwohl sie doch wirklich nichts weiter als das Essen kauften – mit fünfzig Dollar monatlich ließ sich einfach nicht auskommen. Vielleicht wäre es gegangen, hätten sie nur irgendwo unverfälschte Lebensmittel und zu anständigen Preisen kriegen können; vielleicht auch schon, wenn sie gewußt hätten, was kaufenswert war – aber da hatten sie so bejammernswert wenig Ahnung! Denn hier in diesem neuen Land war ja alles anders, auch das Essen. Sie waren viel Räucherwurst gewöhnt, aber woher sollten sie wissen, daß die, die sie hier kauften, nicht die gleiche war wie die daheim – daß ihre Farbe von Chemikalien herrührte und ihr Räuchergeschmack ebenfalls und daß sie obendrein mit Kartoffelpülpe gestreckt war? Unter Pülpe versteht man den bei der Stärke- und Spiritusgewinnung aus Kartoffeln anfallenden Rückstand; ihr Nährwert ist gleich Null, und da in Europa ihre Verwendung als Zusatz für Viktualien unter Strafe steht, werden jährlich Tausende Tonnen davon in Pulverform nach Amerika verschifft. Es war erstaunlich, welche Unmengen solcher Lebensmittel elf hungrige Menschen täglich brauchten. Sie mit einem Dollar fünfundsiebzig pro Tag satt kriegen zu wollen war ein vergebliches Unterfangen, und so mußte jede Woche das klägliche kleine Sparkonto angegriffen werden. Da es auf ihren Namen lief, konnte Ona das vor ihrem Mann verheimlichen und den Kummer darüber allein tragen.

Für Jurgis wäre es besser gewesen, richtig krank zu sein, so daß er nicht hätte grübeln können. Denn er hatte ja keine der Ablenkungen, die Gehunfähige gewöhnlich haben; er konnte nur daliegen und sich von einer Seite auf die andere wälzen. Ab und zu verfiel er ins Fluchen, ohne irgendwelche Rücksichten zu nehmen; hin und wieder gewann auch die Ungeduld in ihm die Oberhand, so daß er unbedingt aufstehen wollte und die arme Elzbieta ihm das verzweifelt ausreden mußte. Elzbieta war die meiste Zeit allein mit ihm; ganze Stunden setzte sie sich zu ihm, bemüht, seine düstere Stimmung zu vertreiben und ihn auf andere Gedanken zu bringen. Manchmal konnten die Kinder der Kälte wegen nicht zur Schule gehen, und dann mußten sie in der Küche spielen, wo Jurgis lag, weil das der einzige halbwegs warme Raum im Haus war. Da wurde Jurgis unangenehm brummig wie ein gereizter Bär, was man ihm aber nicht verübeln konnte, denn er hatte genug Sorgen, und wenn er mal versuchen wollte, ein bißchen zu schlafen, dann aber von lärmenden Kindern gestört wurde, war das wirklich hart.

Eine große Hilfe für Elzbieta in dieser Zeit bildete der kleine Antanas, ja es ließe sich schwer sagen, wie sie es hätte schaffen sollen, wäre nicht der Junge gewesen. Es war Jurgis’ einziger Trost während des langen Eingesperrtseins, daß er jetzt Muße hatte, sein Kind zu beobachten. Elzbieta stellte den Wäschekorb, in dem das Baby schlief, neben seine Matratze, und auf den Ellbogen gestützt, betrachtete Jurgis es stundenlang und träumte dabei vor sich hin. Dann schlug der Kleine, der jetzt schon anfing, seine Umwelt wahrzunehmen, die Augen auf und lächelte – und wie er lächelte! Da vergaß Jurgis seinen Kummer und war glücklich, weil er in einer Welt lebte, in der es etwas so Schönes gab wie das Lächeln des kleinen Antanas, und weil eine solche Welt im Kern doch gut sein mußte. Der Junge werde seinem Vater mit jeder Stunde ähnlicher, sagte Elzbieta, und sie sagte es sehr oft, denn sie sah, daß es Jurgis freute; die verzagte arme Frau überlegte Tag und Nacht, wie sie den ans Lager gefesselten Riesen, der ihrer Obhut anvertraut war, bei Laune halten könnte. Jurgis, der nichts von den weiblichen Verstellungskünsten wußte, die so alt sind wie die Welt, schluckte den Köder und strahlte vor Freude; dann hielt er seinen Finger vor Antanas’ Augen, führte ihn hin und her und lachte vergnügt, wenn er sah, daß das Baby ihm folgte. Kein Heimtier kann so faszinierend sein wie ein Baby; der Kleine schaute ihn so unheimlich ernst an, daß Jurgis rief: »Palauk! Sieh doch, Muma, er kennt seinen Papa! Wirklich, das tut er! Tu mano szirdele, mein Herzchen, du!«