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Als Ladenbesitzer kannte
Jokubas Szedvilas viele Leute, darunter auch einen der
Werkpolizisten von Durham, denen häufig aufgetragen wurde,
einstellungsgeeignete Arbeiter auszusuchen. Jokubas erklärte, er
habe es zwar noch nie probiert, aber er sei sicher, über diesen
Mann einigen seiner Freunde Arbeit verschaffen zu können. Nach
Beratung kamen sie überein, daß er es mit dem alten Antanas und mit
Jonas versuchen solle. Jurgis vertraute darauf, ohne fremde Hilfe
eine Stelle zu finden.
Wie wir bereits wissen, täuschte er sich darin nicht. Er war zu Brown gegangen und hatte dort erst eine halbe Stunde gestanden, als auch schon einer der Meister seine die anderen überragende Hünengestalt bemerkte und ihn heranwinkte. Die darauf folgende Unterhaltung war kurz und sachlich:
»Sprichst Englisch?«
»Nein. Li-tau-isch.« Jurgis hatte sich dieses Wort sorgsam einstudiert.
»Suchst Arbeit?«
»Je.« Nicken.
»Schon hier gearbeitet?«
»Nix verstehn.«
Zeichen und Gesten seitens des Meisters.
Heftiges Kopfschütteln von Jurgis.
»Kutteln kehren?«
»Nix verstehn.« Weiteres Kopfschütteln.
»Zarnos, Pagaiksztis. Szluota!« Vorführende Bewegungen.
»Je.«
»Siehst die Tür da? Durys?« Hinzeigen.
»Je.«
»Morgen früh, sieben Uhr. Verstehst? Rytoi! Prieszpietis! Septyni!«
»Dekui, tamasti!« (»Danke, Euer Wohlgeboren!«)
Das war’s schon. Jurgis wandte sich zum Gehen, und da erst durchwallte es ihn heiß, ging ihm plötzlich auf, daß er es geschafft hatte. Er stieß einen Freudenschrei aus, machte einen Luftsprung und begann zu rennen. Er hatte Arbeit! Er hatte Arbeit! Den ganzen Weg heim lief er, als trügen ihn Flügel, und er stürmte wie ein Wirbelwind ins Haus, sehr zur Empörung zahlreicher Schlafburschen aus der Nachtschicht, die gerade erst zu Bett gegangen waren.
Inzwischen war Jokubas bei dem Werkpolizisten gewesen. Der hatte sich nicht ablehnend gezeigt und gesagt, er wolle sehen, was sich tun läßt. So waren nun alle glücklich, und da sich heute sonst nichts mehr unternehmen ließ, übergab Jokubas den Laden der Obhut von Lucija und zog mit seinen Freunden los, um ihnen die Sehenswürdigkeiten von Packingtown zu zeigen. Er tat das mit der Pose eines Landedelmannes, der Gäste auf seinem Besitz herumführt; er zählte ja schon zu den Eingesessenen, hatte all diese Wunder entstehen sehen und war persönlich stolz auf sie. Mochte der Grund und Boden auch den Fabrikanten gehören, die Landschaft nahm er für sich in Anspruch, und die machte ihm niemand streitig.
Sie gingen die belebte Straße hinunter, die zu den Yards führte. Es
war noch früher Vormittag, und überall herrschte morgendliche
Aktivität. Durch das Tor ergoß sich ein nicht abreißender Strom von
hier Beschäftigten – zu dieser Stunde keine Arbeiter, sondern
Angestellte, wie Kontoristen, Stenographinnen und dergleichen. Für
die Frauen standen zwei große zweispännige Wagen bereit, und sobald
sie besetzt waren, preschten sie davon. In der Ferne konnte man
wieder das Muhen der Rinder vernehmen; es klang wie Meeresrauschen.
Diesmal gingen sie ihm nach, aufgeregt wie Kinder, die im Zirkus
zur Tierschau wollen – und damit hatte das, was sie dann sahen,
tatsächlich einige Ähnlichkeit. Sie überquerten die Bahngleise, und
drüben kamen sie schließlich zu den sich auf beiden Seiten der
Straße hinziehenden Pferchen voller Rinder. Sie wären gern
stehengeblieben, um sie sich näher anzuschauen, aber Jokubas
drängte sie weiter zu einer Treppe, die auf eine Galerie führte,
von wo aus man alles überblicken konnte. Hier standen sie und
schauten; vor Staunen gingen ihnen die Augen über und stockte ihnen
der Atem.
Die Yards dehnen sich über eine Fläche von mehr als einer Quadratmeile aus, und über die Hälfte davon nehmen Rinderpferche ein; nach Norden und Süden erstreckt sich, so weit das Auge reicht, ein einziges Meer von Pferchen, Buchten und Boxen. Und die waren jetzt alle voll – nie hätte man gedacht, daß es so viele Rinder überhaupt gab. Rote Rinder, schwarze, weiße und gelbe Rinder, einfarbig und gefleckt; alte Rinder und junge Rinder; große brüllende Bullen und noch keine Stunde alte Kälbchen; sanftäugige Milchkühe und wilde Texas-Jungochsen mit langen Hörnern. Ihr Brüllen klang so, als käme es von sämtlichen Kuhställen und Rinderkoppeln der Welt zusammengenommen, und ihre Zahl – man hätte den ganzen Tag dazu gebraucht, auch nur die Pferche zu zählen. Zwischen diesen liefen lange Gassen entlang, die in Abständen durch Gattertore gesperrt waren, und Jokubas sagte, von diesen Toren gebe es fünfundzwanzigtausend. Er hatte vor kurzem einen Zeitungsartikel voller Statistiken dieser Art gelesen, und er war sehr stolz, als er sie jetzt wiederholte und seine Zuhörer mit einem Ausruf des Staunens reagierten. Auch Jurgis verspürte schon ein wenig vom gleichen Stolz. Hatte er nicht soeben hier Arbeit bekommen und war somit zum Beteiligten an dieser Aktivität, zu einem Rädchen in dieser wundervollen Maschine geworden?
Durch die Gassen kamen ab und zu Männer geritten, die Schaftstiefel trugen und lange Peitschen schwangen; sie wirkten sehr geschäftig, riefen einander und den Treibern laut Anweisungen zu. Es waren Groß-Rancher und Viehhändler, gekommen aus fernen Landesteilen, sowie Makler, Kommissionäre und Einkäufer für die großen Fleischfabriken. Hier und da hielten sie an und beschauten sich einen Posten Rinder. Danach begann das Handeln, zügig und ohne großes Palaver. Nickte der Käufer oder senkte er seine Peitsche, bedeutete das einen Abschluß, und er trug diesen in sein Büchlein ein, hinzu zu den hundert anderen, die er heute morgen schon getätigt hatte. Dann zeigte Jokubas den Platz, wohin die Rinder zum Wiegen getrieben wurden – auf einer riesigen Waage, die hunderttausend Pfund tragen konnte und das Gewicht automatisch angab. Sie standen in der Nähe des östlichen Eingangs, und die ganze Ostseite der Yards entlang laufen die Bahngleise, auf denen die Schlachttiere herangebracht werden. Die Nacht hindurch wären ununterbrochen Viehwagen gekommen, erklärte Jokubas, und jetzt seien die Pferche voll; am Abend würden sie sämtlich wieder leer sein, und dann gehe das Ganze von neuem los.
»Und was geschieht mit diesen vielen Geschöpfen?« rief Teta Elzbieta.
»Bis heute abend sind die alle geschlachtet, ausgenommen und zerteilt«, antwortete Jokubas. »Dort drüben hinter den Fleischfabriken befinden sich noch mehr Gleise. Die sind zum Abtransport.« In den Yards gebe es zweihundertfünfzig Meilen Eisenbahnschienen, berichtete ihr Führer weiter. Auf ihnen kämen jeden Tag rund zehntausend Rinder angerollt, die gleiche Anzahl Schweine und halb so viele Schafe – das bedeute, daß hier im Jahr acht bis zehn Millionen Lebendtiere zu Fleisch verarbeitet werden.
Während man so stand und schaute, erkannte man allmählich, wohin die Flut ging, nämlich in Richtung Fleischfabriken. Gruppenweise wurden die Rinder auf die Rampen getrieben, etwa fünf Meter breiten massiven Stegen, die über den Pferchen entlangliefen. Auf diesen Rampen zog ein nicht abreißender Strom von Tieren dahin; es war geradezu unheimlich mit anzusehen, wie sie ahnungslos ihrem Schicksal entgegendrängten, ein wahrer Todeszug. Unsere Freunde waren nicht poetisch veranlagt, und der Anblick bewog sie nicht zu Vergleichen mit dem Menschenlos; sie dachten nur daran, wie großartig das alles organisiert sei. Die Rampen für die Schweine führten weit hinauf, bis zu den obersten Stockwerken von Gebäuden im Hintergrund, und Jokubas erklärte, für den Transport der Schweine nutze man deren eigene Kraft: für den hinauf ihre Muskelkraft und für den wieder herunter – durch all die für ihre Umwandlung in Büchsenfleisch nötigen Verarbeitungsprozesse hindurch – ihre Schwerkraft.
»Hier wird überhaupt nichts ungenutzt gelassen«, sagte er, lachte und fügte ein Witzchen hinzu, von dem, wie er zu seiner Freude merkte, die anderen in ihrem schlichten Gemüt annahmen, es stamme von ihm: »Vom Schwein bleibt absolut nichts unverwertet – bloß für das Quieken hat man noch keine Verwendung gefunden.« Vor der Hauptverwaltung von Brown gibt es einen winzigen Flecken Rasen, und so wie dies das einzige Grün in ganz Packingtown ist, so ist dieser zum Repertoire aller Fremdenführer gehörende Witz vom Schwein und seinem Quieken der einzige Funken Humor, dem man dort begegnet.
Nachdem sie genug von den Pferchen gesehen hatte, ging die Gruppe die Straße hinauf zu dem Gebäudekomplex im Zentrum des Geländes. Die Wände dieser Backsteinhäuser, schwarz von unzähligen Schichten Packingtown-Ruß, waren von oben bis unten voller Reklameschilder, die dem Besucher plötzlich bewußt werden ließen, daß er an der Quelle so vieler Plagen seines Lebens stand. Dies also war die Wiege jener Produkte, mit deren Vorzügen man ihm ständig auf die Nerven ging – durch Plakatwände, die ihm auf Reisen den Genuß an der Landschaft verdarben, durch Werbeannoncen, die ihm aus Zeitungen und Zeitschriften ins Auge knallten, durch alberne kleine Reime, die sich zu Ohrwürmern auswuchsen, und durch kitschig-bunte Bilder, die hinter jeder Straßenecke auf ihn lauerten. Hier kam alles her: BROWNS FF. SAFTSCHINKEN, BROWNS QUALITÄTS-SPECK, BROWNSS ZARTES RINDFLEISCH IN PIKANTER SAUSSE, BROWNSS EXCELSIOR-WÜRSTCHEN und ebenso DURHAMS FEINSCHMALZ, DURHAMSS FRÜHSTÜCKS SPECK, DURHAMS CORNED BEEF, DURHAMSS BIERSCHINKEN, DURHAMSS PAPRIKA-HUHN, ja sogar DURHAMS SUPER-DOPPELDÜNGER!
Sie gingen in eines der Durham-Gebäude hinein. Dort warteten schon eine Anzahl anderer Besucher, und es dauerte nicht lange, da kam ein Führer, um mit ihnen eine Besichtigungstour durch das Werk zu machen. Man läßt es sich sehr angelegen sein, Fremden die Fabrikanlagen zu zeigen, denn das ist eine gute Werbung. Jokubas aber flüsterte boshaft, die Besucher bekämen nur das zu sehen, was die Fabrikanten sie sehen lassen wollen.
Sie stiegen eine lange Außentreppe hinauf, bis nach ganz oben, dem vierten oder fünften Stockwerk des Gebäudes. Hier führte die Rampe vorbei mit ihrem Strom von Schweinen, die alle geduldig emporgetrottet kamen; in einer Art Vorflur konnten sie noch einmal verschnaufen, und dann gelangten sie durch eine weitere Passage in jenen Raum, aus dem kein Schwein mehr lebend herauskommt.
Es war eine langgestreckte Halle mit einer längslaufenden Besuchergalerie. Am hinteren Ende befand sich ein großes Eisenrad von etwa sechs Meter Umfang, an dessen Kranz in Abständen Ringe angebracht waren. Rechts und links von diesem Rad blieb nur ein schmaler Zwischenraum, und da hinein gelangten die Schweine am Ende ihrer Reise. Mitten unter ihnen stand ein großer, stämmiger Neger mit nacktem Oberkörper. Im Moment hatte er gerade eine kurze Pause eingelegt, denn das Rad ruhte, während ein paar Leute rasch saubermachten. Ein, zwei Minuten später aber begann es sich zu drehen, und nun sprangen die Männer zu seinen beiden Seiten an die Arbeit. Sie hatten Ketten, und davon schlangen sie jeweils das eine Ende dem vordersten Schwein um ein Bein und hakten das andere in einem der Ringe an dem Rad ein. Durch dessen Drehung verlor das Tier dann plötzlich den Boden unter den Füßen und wurde hochgerissen.
Im selben Augenblick ertönte ein Schrei, der durch Mark und Bein ging. Erschrocken fuhren die Besucher zusammen; die Frauen erbleichten und wichen zurück. Es folgte ein weiterer Schrei, lauter noch und herzzerreißend – denn hatte das Schwein diese Reise einmal angetreten, winkte ihm keine Wiederkehr mehr; war es oben am Scheitel des Rades angelangt, wurde es an seiner Kette auf eine Transportschiene übergeleitet, und an der schwebte es dann die Halle entlang. Inzwischen wurde ein zweites hochgerissen, ein drittes, ein viertes und immer so weiter, bis sie in Doppelreihe da baumelten, jedes aufgehängt an einem Bein, wild um sich schlagend – und quiekend! Der Lärm war grauenhaft; er drohte das Trommelfell zu zerreißen, und man befürchtete, daß dieser Krach die Wände sprengen oder die Decke zum Einsturz bringen müsse. Da war hohes Quieken und tiefes Quieken, grimmiges Grunzen und qualvolles Wimmern; zwischendurch verebbte es mal kurz, setzte aber gleich wieder von neuem ein, noch greller und durchdringender, schwoll an, wie es ohrenbetäubender nicht mehr ging. Für manche der Zuschauer war es zuviel – die Männer schauten einander an und lächelten verkrampft; die Frauen standen mit zusammengepreßten Händen da, das Blut schoß ihnen ins Gesicht, und ihre Augen wurden feucht.
Von all dem ungerührt, verrichteten die Leute unten ihre Arbeit; Todesschreie von Schweinen und Tränen von Besuchern ließen sie völlig kalt. Sie packten die Tiere eines nach dem anderen und stachen sie blitzschnell ab. In der langen Reihe Schweine versiegte das Quieken zusammen mit dem Herzblut, bis schließlich jedes der nun toten Tiere an seinem Haken wieder weiterrückte, dann in einen riesigen Kessel mit kochendem Wasser plumpste und darin verschwand.
Alles erfolgte derart methodisch, daß man gebannt zuschaute. Es war Schlachten per Fließband, Schweinefleischgewinnung mittels angewandter Mathematik. Dennoch konnte selbst der unsentimentalste Mensch nicht umhin, an die Tiere zu denken. Sie waren so arglos, trotteten so vertrauensselig herbei, wirkten in ihrem Protest so menschlich – und waren mit ihm so im Recht! Sie hatten nichts verbrochen, womit sie das verdient hätten, und zu dem Unrecht kam noch die Demütigung, die kaltblütige, unpersönliche Weise, wie man sie hier ins Jenseits beförderte, ohne auch nur die Vorspiegelung einer Abbitte, ohne Opferung einer einzigen Träne. Gewiß, die Zuschauer weinten schon manchmal, aber diese Schlachtmaschine lief ja auch, wenn gar keine da waren. Was hier vor sich ging, war wie ein Verbrechen, das in einem Verlies begangen wird, unbemerkt und unbeachtet, vor aller Augen verborgen und sogleich aus dem Bewußtsein verdrängt.
Man konnte da nicht lange zusehen, ohne ins Philosophieren zu kommen, ohne auf Gleichnisse zu verfallen, Sinnbilder zu sehen und das Schweinequieken des ganzen Alls zu hören. Sollte es wirklich nirgendwo auf der Erde oder über der Erde einen Himmel für Schweine geben, wo sie für all ihre Leiden entschädigt werden? Jedes dieser Schweine stellte doch ein Geschöpf für sich dar; manche waren rosa, andere schwarz oder braun, wieder andere gefleckt; manche waren alt, manche jung, manche waren rank und schlank, manche dick und fett. Und jedes hatte seine Individualität, seinen eigenen Willen, seine Wünsche und Hoffnungen; jedes besaß Selbstgefühl und Würde. Vertrauensvoll und stark im Glauben war es seinen Geschäften nachgegangen, während die ganze Zeit ein schwarzer Schatten über ihm schwebte und ein schreckliches Verhängnis seiner harrte. Und jetzt schlug dieses Schicksal plötzlich zu, kam wie ein Raubvogel herabgestürzt und packte es am Bein. Brutal vollzog es seinen Willen an ihm, gefühllos gegen alles Protestieren und Schreien des Tieres, so als hätte dieses überhaupt keine Empfindungen – es schnitt ihm die Kehle durch und schaute zu, wie es sein Leben aushauchte. Sollte man da nun glauben, daß es nirgendwo einen Gott der Schweine gebe, dem diese Schweinepersönlichkeit teuer ist, dem diese Schreie und Todesqualen etwas bedeuten? Der das Schwein dann in die Arme nimmt und es tröstet, der es für sein wohlgetanes Werk belohnt und ihm den Sinn seines Opfers klarmacht? Ein Schimmer von all dem war wohl auch in den schlichten Gedanken unseres Jurgis, als er sich zum Weitergehen mit den anderen wandte und murmelte: »Dieve – was bin ich froh, kein Schwein zu sein!«
Das tote Tier wurde maschinell aus dem Kessel geschöpft und fiel dann ins nächste Stockwerk hinunter, wobei es unterwegs einen wunderbaren Mechanismus mit zahlreichen Schabmessern durchlief, der sich automatisch seiner Größe und Form anpaßte. Hatte es ihn passiert, waren fast alle Borsten entfernt. Dann wurde es, ebenfalls maschinell, wieder aufgehängt und auf eine weitere Drahtseilfahrt geschickt, diesmal zwischen zwei Reihen von Männern hindurch, die auf einer erhöhten Plattform saßen und die jeder einen bestimmten Handgriff ausführten, wenn das Schwein an ihnen vorbeikam. Einer schabte die Außenseite eines Beins ab, ein anderer die Innenseite. Einer führte einen schnellen Schnitt um den Hals herum, ein anderer trennte mit zwei raschen Hieben den Kopf ab, der auf den Boden fiel und durch ein Loch verschwand. Einer schlitzte den Bauch auf, ein zweiter erweiterte die Öffnung, ein dritter zersägte das Brustbein, ein vierter löste die Innereien, ein fünfter zog sie heraus, und auch sie glitten durch ein Loch im Fußboden davon. Da saßen Männer, die die Seiten und den Rücken schabten, und andere, die den Körper innen sauberputzten und auswuschen. Blickte man den Saal hinunter, sah man eine hundert Meter lange Reihe hängender Tierleiber, die sich langsam vorwärtsbewegte, und alle Meter gab es einen Mann, der werkte, als hetze ihn ein Teufel. Hatte das Schwein dieses Ausschlachtband durchlaufen, war jeder Zoll von ihm mehrmals bearbeitet worden, und dann wurde es in die Kühlhalle gekarrt, wo es vierundzwanzig Stunden blieb und in der sich ein Fremder in einem Wald gefrierender Schweine verirren konnte.
Doch ehe es dort hineindurfte, mußte es erst noch durch die Fleischbeschau, vorgenommen von einem bundesamtlich bestallten Herrn, der am Eingang saß und die Halsdrüsen auf Tuberkulose abfühlte. Dieser Mann machte keinen überarbeiteten Eindruck; er stand offenbar nicht unter der Angst, das Schwein könne weiterziehen, ehe er mit seiner Untersuchung fertig war. Zeigte man sich interessiert, ließ er sich bereitwillig in eine Unterhaltung ein und erklärte die tödliche Wirkung der Ptomaine in tuberkulösem Schweinefleisch, und während er so mit einem plauderte, konnte man schwerlich so undankbar sein und bemerken, daß derweilen zehn, zwölf Tierkörper ungeprüft an ihm vorbeirollten. Zum Zeichen seiner Würde trug der Fleischbeschauer ein imposantes silbernes Abzeichen; es verlieh der Szene etwas Amtliches, drückte allem, was bei Durham geschah, sozusagen den Stempel behördlicher Billigung auf.
Jurgis lief mit den anderen an dem Schlachtband entlang und bekam vor Staunen den Mund nicht mehr zu. Daheim in Litauen hatte er selber schon beim Schweineschlachten mitgemacht, aber nie hätte er sich träumen lassen, jemals zu erleben, daß ein einziges Schwein von mehreren hundert Männern ausgeschlachtet wird. Das erschien ihm einfach wunderbar, und er nahm alles ohne kritische Gedanken auf – selbst die nicht zu übersehenden Schilder, die die Arbeiter zu peinlichster Sauberkeit ermahnten. Es ärgerte ihn sogar ein wenig, daß der zynische Jokubas diese Schilder mit spöttischen Kommentaren übersetzte und sagte, er könne sie ja mal in die geheimen Räume führen, in die verdorbenes Fleisch zu chemischer Behandlung kommt.
Die Gruppe stieg ins nächste Stockwerk hinunter und kam dort zunächst durch Abteilungen, wo man die Neben- und Abfallprodukte verarbeitete. In der einen wurden die Gedärme entzottet und gewaschen, um dann als Wursthäute Verwendung zu finden; hier arbeiteten Männer und Frauen inmitten so ekelerregenden Gestanks, daß sich die Besucher die Nase zuhielten und weitereilten. In einem anderen Raum wurden all die Reste und Schabsei »ausgezogen«, das heißt, man kochte das Fett heraus, um aus ihm Schmalz und Seife herzustellen. Auch hier waren die Düfte so, daß die Gruppe nicht lange verweilte. Anschließend wurde sie durch jenen großen Saal geführt, wo das Zerteilen der Schweinekörper erfolgte, die ihre Zeit in der Kühlhalle hinter sich hatten. Als erste traten die »Spalter« in Aktion, die bestbezahlten Facharbeiter vom ganzen Werk, die bis zu fünfzig Cent Stundenlohn hatten und von morgens bis abends nichts anderes taten, als Schweine der Länge nach durchzuteilen. Nach ihnen kamen die »Zerleger«, Riesenkerle mit Muskeln aus Eisen; jeder von ihnen hatte zwei Gehilfen, die ihm die Schweinehälfte auf dem Tisch zurechtschoben und festhielten, während er sie durchhackte, und danach die Teile so hindrehten, daß er sie noch einmal durchhauen konnte. Seine Axt hatte eine halbmeterlange Klinge, und er hackte immer nur einmal zu, das allerdings so geschickt und mit so genau dosierter Kraft, daß die Schneide nicht durchschlug und stumpf wurde. Die einzelnen Teile glitten durch diverse klaffende Löcher im Fußboden ins darunterliegende Geschoß: in einen Raum die Keulen, in einen anderen die Vorderviertel, in einen dritten die Seitenstücke. Man konnte dorthin hinuntersteigen und die Pökelräume besichtigen, wo die Schinken in Bottiche eingelegt wurden, und auch die großen Räucherkammern mit ihren luftdichten Eisentüren. In weiteren Sälen bereitete man gepökeltes Schweinefleisch – in solchen Mengen, daß es sich in den riesigen Kellern bis zur Decke stapelte. In wieder anderen Abteilungen verpackte man Fleisch in Kisten und Fässer und wurden Schinken und Speckseiten in wasserfestes Ölpapier gewickelt und dann etikettiert und zugenäht. Von den Türen dieser Räume schoben Männer vollbeladene Karren hinüber zur Bahnrampe, wo Waggons auf Beladung warteten, und beim Hinausgehen dort stellte man plötzlich überrascht fest, daß man mittlerweile schon ins Parterre dieses gewaltigen Gebäudes gelangt war.
Dann begab sich die Gruppe auf die andere Seite der Straße, dorthin, wo die Rinder geschlachtet wurden – jede Stunde vier- bis fünfhundert Stück. Anders als in dem eben besichtigten Gebäude wurden hier sämtliche Arbeitsgänge in ein und demselben Stockwerk ausgeführt, und statt nur einer Reihe von Tierleibern, die an den Arbeitern vorbeizog, gab es deren fünfzehn oder zwanzig und bewegten sich die Männer von einer zur anderen. Das verlieh der Szene intensive Aktivität, machte sie zu einem herrlich anzuschauenden Bild menschlicher Leistungskraft. Alles spielte sich in einer einzigen großen Halle ab, die gleichsam ein riesiges Zirkusrund bildete und in der Mitte von einer erhöhten Zuschauergalerie überquert wurde.
An der einen Seite lief ein Stückchen über dem Boden ein schmaler Gang entlang. In den wurden die Rinder von Männern mit elektrischen Treibstöcken hineindirigiert, und zwar so, daß sie in engen Einzelboxen landeten. In diesen sogenannten »Tötefallen« gefangen, blieb ihnen kein Platz zum Umdrehen, und während sie brüllend und stampfend dastanden, lehnten sich die mit riesigen Hämmern bewaffneten »Betäuber« über die Boxen und warteten eine günstige Gelegenheit zum Anbringen eines Schlages ab. Von den schnell aufeinanderfolgenden dumpfen Schlägen hallte der ganze Raum wider. Kaum war das Rind zusammengebrochen, wandte sich der Betäuber schon dem nächsten zu, während ein zweiter Mann einen Mechanismus betätigte, der die eine Boxwand hochgehen ließ, so daß das Tier, noch immer ausstoßend und zuckend, aus der Falle mit ihrem leicht schrägen Boden hinausrutschte. Dann ging der »Aufhänger« ans Werk: Er schlang das eine Ende einer Kette um das Hinterbein und hakte das andere in eine herabhängende Zugvorrichtung ein. Ein vierter Mann, »Heber« genannt, drückte von einer hoch oben entlangführenden Laufplanke aus einen Hebel nieder, und der massige, schwere Körper wurde in die Luft gehievt. Es gab fünfzehn oder zwanzig solcher Boxen, und die entsprechende Zahl Rinder zu töten und aufzuhängen war Sache von ein, zwei Minuten. Dann öffneten sich die Schranken erneut, und der nächste Schub drängte herein. So rollte aus jeder der Fallen ein steter Strom von Tieren hinüber zum Ausschlachten.
Wie dies dann geschah, war sehenswert und blieb dem Zuschauer unvergeßlich. Die Männer arbeiteten ruckzuck und buchstäblich im Laufschritt. Alles hier war hochspezialisierte Arbeit, und jeder hatte seine festumrissene Aufgabe. Meist bestand sie darin, zwei, drei ganz bestimmte Schnitte auszuführen, und der Mann ging die Reihe der fünfzehn oder zwanzig Rinder entlang und nahm sie an jedem davon vor. Als erster war der »Stecher« dran, der die Tiere zum Entbluten bringen mußte. Er tat das durch einen Stich ins Herz, so schnell geführt, daß man ihm gar nicht mit den Augen folgen konnte – man sah nur das Messer aufblitzen, und noch ehe man das richtig wahrgenommen hatte, war er schon zur nächsten Reihe gerannt und schoß ein hellroter Sturzbach auf den Fußboden. Auf dem stand bereits zollhoch Blut, obwohl ein paar Männer unentwegt bemüht waren, es in Abflußlöcher zu schwabbern. Es mußte ihn glitschig machen, worauf man aber, wenn man das Tempo der Leute sah, niemals kommen würde.
Das Rind hatte ein paar Minuten zum Entbluten hängenzubleiben, doch ging dadurch keine Zeit verloren, da ja in jeder Reihe mehrere hingen und eines immer fertig war. Dann wurde es auf den Boden heruntergelassen, und schon war der »Kopfschlächter« da, um mit zwei, drei raschen Schnitten den Kopf abzutrennen. Danach kamen die »Enthäuter«: Der erste schlitzte die Haut auf, ein zweiter löste sie bis zur Brust, und fünf, sechs weitere zogen sie dann ganz ab, alles in rascher Folge. Während ein Mann mit einem Stecken das Fell untersuchte, ob es auch nicht eingeschnitten war, und ein anderer es zusammenrollte und durch eines der unvermeidlichen Löcher im Fußboden verschwinden ließ, wurde das enthäutete Tier wieder hochgezogen und auf die Weiterreise geschickt. Da waren Männer, die es ausnahmen und abschabten, Männer, die es durchteilten und zerlegten, Männer, die ihm die Füße abhackten sowie letzte Handgriffe taten, und Männer, die es schließlich mit kochendem Wasser abspritzten. Nach Durchlaufen des Ausschlachtbandes wurde, genau wie bei den Schweinen, das fertige Rindfleisch in die Kühlhalle gefahren, um die vorgeschriebene Zeit abzuhängen.
Man führte die Gruppe da hinein und zeigte ihr, wie die Rinderviertel dort hingen, ordentlich aufgereiht und deutlich sichtbar mit dem Anhänger des Fleischbeschauers versehen; einige, die nach einer speziellen Methode geschlachtet waren, trugen das Etikett des »Koscher-Rabbis«, das sie zum Verkauf an orthodoxe Juden freigab. Die Besichtigungstour ging dann weiter durch andere Trakte des Gebäudes, wo man sehen konnte, was aus den einzelnen durch den Fußboden verschwundenen Abfällen wurde, und schließlich noch durch die Pökel- und Einsalzräume, die Konservenabteilung und die Verpackungshalle, wo Fleisch der Güteklasse zum Versand in Kühlwagen fertig gemacht wurde, um später in aller Herren Länder verzehrt zu werden. Hinterher trat die Gruppe hinaus ins Freie und wanderte durch das Labyrinth von Gebäuden mit Neben- und Zulieferbetrieben dieser Riesenindustrie. Es gab kaum etwas, das in der Branche gebraucht wurde und das von Durham & Co. nicht selbst hergestellt wurde. Man hatte nicht nur ein Dampfkraft- und ein Elektrizitätswerk, sondern auch eine Kesselschmiede und eine große Faßbinderei. Da war ein Haus, wohin durch Röhren das Fett geleitet wurde, um zu Schmalz und zu Seife verarbeitet zu werden, und gleich daneben lagen eine Schmalzbüchsen- und eine Seifenkistenfabrik. In einem anderen Gebäude wurden Schweineborsten gereinigt, getrocknet und zu Haarkissen sowie ähnlichen Dingen verarbeitet, in einem dritten Häute gegerbt, in einem vierten Köpfe und Füße zu Leim gekocht und in einem fünften Knochen zu Dünger zermahlen. Nicht das kleinste Fitzelchen organischer Materie blieb bei Durham ungenutzt. Aus den Rinderhörnern machte man Kämme, Knöpfe, Haarspangen und Elfenbein-Imitat, aus den größeren Knochen Messergriffe, Zahnbürstenstiele und Pfeifenmundstücke, aus den Hufen Haarspangen und Knöpfe, und was dabei noch abfiel, wanderte in die Leimfabrik. Aus Füßen, Gelenkknorpeln, Sehnen und Fellresten entstanden seltsamste Produkte wie Gelatine, Glutinleim und Phosphor, Tierkohle, Schuhwichse und Knochenöl; aus den Mägen stellten sie Pepsin her, aus dem Blut Albumin und aus den übelriechenden Därmen Geigensaiten. Die Schwanzquasten der Rinder wurden zu Polstermaterial verarbeitet, und für die Schaffelle hatte man eine eigene Wollzupferei.
War etwas anderweitig nicht verwendbar, tat man es erst in einen
Bottich, um auch den letzten Rest Talg und Schmalz herauszukochen,
und dann wurde Dünger daraus gemacht. All das geschah in ringsum
liegenden Gebäuden, die durch Gänge und Gleise mit dem Hauptbau
verbunden waren. Man schätze, informierte Jokubas seine Begleiter,
daß seit der Gründung des Werkes durch den alten Durham hier
annähernd eine Viertelmilliarde Tiere durchgegangen ist. Nehme man
die anderen Firmen mit hinzu – und tatsächlich sei ja jetzt alles
ein zusammenhängender Komplex –, bilde das die größte Anballung von
Arbeitskraft und Kapital, die es je an einem Ort gegeben hat. Die
Yards beschäftigten dreißigtausend Leute, und in der Umgebung gäben
sie zweihundertfünfzigtausend Menschen ihr Brot, indirekt sogar
einer halben Million. Sie verschickten ihre Produkte in alle Länder
der zivilisierten Welt, lieferten Lebensmittel für nicht weniger
als dreißig Millionen Erdbewohner!
Unsere Freunde hörten das alles mit offenem Munde an. Daß so Kolossales von Sterblichen ersonnen sein konnte, ging über ihre Begriffe. Jurgis empfand es deshalb fast schon als ruchlos, daß Jokubas so skeptisch davon sprach. Es war etwas so Gewaltiges wie das Weltall – und genausowenig wie dessen Wege und Gesetze ließen sich jene, nach denen dies hier alles arbeitete, in Frage stellen oder auch nur verstehen. Ein bloßer Mensch, so schien es Jurgis, konnte etwas derartiges nur als gegeben hinnehmen und tun, was ihm aufgetragen wird; einen Platz darin zu erhalten, an dem wunderbaren Geschehen teilzuhaben sei eine Gnade, für die man dankbar sein muß, so wie man für Sonne und Regen dankbar ist. Jurgis war sogar froh, die Anlagen nicht schon vor seinem Erfolg gesehen zu haben, denn sicher hätte deren Größe ihn übermannt. Jetzt aber war er aufgenommen – er gehörte dazu! Er hatte das Gefühl, dieses Riesenunternehmen habe ihn unter seine Fittiche genommen und werde immer für sein Wohl sorgen. In seiner Naivität und in seiner Unkenntnis vom Geschäftsleben wurde ihm nicht klar, daß er als Arbeitnehmer von Brown in jenen mörderischen Konkurrenzkampf hineingezogen war, den Brown und Durham führten, ja führen mußten, weil ihnen die im Lande herrschenden Gesetze schwerste Strafen androhten, wenn sie einander nicht zu vernichten suchten!