24


Trotz all seiner Behinderungen mußte Jurgis, wenn er nicht erfrieren wollte, soviel Geld zusammenbetteln, daß er jede Nacht ein Schlafquartier und alle ein bis zwei Stunden einen Schnaps bezahlen konnte. Tag für Tag war er in der arktischen Kälte unterwegs, das Herz voller Bitterkeit und Verzweiflung. Er sah die zivilisierte Welt jetzt klarer als je zuvor: eine Welt, in der nur brutale Macht zählte, eine Ordnung, die sich die Besitzenden zur Unterdrückung der Besitzlosen erdacht hatten. Er gehörte zu den letzteren, und alles ringsum, das ganze Leben war für ihn ein einziger Käfig, in dem er auf und ab lief wie ein gefangener Tiger, der es an einem Gitterstab nach dem anderen versucht, sie aber sämtlich für seine Kräfte zu stark findet. Da er sich in der grimmigen Habgierschlacht nicht hatte halten können, war er dazu verdammt, vernichtet zu werden, und die ganze Gesellschaft paßte auf, daß er seinem Urteil nicht entging. Wohin er sich auch wandte, waren Kerkergitter, und überallhin folgten ihm feindselige Augen. Die wohlgenährten und geschniegelten Polizisten schienen ihre Knüppel fester zu packen, wenn sie ihn sahen; die Kneipenwirte ließen ihn keine Sekunde unbeobachtet, wenn er sich in ihren Gaststuben aufhielt, und mißgönnten ihm jede Minute, die er nach dem Bezahlen noch verweilte; die vorübereilenden Menschenmassen auf den Straßen blieben seinen Bitten gegenüber taub, ja nahmen nicht einmal seine Existenz zur Kenntnis, und drängte er sich ihnen auf, reagierten sie unwirsch und mit Verachtung. Sie hatten genug mit sich selbst zu tun, und für ihn war da kein Platz. Für ihn gab es überhaupt nirgends Platz – wohin er den Blick auch wandte, wurde ihm das nachdrücklich klargemacht. Alles war darauf angelegt, ihm das vor Augen zu führen: die herrschaftlichen Häuser mit ihren dicken Mauern, verriegelten Türen und vergitterten Souterrainfenstern; die gewaltigen Lagerhallen voller Erzeugnisse aus aller Welt, bewacht durch eiserne Rolläden und schwere Tore; die Banken mit ihren unermeßlichen Milliardenschätzen, vergraben in Panzerschränken und Stahlkammern.

 


Und dann widerfuhr Jurgis eines Tages das Abenteuer seines Lebens. Es war bereits sehr spät abends, und er hatte noch immer nicht das Geld für einen Schlafplatz zusammen. So lange lief er schon draußen herum, daß er von dem fallenden Schnee ganz bedeckt und auch völlig durchgefroren war. Er versuchte sein Glück bei den aus den Theatern strömenden Besucherscharen, rannte hierhin und dorthin und riskierte sehr viel mit der Polizei – festgenommen zu werden erschien ihm in seiner Verzweiflung beinahe schon wünschenswert. Als dann tatsächlich ein Uniformierter auf ihn zu wollte, verlor er jedoch den Mut, rannte in eine Seitenstraße hinein und floh ein paar Häuserblocks weit. Während er dort stand und verschnaufte, sah er einen Mann entgegenkommen, und er stellte sich ihm in den Weg.

»Entschuldigen Sie, Sir«, begann er seine übliche Litanei, »könnten Sie mir wohl bitte Geld für ein Nachtquartier geben? Ich habe mir den Arm gebrochen, kann nicht arbeiten und besitze keinen Cent mehr. Ich bin ein rechtschaffener Arbeiter und habe sonst noch nie gebettelt. Ich kann wirklich nichts dafür, Sir ...«

Gewöhnlich redete er so lange, bis er unterbrochen wurde, aber dieser Mann unterbrach ihn nicht, und so ging Jurgis am Ende der Atem aus. Der andere war stehengeblieben, und Jurgis sah, daß er ein wenig unsicher auf den Beinen stand.

»Wassassu gesagt?« fragte der Mann plötzlich mit schwerer Stimme.

Jurgis fing wieder von vorn an, diesmal langsamer und deutlicher.

Doch ehe er halb durch war, streckte der andere die Hand aus und legte sie ihm auf die Schulter. »Armer alter Junge«, sagte er. »Bis wohl – hick! – in Sch-schwulitäten, was?«

Dann schwankte er auf Jurgis zu, und die Hand auf dessen Schulter wurde zum Arm um den Nacken. »Da gehssir wie mir, mein Freund. Man hat’s nich leicht auffer Welt.«

Sie standen unweit einer Laterne, und so konnte Jurgis den anderen näher betrachten. Es war ein junger Bursche, kaum älter als achtzehn und mit hübschem Knabengesicht; er trug einen Zylinder und einen weichen, teuren Mantel mit Pelzkragen.

Wohlwollend und teilnahmsvoll lächelte er Jurgis an. »Hab leider selbs’n Engpaß, mein Guter«, sagte er. »Meine Alten sin – hick! – Raameltern. Sons wür’ch dir aushelfen. Un woran lieg’s bei dir?«

»Ich war im Krankenhaus.«

»Dassa Pech.« Der junge Mann lächelte noch immer liebenswürdig. »Genau wie meine Tanne Polly. Die’s auch inner Klinik. Is mit – hick! – Z-zwillingen niergekomm, ‘s liebe Tannchen. Un du, wassassu gehabt?«

»Ich hatte mir den Arm gebrochen ...« begann Jurgis.

»Oooch«, sagte der andere mitfühlend. »A’er trössich, das wächs wieder zusamm. Ich wünsch, mir tät mal einer den Arm brechen – im Ernst, wirklich! Dann würn sie mich besser behanneln. Hick! Hoppla, halt mich fest, Freund! Was kann ich für dich tun?«

»Ich habe Hunger, Sir«, antwortete Jurgis.

»Hunger? Warum hassu kein Aambrot gegessen?«

»Ich habe kein Geld, Sir.«

»Kein Geld? Haha, da sin wir ja Leinsgenossen, wir zwei beide! Bin nämich auch klamm – so gut wie blank. Warum machssu’s nich wie ich und gehs nach Hause?«

»Ich habe kein Zuhause«, sagte Jurgis.

»Wohns nich hier, bis von auswärs, ja? Da tussu mir leid. Na dann kommoch mimmir nach Hause ... Mann, dassa ü’erhaupt die Lösung: Komms missu mir, un wir speisen zusamm zu Aamd! Is so einsam, sin alle ausgeflogen. Der Chef is rüber nach Italien, Challie macht Flitterwochen, Polly hat Babies gekriegt – keine Menschenseele da! Kam-man – hick! –, kamman ja zum Saufen getriem wern! Bloß mit dem dämichen Hamilton dabei zum Serviern – nein, da schmeck’s einfach nich. Gehssu lieber immer in’n Club, sag ich mir. A’er schlafen lassen die mich da nich – Befehl von meim Alten. So was Belämmertes! ›Aams immer schön heim, Junior, issas klar?‹ Kannssir das vorstelln? ›Genüg’s nich auch morgens?‹ hab ich ihn gefragt. ›Minnichen, Junior. Enweder aams o’er kein Taschengeld.‹ Typisch mein Alter: kein bißchen – hick! – Herz! Un hat auch den blön Hamilton angewiesen, auf mich aufzupassen. Daß die Diensboten mir nachspioniern solln, issas nich schandbar? So’n netter, ruhiger un – hick! – gutherziger Junge wie ich, un sein Daddy kann nich nach Europa fahrn un – hups! – ihn in Frien lassen! Nu muß ich aams immer heim un verpaß den ganzen Spaß, verflix noch mal! So sieh’s aus, un darum bin ich jetz hier. Mußte weg un Kitty allein lassen - hick! un geweint hat sie auch noch! Wie finssen das? ›Muß nu von dir scheiden, holder Schatz‹, hab ich – hick! – gesagt. ›Die Pf-pflicht, sie ruft mich fort. Leb wohl, leb wohl, mein treues Lieb – leb wohl, leb wohl, mein treues Liehiehieb!‹«

Das letzte war ein Lied, und der um Jurgis’ Hals hängende junge Herr sang es nicht nur sehr gefühlvoll und elegisch, sondern auch sehr laut. Ängstlich sah Jurgis sich um. Doch es kam niemand.

»A’er ich bin trossem gegangen«, fuhr der andere energisch fort. »Ich kammich – hick! – schon durchsetzen, wenn ich will. Jawoll, kann ich! Freddie Jones is nich zu bremsen, wenn er ers mal in Fahrt is! ›Nix da‹, hab ich gesagt, ›zum Donnerawetter noch mal! Un mich brauch auch keiner nach Hause zu bringen! Für was hälssu mich denn? Für blau, nich? Ich weiß, wassu denks. A’er ich bin nich blauer alssu, Kittymaus.‹ Sagt sie drauf: ›Da hassu nich unrecht, Freddielein‹ – is’n kluges Kind, die Kitty – ›doch ich kann hier im Appattmang bleim, un du muß raus innie kalte, kalte Nacht!‹ – ›Heb dir das lieber fürn Gedicht auf, Schätzchen‹, sag ich. Sagt sie: ›Nu mach kein Kaleika, Freddieboy, sonnern sei ‘n braver Junge un laß mich ‘ne Droschke rufen.‹ A’er ich kammir meine Droschken alleine rufen – ich mach mich doch nich lächerlich! Weiß schließlich noch - hick! –, was ich tu! Also, mein Freund, was is nu: Gehssu mit un speist mimmir zu Aamd? Komm, sei kein Frosch – vergiß dein Stolz. Du bis in Sch-schwulitäten, un mir geh’s genauso, un du verstehs mich, hassas Herz auffem rechen Fleck, jawoll, hassu! Kommt mit, alter Sch-schwede, un wir zünnen bei uns die Festbeleuchtung an un bringen Leem innie Bude! Juchhu! Solang ich zu Hause bleib, kann ich tun un lassen, was ich will – hat der Chef selbs gesagt, hat er, jawollja! Juchhuuu!«

Arm in Arm hatten sie sich die Straße hinunter in Gang gesetzt, wobei der junge Mann Jurgis voranschob. Noch halb verwirrt überlegte der angestrengt, was er machen sollte – er wußte, daß er mit seinem neuen Bekannten in keine belebte Gegend kommen konnte, ohne Aufmerksamkeit zu erregen und angehalten zu werden. Nur weil die Schneeflocken so dicht fielen, achtete keiner der hier Vorübergehenden auf sie.

Deshalb blieb Jurgis plötzlich stehen. »Ist es sehr weit?« fragte er.

»Nich sehr«, sagte Freddie. »Bis wohl müde? Na dann fahrn wir doch – was meinssu? Gut, ruf uns ‘ne Droschke.« Und während er sich mit der einen Hand an Jurgis festhielt, begann er mit der anderen in seinen Taschen zu suchen. »Du rufs, un ich zahle«, schlug er vor. »Einverstann?«

Irgendwoher zog er ein dickes Bündel Banknoten heraus. Es war mehr Geld, als Jurgis jemals im Leben gesehen hatte, und bestürzt starrte er darauf.

»Sieht aus wie’n Riesenbatzen, was?« sagte Freddie und fummelte daran herum. »Is a’er nich – alles bloß kleine Scheine. Eine Woche noch, un ich bin total abgebrannt. Wirklich, Ehrnwort! Un vorm Erssen krieg ich kein Cent mehr. Anweisung vom Alten: nich eine – hick! – lausige Puseratze! Is zum Verrücktwern! Hab ihm heut nachmittag ‘n Telegramm geschickt – das is mit ‘n Grund, warum ich – hick! – heimgeh. ›Bin am Verhungern‹, hab ich gekabelt. ›Rette Familienehre und schick mir Brot – stop – Hunger zwingt mich sonst dir nachzureisen – stop – Freddie.‹ Jawoll, das hab ich ihm telegraphiert, un das mach ich auch: Ich lauf vonner Schule weg, wenn er mir nichs schickt!«

In dieser Weise plapperte der junge Mann weiter – während Jurgis vor Aufregung zitterte. Er konnte ihm den Packen Scheine aus der Hand reißen und im Dunkel verschwunden sein, ehe der andere überhaupt begriffen haben würde, was geschehen war. Sollte er es tun? Was hätte er Besseres zu erhoffen, wenn er noch wartete? Aber Jurgis hatte noch nie im Leben etwas gestohlen, und jetzt zauderte er eine Sekunde zu lange.

Freddie hatte es inzwischen geschafft, einen Schein herauszuzupfen, und er stopfte den Rest wieder in seine Hosentasche. »Hier, mein Freund«, sagte er, »nimmas.« Mit unsicherer Hand hielt er ihm die Note hin.

Sie standen gerade vor einer Kneipe, und im Licht von deren Fenster sah Jurgis, daß es ein Hundert-Dollar-Schein war.

»Nimmas«, wiederholte Freddie. »Bezahl die Droschke un behalt den Rest. Ich bin nich gut im Rechen – mein Alter sagt, mir geht der Sinn für Geschäfte ab. Im Gegensatz zu ihm, denn er is darin ganz groß! ›In Ornung, Chef‹, hab ich zu ihm gesagt, ›schmeissu den Laan, un ich kassier!‹ Un nu soll Tanne Polly auf mich aufpassen. A’er die’s ja inner Klinik, un da kann ich – hick! – ein drauf machen. Hallo, heda! Hierher! Ruffu doch mal!«

Eine Droschke kam vorbei, Jurgis sprang hin und rief den Kutscher an. Der lenkte den Wagen an den Bordstein und hielt. Freddie kletterte mit einiger Mühe hinein, und Jurgis wollte ihm nach, doch der Kutscher protestierte: »Du nicht! Du bleibst draußen!«

Jurgis zögerte und wollte schon gehorchen, aber sein Gefährte bullerte los: »Wassatten der gegen dich? Wohl nich bei Trost, der Kerl?«

Da fügte sich der Kutscher drein, und Jurgis stieg ein. Dann gab Freddie eine Hausnummer am Lake Shore Drive an, und die Droschke fuhr los. Der junge Mann lehnte sich zurück und schmiegte sich unter zufriedenem Murmeln an Jurgis. Eine halbe Minute später war er fest eingeschlafen. Am ganzen Leibe bebend, saß Jurgis da und hoffte auf eine Gelegenheit, doch noch an das Bündel Geldscheine heranzukommen. Doch traute er sich nicht, seinem Gefährten die Taschen zu durchsuchen, und außerdem paßte vielleicht der Kutscher auf. Der Hunderter war ihm sicher, und damit würde er sich zufriedengeben müssen.

 


Nach etwa einer halben Stunde hielt der Wagen. Sie waren draußen am Seeufer; von Osten her kam ein eiskalter Wind über die zugefrorene Wasserfläche gefegt.

»Da wären wir«, sagte der Kutscher, und Jurgis rüttelte Freddie wach.

Der fuhr mit einem Ruck hoch. »Gu’n Morgen!« sagte er. »Wassen los? Wo sin wir? Wer bissen du? Ach ja, richig! Hab dich – hick! – beinah vergessen, alter Junge. Sin wir schon da? Mal sehn. Brrr, issas kalt! Ja, wir sin vorm Haus. Komm mit in meine – hick! – bescheidne Hütte!«

Vor ihnen ragte ein gewaltiger Granitbau auf, weit zurückgesetzt und von einer Querstraße bis zur anderen reichend. Im Licht der Auffahrtlaternen sah Jurgis, daß er Türme und mächtige Ziergiebel hatte wie ein mittelalterliches Schloß. Er dachte, der junge Mann müsse sich geirrt haben – es schien ihm unvorstellbar, daß ein Privathaus so groß wie ein Hotel oder wie das Rathaus sein konnte. Doch er folgte schweigend, und sie stiegen Arm in Arm die breite Freitreppe hinauf.

»Hier’s irgenwo ‘n Klingelknopf«, sagte Freddie. »Halt mich am Arm, bis ich ihn gefunnen hab. Langsam – so, da is er schon. Geschafft!«

Innen schellte es, und ein paar Sekunden später wurde die Haustür geöffnet. Ein Mann in blauer Livree hielt sie auf und starrte dabei stumm wie eine Statue geradeaus.

Einen Augenblick standen sie da und blinzelten ins Licht. Dann merkte Jurgis, daß sein Begleiter ihn weiterzog; er trat ein, und der blaue Automat schloß hinter ihnen die Tür. Jurgis klopfte das Herz; was er hier tat, war reichlich kühn – er hatte keine Ahnung, in welch fremden, unirdischen Ort er sich hineinwagte. Aladin konnte beim Betreten seiner Höhle nicht aufgeregter gewesen sein.

Wo Jurgis stand, war zwar nur schwaches Licht, doch konnte er eine große Eingangshalle ausmachen, mit sich hoch oben im Dunkeln verlierenden Säulen und am anderen Ende einer großen Treppe. Der Fußboden war spiegelglatter Marmor mit Einlegearbeiten, und an den Wänden zeichneten sich seltsame Figuren ab, die in satten, harmonischen Farben in riesige Behänge eingewebt waren oder purpurn, rot und golden aus Gemälden herausschimmerten, in dem Halbdunkel so schön und geheimnisvoll wie das Flimmern der Abendsonne in einem schattigen Wald.

Der Livrierte war schweigend näher getreten. Freddie nahm seinen Zylinder ab und reichte ihn ihm. Dann ließ er Jurgis’ Arm los und versuchte, aus seinem Mantel herauszukommen, was ihm aber erst mit Hilfe des Lakaien gelang. Inzwischen war ein zweiter Mann aufgetaucht, groß, stämmig und mit so ernster Miene wie ein Scharfrichter; er trug Butler-Dress. Unverzüglich steuerte er auf Jurgis zu, der ängstlich zurückwich, packte ihn ohne ein Wort am Ärmel und zog mit ihm in Richtung Haustür.

»Hamilton«, ertönte da plötzlich Freddies Stimme, »mein Freund bleibt hier!«

Der Mann hielt inne und lockerte seinen Griff.

»Komm, alter Junge«, sagte Freddie, und Jurgis ging zu ihm hinüber.

»Aber Master Frederick!« rief der Mann.

»Kümmern Sie sich darum, daß der Kutscher – hick! – bezahlt wird«, gab ihm Master Frederick zur Antwort und hakte sich bei Jurgis ein.

Der wollte schon sagen: »Das Geld dafür habe doch ich«, verschluckte es dann aber. Der Butler machte dem Diener ein Zeichen, woraufhin der zu der Droschke hinausging, während er selbst Jurgis und seinem jungen Herrn folgte.

Sie durchquerten die große Halle, wandten sich dann seitwärts und blieben vor einer hohen, zweiteiligen Schiebetür stehen.

»Hamilton?« sagte Master Freddie.

»Bitte, Sir?«

»Klemmen die Türn?«

»Nein, Sir.«

»Warum öffnen Sie sie uns dann nich?«

Der Butler schob sie zurück. Wieder sah man einen großen Raum, der sich im Dunkeln verlor. »Licht!« befahl Master Freddie, und der Mann drehte an einem Schalter, woraufhin sich von oben her strahlende Helligkeit ergoß, die Jurgis halb blendete. Er starrte in die Runde und erkannte allmählich ein saalartiges Speisezimmer mit gewölbter Decke, von der das Licht herabflutete, und mit Wänden, die ein einziges großes Gemälde waren: Hier tanzten Nymphen auf einer blumenübersäten Wiese, dort jagte Diana mit ihren Hunden und Pferden durch einen Bergbach, gegenüber badete eine Gruppe Mädchen in einem Waldteich – alle in natürlicher Größe und so lebensecht, daß Jurgis meinte, es müsse Zauberei im Spiele sein, und er sich in ein Märchenschloß versetzt glaubte. Dann wanderten seine Augen zu dem in der Mitte stehenden langen Tisch. Er war so schwarz wie Ebenholz und hatte Beschläge aus getriebenem Silber und Gold; auf ihm stand eine große gemeißelte Schale mit glänzend schimmernden Farngewächsen und rotvioletten Orchideen, die im Schein einer zwischen ihnen verborgenen Lampe erglühten.

»Das issas Speisezimmer«, erklärte Master Freddie. »Gefäll’s dir?« Da er bei jeder seiner Bemerkungen auf Antwort bestand, drehte er das Gesicht Jurgis zu und lächelte ihn an.

Jurgis gefiel das Zimmer.

»A’er zu groß, wennu allein drin essen solls«, lautete Freddies Kommentar. »Viel zu groß im unnemütlich! Was meinssu, hm?« Dann kam ihm ein anderer Gedanke, und ohne die Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Vleich hassu – hick! – so was noch nie gesehn, alter Junge?«

»Nein, hab ich auch noch nicht«, sagte Jurgis.

»Bis wohl vom Lande?«

»Ja.«

»Hab’s mir schon gedacht. ‘ne Menge Leute vom Lande ham so was noch nie gesehn. Mein Alter schleppt immer welche an. Kossenlose Besichigung – hick! – richiger Zirkus. Ham sie daheim was zu erzähln: das Haus vom alten Jones – Konserven-Jones – der vom Fleisch-Trust. Un alles mit Schweinen gemacht, der ausgekochte alte Gauner! Sieht mammal, wo unser Geld bleibt. Mengenrabatte un – hick! – eigne Bahnlinien! A’er seine Villa – phantassisch, einfach Klasse! Hassu schon mal was von Konserven-Jones gehört, alter Junge?«

Jurgis war unwillkürlich zusammengezuckt, und Master Freddie, dessen scharfen Augen nichts entging, fragte sofort: »Was issen? Kennssu ihn?«

Und Jurgis brachte stammelnd hervor: »Ich ... ich habe in den Yards gearbeitet.«

»Waaas?« rief Master Freddie. »Du? In den Yards? Mann, dassa ‘n Ding! Lassir die Flosse drücken, Junge! Jetz müsser Chef hier sein – der wür sich freun, dich kennßulern. Hat was für die Leute übrig, mein Alter: Arbeit un Kapital, Gemeinsamkeit der Intressen un so – hick! Hamilton, darf ich vorstelln: ein Freund der Familie – alter Bekannter vom Chef – aussen Yards. Is mich besuchen gekomm, Hamilton, wolln uns ‘n vergnügten Aamd machen. Mein Freund, Mr. ... Wie heissu eintlich, alter Junge? Sag uns mal dein Naam.«

»Rudkus. Jurgis Rudkus.«

»Mein Freund, Mr. Redkes – Hamilton. Gebt euch die Hand.«

Der vornehme Butler machte eine Verbeugung, jedoch nur mit dem Kopf, und sagte kein Wort.

Plötzlich richtete Master Freddie den Finger auf ihn.

»Ich weiß, was Sie glaum, Hamilton. Wetten wir ‘n Dollar, daß ich’s weiß? Sie glaum, ich bin betrunken! Stimm’s?«

Der Butler nickte abermals. »Allerdings, Sir.«

Da hängte sich Master Freddie schwer an Jurgis’ Hals und schüttelte sich vor Lachen. »Hamilton, Sie Frechbold, Sie! Ich enlaß Sie noch mal wegen unverschämten Benehms, wern Sie schon erleem. Hahaha, ich un – hick! – betrunken! Haha!«

Die beiden warteten, bis sein Lachanfall vorüber war, gespannt, was ihm als nächstes einfallen würde.

»Was möchssu gerne?« fragte er plötzlich. »Willssu das Haus sehn? Soll ich mein Alten spieln un dich rumführn? Die Salongs: Lui-kängs – Lui-ßäs – Stühle Stück dreitausen Dollar. Teezimmer: Marie-Antnett – Gemälde Schäfertanz – Reusdaal – dreiunzwanzichausend. Ballsaal: Balkonsäuln mit – hick! – Spezialschiff aus Europa rüberkommen lassen – achzichausend – Decke in Rom gemalt. Wie heisser Bursche noch gleich, Hamilton? Mattatoni? Makkaroni? Dann hiers Speisezimmer: Silberschale von Benfenuto Schällini – auch so’n berühmter alter Italener. ‘s Hammonium – dreißig Mille – is automatisch. Stelln Sie’s an, Hamilton, damit’s Mr. Redkiss mal hört. Nein, lassen Sie’s sein – hab glatt vergessen, er hat ja gesagt, er is hungrig. Essen wir also was. A’er nich hier – hick! –, sonnern oben bei mir, da is es gemütlicher. Hier lang – Vorsicht, nich auffem Fußboon ausrutschen! Hamilton, wir wolln ‘ne kalte Platte und Schampus – daß Sie den Schampus ja nich vergessen! Ham Sie mich verstann?«

»Sehr wohl, Sir«, erwiderte der Butler. »Aber, Master Frederick, laut Anordnung Ihres Herrn Vaters ...«

Master Frederick richtete sich zu seiner ganzen Größe auf und sagte: »Die Anornungen von meim Vater sin für mich – hick! –, un nich für Sie!« Und dann wankte er, den Arm fest um Jurgis’ Nacken geschlungen, aus dem Zimmer hinaus. Dabei fiel ihm wieder etwas anderes ein, und er fragte: »Is ‘n – hick! – Telegramm für mich gekomm, Hamilton?«

»Nein, Sir«, antwortete der Butler.

»Dann musser Chef grade unnerwegs sein. Und was machen die Z-zwillinge, Hamilton?«

»Sie befinden sich wohlauf, Sir.«

»Na, dassa fein!« Und inbrünstig fügte er hinzu: »Gott segne sie, die liem Lämmchen!«

Langsam, immer nur eine Stufe auf einmal, stiegen sie die Treppe hinauf. Von deren oberen Ende schimmerte ihnen aus dem Schatten eine Statue entgegen: eine Nymphe, die an einem Quell hockte, hinreißend schön und in so warmen, gleichsam wie durchpulsten Farben gehalten, daß sie zu leben schien. Hier oben befand sich ein großer Lichthof mit Glaskuppel, von dem die einzelnen Zimmerfluchten abgingen. Der Butler war noch ein paar Minuten unten geblieben, um Anordnungen zu geben, und kam den beiden nun nach. Er drückte auf einen Schalter, und die Halle erstrahlte im Licht. Dann öffnete er ihnen eine Tür, und während sie hineinwankten, knipste er auch hier Licht an.

Der Raum war als Herrenzimmer eingerichtet. In der Mitte stand ein Mahagonitisch mit Büchern und Rauchgarnitur; die Wände schmückten College-Trophäen und Coleurs: Wimpel, Plakate, Photographien und dergleichen sowie Tennis-Rackets, Kanupaddel, Golf- und Poloschläger. Ein riesiger Elchkopf mit Geweih von fast zwei Meter Spannweite bildete das Pendant zu einem Büffelkopf an der Wand gegenüber, und auf dem Boden lagen Bären- und Tigerfelle. Es gab Clubsessel und Clubsofas, und die niedrigen Fensterbänke hatten weiche Polster in ausgefallenen Dessins; die eine Ecke war in persischem Stil gehalten, mit gewaltigem Baldachin und darunter einer edelsteinbesetzten Lampe. Auf der anderen Seite führte eine Tür in ein Schlafzimmer, und von dort ging es zu einem Schwimmbassin aus reinem Marmor, das seine vierzigtausend Dollar gekostet haben dürfte.

Master Freddie blieb einen Augenblick stehen und blickte sich suchend um. Da kam aus dem Zimmer nebenan ein Hund getrottet, eine unförmige Bulldogge, das häßlichste Geschöpf, das Jurgis je erblickt hatte. Der Hund gähnte, wobei er Zähne zeigte, die denen eines Drachen glichen, und lief dann zu dem jungen Mann hin.

»’n Aamd, Dewey!« rief sein Herrchen. »Hassu ‘n Nickerchen gemacht? Ja, issa gut ... He, was sollen das?« Der Hund knurrte Jurgis an. »A’er Dewey, das issoch mein Freund Mr. Redkiss, ‘n alter Bekannter vom Chef. Mr. Redkiss – Admiral Dewey; gebt euch Pfötchen – hick! Is er nich ‘n Prachkerl? Achenhalb Mille, a’er dafür hat er auffer Ausstellung in New York auch ‘n erssen Preis geholt! Issas nichs?«

Master Freddie sank in einen der großen Sessel, und Admiral Dewey legte sich darunter; er knurrte zwar nicht mehr, ließ aber Jurgis nicht aus den Augen. Er war stocknüchtern, der Admiral.

Der Butler hatte die Tür geschlossen und sich neben ihr postiert; er beobachtete Jurgis scharf. Dann hörte man draußen Schritte, und als er die Tür öffnete, kam ein Livrierter herein, der einen Klapptisch trug; ihm folgten zwei weitere Diener mit zugedeckten Tabletts. Sie standen wie aus Stein gehauen, während der erste den Tisch aufstellte und die Speisen von den Tabletts darauf servierte: kalte Pasteten, dünne Scheiben Fleisch, winzige butterbestrichene Sandwiches, von denen die Kruste weggeschnitten war, und als Dessert – jetzt, im Januar! – Pfirsiche mit Schlagsahne sowie Törtchen mit rosa, grüner, gelber und weißer Glasur. Dazu setzte er ein halbes Dutzend eisgekühlte Flaschen hin.

Als Master Freddie die erblickte, rief er begeistert: »Das is genau das Richige für dich! Komm, alter Junge, lassich nieder.«

Er setzte sich an den Tisch. Als der Diener eine Flasche entkorkt hatte, nahm er sie und schenkte sich ein Glas ein, kippte es hinunter und wiederholte diesen Vorgang gleich noch zweimal. Danach stieß er einen wohligen langen Seufzer aus und rief Jurgis wieder zu, er möge doch Platz nehmen.

Der Butler hielt den Stuhl gegenüber gefaßt, und Jurgis nahm an, er tue das, damit er sich nicht draufsetzen konnte. Schließlich aber ging ihm auf, daß er ihm den Stuhl nur unterschieben wollte, und so ließ er sich vorsichtig nieder.

Master Freddie merkte, daß die Diener seinen Gast verlegen machten, und er bedeutete ihnen mit einem Kopfnicken: »Ihr könnt gehn.«

Die drei entfernten sich, der Butler aber blieb.

»Das gilt auch für Sie, Hamilton«, sagte Master Freddie.

»Master Frederick ...« begann der andere.

»Sie solln gehn!« rief der junge Mann ungehalten. »Wohl Watte in’n Ohrn, was?«

Der Butler ging hinaus und schloß hinter sich die Tür; Jurgis, der nicht weniger gewitzt war als er, entging nicht, daß er den Schlüssel abzog, um durchs Schlüsselloch gucken zu können.

Master Freddie wandte sich wieder dem Tisch zu. »Na los«, forderte er Jurgis auf, »greif zu.« Und als der ihn ungläubig ansah, rief er: »Nu iß schon! Hau rein, alter Junge!«

»Wollen Sie denn nichts?« fragte Jurgis.

»Hab kein Hunger«, lautete die Antwort, »bloß Durst. Kitty un ich ham Pralinen gegessen. Fang nur an.«

So hielt Jurgis sich nicht länger mit Reden auf und langte zu. Das Messer in der einen und die Gabel in der anderen Hand, aß er wie mit zwei Schaufeln. Nachdem er einmal angefangen hatte, gewann sein Wolfshunger die Oberhand, und er gönnte sich keine Atempause, bis er alle Teller leergeputzt hatte.

»Dunnerlittchen!« sagte Master Freddie, der ihn staunend beobachtet hatte. Dann reichte er Jurgis die Flasche. »Mal sehn, wie du trinken kanns.«

Jurgis nahm sie, setzte sie an die Lippen, und eine köstliche flüssige Wonne, die nicht von dieser Welt schien, rann ihm die Kehle hinunter, ließ jeden Nerv von ihm prickeln, durchrieselte ihn mit Seligkeit. Er trank die Flasche bis zum letzten Tropfen leer und machte seinen Gefühlen durch ein langgezogenes »Aaah!« Luft.

»Gut, das Zeug, was?« fragte Freddie verständnisvoll. Er hatte sich in dem Clubsessel zurückgelehnt, legte nun den einen Arm hinter den Kopf und schaute Jurgis zu.

Und Jurgis schaute sich seinerseits ihn an. Er trug einen tadellos sitzenden Smoking, dieser Freddie, und sah blendend aus: ein hübscher Junge mit goldblondem Haar und dem Kopf eines Antinoos. Vertraulich lächelte er Jurgis zu und begann dann in seiner glücklichen Unbekümmertheit wieder zu plaudern. Diesmal redete er zehn Minuten ohne Pause, und dabei erzählte er Jurgis seine ganze Familiengeschichte. Sein großer Bruder Charlie liebte die tugendsame Maid, die in dem Stück »Der Kalif von Bagdad« das »Blauäuglein« spielte. Er war schon drauf und dran gewesen, sie zu heiraten, aber der »Chef« hatte geschworen, ihn dann zu enterben, und ihm zur Erleichterung der Entscheidung eine Summe Geld geschenkt, die nicht nur alle Phantasie, sondern auch des Blauäugleins Tugendhaftigkeit überstieg. Jetzt hatte sich Charlie vom College beurlauben lassen und war mit einem Automobil in quasi Flitterwochen gefahren. Der Chef hatte auch einem zweiten seiner Kinder mit Enterbung gedroht, nämlich Freddies Schwester Gwendolen, die mit einem italienischen Grafen mit ellenlangem Titel und dito Duellierrekord verheiratet war. Sie wohnten in seinem Palazzo beziehungsweise hatten dort gewohnt, bis er angefangen hatte, die Frühstücksteller nach ihr zu werfen; da hatte sie um Hilfe telegraphiert, und der Alte war nun rübergefahren, um mit Seiner Erlaucht die Scheidung auszuhandeln. So hatten sie Freddie mutterseelenallein gelassen, und das mit weniger als zweitausend Dollar in der Tasche! Nein, so lasse er sich nicht behandeln, erklärte er – das werde er ihnen schon zeigen, jawohl! Wenn nicht anders, wolle er seine Kitty telegraphieren lassen, daß sie im Begriff sei, ihn zu heiraten. Dann würde man ja sehen ...

So plauderte der junge Mann weiter, bis die Müdigkeit ihn übermannte. Nachdem er Jurgis noch einmal ganz liebenswürdig angelächelt hatte, fielen ihm die Augen zu. Nach einem Weilchen schlug er sie wieder auf, lächelte abermals, schloß sie dann erneut und vergaß, sie wieder zu öffnen.

 


Etliche Minuten verharrte Jurgis völlig reglos, beobachtete ihn und genoß den ungewohnten Champagnerrausch. Einmal bewegte er sich, und sofort knurrte der Hund; danach saß er mit fast angehaltenem Atem da – bis nach einer Weile die Tür aufging und der Butler hereinkam.

Auf Zehenspitzen näherte er sich Jurgis und blickte ihn finster an. Jurgis erhob sich, und mit nicht minder finsterer Miene wich er zurück. Als er schließlich an der Wand stand, trat der Butler dicht an ihn heran und zeigte auf die Tür. »Raus!« flüsterte er.

Jurgis zögerte und warf einen Blick auf Freddie, der leise schnarchte.

»Wenn du das wagst, du dreckige Laus«, zischte der Butler, »schlag ich dir das Gesicht zu Brei, ehe du hier wieder rauskommst!«

Jurgis blieb noch einen Augenblick unschlüssig. Dann sah er »Admiral Dewey« hinter dem Mann herankommen und leise knurren, um dessen Drohung Nachdruck zu verleihen. Da gab er auf und lief zur Tür.

Lautlos gingen sie hinaus, die große, hallende Treppe hinunter, durch die dunkle Eingangshalle. An der Haustür blieb Jurgis stehen, und der Butler baute sich vor ihm auf.

»Nimm die Hände hoch!« befahl er.

Jurgis trat einen Schritt zurück und ballte seine gesunde Faust. »Wozu?« fragte er. Und als ihm klar wurde, daß der Kerl ihn durchsuchen wollte, rief er: »Eher schick ich dich zur Hölle!«

»Willst du verhaftet werden?« gab der Butler drohend zurück. »Ich ruf die Polizei ...«

»Tu’s doch!« brüllte Jurgis in wildem Zorn. »Aber bis sie hier ist, läßt du deine Hände von mir! Ich habe in euerm verdammten Haus nichts angerührt, und du rührst mich nicht an!«

Da trat der Butler, der befürchtete, sein junger Herr könnte aufwachen, plötzlich zur Tür und öffnete sie, »Raus!« sagte er, und als Jurgis hinausging, versetzte er ihm einen Fußtritt, der ihn die breite Freitreppe hinunterstolpern und der Länge nach im Schnee landen ließ.