20


Aber ein Hüne kann von drei Dollar nicht sehr lange betrunken bleiben. Am Sonntagmorgen war Jurgis weggegangen, und am Montagabend kam er nach Hause, ausgenüchtert, hundeelend und sich bewußt, daß er alles Geld, das die Familie besaß, durch die Kehle gejagt und sich damit doch keinen einzigen Augenblick Vergessen erkauft hatte.

Ona sei noch nicht begraben, aber sie hätten es bei der Polizei gemeldet, und morgen würde man kommen, sie in einen Kiefernsarg legen und auf den Armenfriedhof bringen; Elzbieta sei gerade unterwegs, von den Nachbarn ein paar Cents zusammenzubetteln, damit man für Ona eine Messe bezahlen kann, und die Kinder wären oben und am Verhungern, während er, der nichtsnutzige Haderlump, ihr Geld versoffen habe! So räsonnierte Aniele, und als er ans Herdfeuer wollte, fügte sie hinzu, sie lasse sich ihre Küche nicht länger mit seinem Düngergestank verpesten. Onas wegen habe sie all ihre Schlafburschen in einen einzigen Raum zusammengepfercht, jetzt aber möge er sich gefälligst auf den Dachboden verziehen, wo er hingehört – und das auch nicht mehr für lange, sofern er ihr nicht bald mal Miete zahlt.

Jurgis ging ohne ein Wort, und nachdem er im nächsten Zimmer über ein halbes Dutzend schlafende Untermieter gestiegen war, kletterte er die Leiter hinauf. Oben war es dunkel – eine Kerze konnten sie sich nicht leisten – und außerdem fast so kalt wie draußen. In einer Ecke, so weit von dem Leichnam weg wie möglich, saß Marija; sie hatte Antanas auf dem gesunden Arm und suchte ihn in Schlaf zu wiegen. In einer anderen Ecke hockte der kleine Juozapas und wimmerte, weil er den ganzen Tag nichts zu essen bekommen hatte. Marija sagte kein Wort zu Jurgis. Wie ein geprügelter Hund schlich er herein und setzte sich zu der Toten.

Vielleicht wäre es richtiger gewesen, über den Hunger der Kinder und über seine eigene Schlechtigkeit nachzudenken, doch er dachte nur an Ona, gab sich wieder dem Luxus seines Schmerzes hin. Er vergoß keine Tränen, da er sich schämte, das hören zu lassen; reglos saß er da und zitterte vor Qual. Wie sehr er Ona geliebt hatte, wurde ihm erst jetzt richtig klar – jetzt, da sie tot war, jetzt, da er hier saß und wußte, daß man sie morgen früh abholen und er sie nie mehr sehen würde, niemals mehr solange er lebte. Die alte Liebe, verhungert und zu Tode geprügelt, erwachte von neuem in ihm; die Schleusen der Erinnerung hoben sich: Er sah ihr ganzes gemeinsames Leben, sah Ona, wie er sie zum ersten Mal erblickt hatte, damals auf dem Pferdemarkt in Litauen, schön wie eine Blume, zwitschernd wie ein Vogel. Er sah, wie er sie geheiratet hatte, mit all ihrer Zärtlichkeit, ihrem Herzen voller Staunen; die Worte, die sie gesprochen, schienen in seinen Ohren zu klingen, die Tränen, die sie geweint, seine Wange zu benetzen. Ihn hatte der lange mörderische Kampf gegen Not und Elend verbittert und verhärtet, sie aber hatte er nicht verändert – sie war bis zuletzt dieselbe hungrige Seele geblieben, bittend, ja bettelnd um Liebe und Zärtlichkeit. Und wie hatte sie gelitten, was für grausame Seelenpein, was für schreckliche Gemeinheiten erleiden müssen – o Gott, die Erinnerung daran war nicht zu ertragen! Welch gefühlloser Unmensch war er gewesen! Jedes böse Wort, das er jemals zu ihr gesagt hatte, kam zurückgehallt und schnitt ihm wie ein Messer ins Herz; jedes eigensüchtige Verhalten, das er an den Tag gelegt hatte – mit was für Folterqualen zahlte er nun dafür! Und welche Hingabe und Verehrung wogten in ihm hoch, jetzt, da sie sich nicht mehr sagen ließen, jetzt, da es zu spät war! Es würgte ihn, sprengte ihm die Brust; er kauerte hier im Dunkeln an ihrer Seite, streckte die Arme nach ihr aus, doch sie hatte ihn verlassen, für immer, war dahingegangen! Vor Entsetzen und Verzweiflung hätte er laut schreien mögen; kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, doch er wagte keinen Laut von sich zu geben, getraute sich vor lauter Scham und Abscheu vor sich selbst kaum zu atmen.

Am späten Abend kam Elzbieta zurück; sie hatte das Geld für die Messe bekommen und diese gleich im voraus bezahlt, damit sie daheim nicht zu sehr in Versuchung geraten konnte. Sie brachte auch einen Kanten altes Roggenbrot mit, den ihr jemand geschenkt hatte und mit dem sie nun die Kinder beruhigte, so daß sie endlich einschliefen. Dann kam Elzbieta herüber zu Jurgis und setzte sich neben ihn.

Sie ließ kein Wort des Vorwurfs laut werden; sie und Marija hatten das vorher so abgesprochen. Sie wollte nur vernünftig mit ihm reden, hier am Totenbett seiner Frau. Elzbieta hatte ihre Tränen bereits erstickt; ihr Gram war durch die Angst verdrängt. Sie mußte eines ihrer Kinder zu Grabe tragen – aber das hatte sie schon dreimal tun müssen, und jedesmal war sie wieder aufgestanden, um für die übrigen weiterzukämpfen. Elzbieta gehörte zu den primitiven Geschöpfen; sie war wie der Regenwurm, der weiterlebt, wenn er in der Mitte durchgeschnitten worden ist, war wie die Henne, die, nachdem man ihr ein Küken nach dem anderen weggenommen hat, eben das letzte bemuttert, das ihr noch geblieben ist. Sie tat das einfach aus ihrer Natur heraus

– fragte weder, ob es denn auch gerecht sei, noch ob dieses Leben überhaupt lohne, in dem Vernichtung und Tod so wüteten.

Zu dieser vom gesunden Menschenverstand bestimmten Einstellung suchte sie auch ihren Schwiegersohn zu bringen. Unermüdlich redete sie auf ihn ein: Ona sei tot, aber die anderen wären noch da und müßten gerettet werden. Sie bitte nicht wegen ihrer Kinder; die würde sie gemeinsam mit Marija schon irgendwie durchbringen. Aber es gehe um Antanas, seinen eigenen Sohn. Ona habe ihm den geschenkt – der Kleine sei die einzige Erinnerung an sie, die er hat, und die müsse er hegen und schützen. Er wüßte doch, was Ona von ihm erwarten, worum sie ihn in diesem Augenblick bitten würde, wenn sie mit ihm reden könnte. Es sei furchtbar, daß sie hat sterben müssen, aber das Leben wäre einfach zu hart für sie gewesen. Schrecklich auch, daß er nicht einmal einen Tag Zeit haben soll, sie zu betrauern, doch es gehe nun mal nicht anders. Ihre Lage dränge; sie hätten keinen Cent mehr, und die Kinder würden verhungern – es müsse unbedingt Geld herangeschafft werden. Könne er sich denn nicht um Onas willen zusammenreißen und sich als Mann erweisen? Eine kleine Weile noch, dann wären sie außer Gefahr – jetzt, ohne die Belastung mit dem Haus, ließe sich billiger leben, und da die Kinder ja alle arbeiten, könnten sie zurechtkommen, wenn nur er nicht versagt. So fuhr Elzbieta mit fieberhafter Eindringlichkeit fort. Bei ihr ging es um Leben und Tod; nicht daß sie befürchtete, Jurgis würde mit dem Trinken weitermachen, denn dazu fehlte ihm das Geld, aber sie hatte wahnsinnige Angst, er könne die Familie verlassen, könne so wie Jonas auf die Walze gehen.

Doch am Totenbett seiner Frau war es Jurgis natürlich nicht möglich, an Verrat an seinem Kind zu denken. Ja, sagte er, um Antanas’ willen wolle er es versuchen. Der Kleine solle seine Chance bekommen – er werde sofort anfangen, gleich morgen, ohne Onas Beerdigung abzuwarten. Sie könnten sich auf ihn verlassen, er werde Wort halten, komme, was wolle.

Und so zog Jurgis dann am nächsten Tag noch vor dem Hellwerden los, trotz Kopfschmerzen, Herzeleid und allem. Er ging geradewegs zu Durhams Düngerfabrik, um zu sehen, ob er seinen alten Arbeitsplatz wiederbekommen könne. Doch der Aufseher in der Mahlhalle schüttelte den Kopf: Nein, seine Stelle sei inzwischen längst besetzt, und etwas anderes habe man für ihn nicht.

»Besteht denn Aussicht, daß mal was frei wird?« fragte Jurgis. »Selbst wenn ich warten müßte ...«

»Nein«, bekam er zur Antwort, »das wäre Zeitverschwendung – für Sie ist hier nichts mehr drin.«

Jurgis starrte den Aufseher konsterniert an. »Was ist denn? Habe ich meine Arbeit nicht gut genug gemacht?«

Der andere begegnete seinem Blick mit kalter Gleichgültigkeit. »Für Sie ist hier nichts mehr drin, sag ich.«

In Jurgis stieg der Verdacht auf, daß da irgend etwas hinterstecken müsse, und er schob mit hängendem Kopf ab. Er reihte sich in die Menge der armen Teufel ein, die vor der Zeitkontrolle im Schnee herumstanden. Dort blieb er, ohne Frühstück, zwei Stunden, bis sie alle von den Knüppeln der Polizei vertrieben wurden. Arbeit fand er an diesem Tag nicht.

In der langen Zeit, die er in den Yards gearbeitet hatte, war Jurgis mit vielen Leuten bekannt geworden: mit Kneipenwirten, bei denen er einen Whiskey und ein Sandwich auf Anschreiben bekommen konnte, und mit Mitgliedern seiner alten Gewerkschaft, die ihm notfalls mit ein paar Cents aushalfen. Es war für ihn also keine Frage des Verhungerns; er konnte heute den ganzen Tag nach Arbeit suchen und morgen wieder und sich so wochenlang durchschlagen, wie Hunderte, ja Tausende andere auch. Derweilen ging Elzbieta drüben im Hyde-Park-Viertel betteln, und die Kinder würden schon genug nach Hause bringen, um Aniele zu befriedigen und sie alle am Leben zu erhalten.

Nach einer Woche solchen Wartens, also Herumlaufens in eiskaltem Wind oder Herumsitzens in Kneipen, stieß Jurgis in einem der Keller von Jones’ großer Fleischfabrik endlich auf eine Chance. Er sah einen Vorarbeiter an der offenen Tür vorbeigehen und sprach ihn sofort um Arbeit an.

»Karren schieben?« fragte der Mann, und noch ehe er die zwei Worte ganz ausgesprochen hatte, antwortete Jurgis schon: »Ja, Sir!«

»Wie heißen Sie?«

»Jurgis Rudkus.«

»Schon mal in den Yards gearbeitet?«

»Jawohl.«

»Und wo?«

»An zwei Stellen: erst bei Brown in der Schlachthalle, und dann in Durhams Düngerfabrik.«

»Warum sind Sie dort weg?«

»Das eine Mal hatte ich einen Unfall, und das andere Mal war ich für einen Monat eingelocht gewesen.«

»Aha. Nun, ich will’s mit Ihnen versuchen. Kommen Sie morgen früh und fragen sie nach Mr. Thomas.«

Jurgis eilte nach Hause mit der aufregenden Nachricht, daß er Arbeit habe – daß ihre Durststrecke nun vorbei sei. Der Abend wurde für die Familie zu einer richtigen Feier, und am nächsten Morgen stand Jurgis schon eine halbe Stunde vor Einlaß am Tor.

Der Vorarbeiter kam ebenfalls sehr früh, und als er Jurgis sah, runzelte er die Stirn. »Ach so«, sagte er, »ich hatte Ihnen ja Arbeit versprochen.«

»Jawohl, Sir.«

»Tja, leider war das ein Irrtum. Ich kann Sie nun doch nicht gebrauchen.«

Jurgis starrte ihn an wie vor den Kopf geschlagen. »Aber wieso ...? Was ist denn los?«

»Nichts«, gab der Mann zurück. »Ich kann Sie eben nicht gebrauchen.« Und er hatte den gleichen kalten, feindseligen Blick wie schon der Aufseher in der Düngerfabrik.

Jurgis wußte, daß jedes weitere Wort zwecklos war, drehte sich um und ging.

Draußen in den Kneipen konnten sie ihm genau erklären, was das zu bedeuten hatte. Mitleidig sahen sie ihn an – der arme Kerl stand auf der schwarzen Liste! Was er denn angestellt habe, wollten sie wissen. Was – einen Vorgesetzten zusammengeschlagen? Großer Gott, dann hätte er sich das doch denken können! Da habe er genausoviel Aussicht, in Packingtown wieder Arbeit zu kriegen wie zum Bürgermeister von Chicago gewählt zu werden. Warum verschwende er seine Zeit überhaupt noch mit Arbeitsuche? In jedem Personalbüro in den Yards, selbst in der kleinsten Firma, stehe sein Name nun auf einer Geheimliste, und nicht bloß hier, sondern inzwischen auch in St. Louis und New York, in Omaha und Boston, in Kansas City und St. Joseph. Er sei schuldig gesprochen und verurteilt worden, ohne Verhandlung und ohne Recht auf Berufung; in der Schlachthofbranche könne er nie wieder arbeiten – wo die großen Fabrikanten das Sagen haben, würde man ihn nirgendwo auch nur zum Ausmisten der Viehbuchten zulassen. Wenn er das nicht glaubt, könne er ja die Probe aufs Exempel machen, dann werde er es schon sehen, so wie Hunderte vor ihm. Den wahren Grund der Ablehnung werde man ihm niemals sagen, sondern ihn immer bloß mit so allgemeinen Worten abspeisen wie heute; jedenfalls werde er feststellen, daß sie im letzten Moment stets einen Rückzieher machen und erklären, sie könnten ihn doch nicht gebrauchen. Es habe auch keinen Zweck, einen anderen Namen anzugeben – für solche Fälle hätten sie eigene Detektive, und diese Schnüffler bekämen das bald heraus; also würde er eine Stelle in Packingtown keine drei Tage behalten. Den Fabrikanten sei es ein Vermögen wert, diese schwarze Liste zu führen – als Warnung für die Arbeiter und als Mittel, Gewerkschaftsagitation und politische Aufsässigkeit niederzuhalten.

Jurgis ging nach Hause und legte dem Familienrat die neue Sachlage dar. Grausamer ging’s kaum noch: Das Viertel hier war doch jetzt sozusagen seine Heimat, die Gegend, an die er gewohnt war und wo er seinen Bekanntenkreis hatte – und nun versperrte man ihm jede Arbeitsmöglichkeit darin. Und da es in Packingtown nichts als Fleischfabriken gab, kam das einer Verbannung gleich.

Den ganzen Tag und die halbe Nacht berieten er und die beiden Frauen hin und her. Die Innenstadt erschien insofern günstig, weil die Kinder da arbeiteten, aber andererseits hatte Marija, deren Hand bald heilen würde, Hoffnung auf eine Stelle in den Yards; und wenn sie mit ihrem langzeitigen Freier auch kaum einmal im Monat zusammenkam, weil es ihnen so schlecht ging, konnte sie sich doch nicht entschließen, wegzuziehen und ihn für immer aufzugeben. Und Elzbieta hatte von einer Möglichkeit gehört, bei Durham in der Verwaltung als Putzfrau zu arbeiten, und wartete täglich auf Bescheid. Zu guter Letzt kamen sie überein, Jurgis solle in die Stadt gehen und sich erst einmal allein durchschlagen; wenn er Arbeit gefunden hat, werde man weitersehen. Da er dort von niemandem etwas auf Borg bekommen würde und wegen der Gefahr des Festgenommenwerdens auch nicht betteln konnte, vereinbarten sie, daß sich jeden Tag eines der Kinder mit ihm treffen und ihm fünfzehn Cent von ihrem Verdienst geben sollte. Dann würde er gleich Hunderten und aber Hunderten anderer Obdachloser den ganzen Tag herumlaufen müssen, um in Kaufhäusern, Speichern und Fabriken nach Arbeit zu fragen, und abends in einen Torweg oder unter ein Fuhrwerk kriechen und sich dort verbergen, bis er um Mitternacht vielleicht in eine Polizeiwache hineinkam, wo er sich dann auf dem Fußboden auf eine Zeitung legen konnte, mitten unter Bettlern und Pennern, die nach Schnaps und Tabak stanken, vor Schmutz starrten und Läuse und alle möglichen Krankheiten hatten.

 


So rang Jurgis weitere zwei Wochen mit dem Dämon der Verzweiflung. Einmal hatte er Glück und durfte einen halben Tag lang Rollwagen beladen, ein andermal trug er einer alten Frau die Reisetasche und bekam dafür einen Vierteldollar. Das verdiente Geld ermöglichte ihm, mehrere Nächte, in denen er sonst vielleicht erfroren wäre, in einem Logierhaus zu schlafen und sich ab und zu auch eine Morgenzeitung zu kaufen, die Stellenangebote durchzugehen und dort schon hinzueilen, wenn seine Konkurrenten noch darauf warteten, daß jemand eine Zeitung wegwarf. So groß war der Vorteil aber auch wieder nicht, denn es ging ihm dadurch kostbare Zeit verloren, und er mußte mühsame Wege machen, die sich dann als umsonst herausstellten. Gut die Hälfte der Annoncen war nämlich reiner Dummenfang, stammte von mannigfachsten Agenturen, die die Hilflosigkeit und Unwissenheit der Arbeitslosen skrupellos ausnutzten. Schilderte ihm so ein zungenfertiger Agent, was für phantastische Stellen er an der Hand habe, konnte Jurgis immer nur traurig den Kopf schütteln und sagen, er sei außerstande, den erforderlichen Dollar einzuzahlen; erklärte man ihm, wie er und seine ganze Familie mit dem Kolorieren von Photographien »schweres Geld« verdienen könnten, blieb ihm nur zu antworten, er werde wiederkommen, wenn er die zwei Dollar für die nötige Ausrüstung hat.

Daß Jurgis zuletzt doch noch etwas fand, kam durch die zufällige Begegnung mit einem alten Bekannten aus seiner Gewerkschaftszeit. Der war gerade auf dem Weg zu seiner Arbeit in der riesigen Fabrikanlage des Erntemaschinen-Trusts, und er forderte ihn auf, doch mitzukommen; er wolle bei seinem Werkmeister, mit dem er sich gut steht, ein Wort für ihn einlegen. So marschierte Jurgis die vier oder fünf Meilen mit und kam dann im Geleit seines Freundes ungehindert durch die Masse der am Tor wartenden Arbeitslosen hindurch. Ihm wurde ganz schwach in den Knien, als der Meister, nachdem er ihn gemustert und ausgefragt hatte, zu ihm sagte, es werde sich etwas für ihn finden.

Was er dieser Zufallsbegegnung zu verdanken hatte, wurde Jurgis erst nach und nach klar – dieses Werk gehörte zu jenen Fabriken, auf die Philanthropen und Reformer voller Stolz hinwiesen. Hier dachte man an seine Arbeiter: Die Werkstätten waren groß und geräumig, es gab eine Kantine, wo die Arbeiter gutes Essen zum Selbstkostenpreis bekommen konnten, es gab ordentliche Ruheräume für die Frauen, ja es gab sogar einen Lesesaal; außerdem war die Arbeit nicht so schmutzig und ekelerregend wie in den Schlachthöfen. Jeden Tag entdeckte Jurgis mehr von solchen nicht einmal im Traum erwarteten Dingen, bis ihm seine neue Arbeitsstelle wie ein Himmel auf Erden vorkam.

Es war ein riesengroßes Unternehmen, das eine Fläche von einer Viertelquadratmeile einnahm, fünftausend Leute beschäftigte und jährlich über dreihunderttausend landwirtschaftliche Maschinen produzierte – die meisten der im Lande verwendeten kamen von hier. Jurgis sah natürlich nur sehr wenig davon, denn es war alles spezialisierte Arbeit, genau wie in den Yards; jedes der -zig Einzelteile einer Erntemaschine wurde für sich hergestellt, und manche gingen durch die Hände Hunderter von Arbeitern. Wo Jurgis arbeitete, gab es eine Maschine, die ein bestimmtes, etwa zwei Quadratzoll großes Stahlplättchen ausstanzte. Die Stücke fielen auf ein Tablett, und alles, was Menschenhänden zu tun blieb, waren das Aufstapeln der Plättchen in gleichmäßigen Reihen und das Auswechseln der vollen Tabletts. Erledigt wurde das von einem einzigen Jungen, der mit ganz darauf konzentrierten Augen und Gedanken dastand und dessen Finger so schnell flogen, daß das Gegeneinanderklirren der Stahlstückchen wie die Musik eines Schnellzugs klang, die man nachts im Schlafwagen hört. Das war natürlich »Akkordarbeit«, aber es war auch so dafür gesorgt, daß der Junge nicht trödelte, da man die Maschine auf das für Menschenhände höchstmögliche Tempo eingestellt hatte. Dreißigtausend dieser Plättchen hantierte er so tagtäglich, das sind im Jahr neun bis zehn Millionen – wie viele in einem ganzen Leben wußten allein die Götter. Nahe bei ihm saßen Männer über rotierende Schleifscheiben gebeugt und gaben den Stahlmessern der Mähmaschinen ihren Scharfschliff; mit der rechten Hand holten sie sie aus einem Korb, hielten erst die eine und dann die andere Seite an die Scheibe und ließen sie schließlich mit der Linken in einen anderen Korb fallen. Einer dieser Arbeiter erzählte Jurgis, daß er jeden Tag dreitausend Stück schleife, und das schon seit zehn Jahren. Im nächsten Saal gab es staunenswerte Maschinen, die lange, dünne Stahlstangen langsam verschlangen, sie zerschnitten, dann die einzelnen Stücke packten, ihnen Köpfe aufstauchten und Gewinde einfrästen, sie schliffen und polierten und sie schließlich in einen Korb fallen ließen, fix und fertig zum Verbolzen der Erntemaschinen. Wieder eine andere Maschine lieferte Zehntausende von stählernen Unterlegscheiben für diese Bolzen. In anderen Sälen wurden verschiedenste große Einzelteile in Wannen mit Farbe getaucht und dann zum Trocknen aufgehängt; später rollten sie an Förderhaken in eine weitere Halle, wo Arbeiter sie mit gelben und roten Streifen bemalten, damit sie auf den Feldern hübsch farbenfroh aussahen.

Jurgis’ Freund arbeitete oben in der Gießerei, und er hatte für ein bestimmtes Teil die Gußformen anzufertigen. Er schaufelte schwarzen Sand in ein eisernes Gefäß, stampfte ihn um ein darin befindliches Modell herum fest und setzte das Ganze dann zum Erhärten beiseite; nachher wurde das Modell herausgenommen und dafür flüssiges Eisen hineingegossen. Auch dieser Mann wurde nach der geschafften Stückzahl entlohnt – aber nicht der der hergestellten Formen, sondern der der einwandfreien Güsse, und die gelangen bei fast nur jeder zweiten Form, so daß die Hälfte seiner Arbeit umsonst war. Man konnte ihn zusammen mit Dutzenden anderen draufloswerken sehen, als triebe ihn eine ganze Horde Teufel an: Seine Arme gingen wie die Pleuelstangen einer Lokomotive, seine langen schwarzen Haare flatterten umher, seine Augen quollen hervor, der Schweiß rann ihm in Strömen übers Gesicht. Den lieben langen Tag rackerte er sich auf diese Weise ab, mit allen Fasern seines Seins darauf ausgerichtet, dreiundzwanzig statt zweiundzwanzigeinhalb Cent in der Stunde zu machen; dann würde sein Arbeitsausstoß statistisch ausgewertet werden, auf daß sich frohlockende Industriebarone auf ihren Banketten damit brüsten und erklären können, unsere Arbeiter wären fast doppelt so tüchtig wie die aller anderen Länder. Wenn wir von allen Nationen, die es jemals unter der Sonne gegeben hat, die großartigste sind, dann wohl vornehmlich deshalb, weil wir es fertiggebracht haben, unsere Lohnempfänger zu solcher Raserei anzutreiben. Doch haben wir auch noch einiges andere aufzuweisen, das großartig ist, zum Beispiel unseren Alkoholkonsum, der uns jährlich eineinviertel Milliarden Dollar kostet.

Sie hatten eine Maschine, die Eisenplatten ausstanzte, und eine andere, die diese mit wuchtigem dumpfem Schlag in die Sitzfleischform des amerikanischen Farmers preßte. Dann stapelte man sie auf einen Karren, und es war Jurgis’ Aufgabe, sie in die Halle zu fahren, wo die Erntemaschinen montiert wurden. Diese Arbeit war für ihn ein Kinderspiel, und er bekam pro Tag einen Dollar fünfundsiebzig dafür. Am Samstag zahlte er Aniele die fünfundsiebzig Cent, die er ihr wöchentlich für die Benutzung des Dachbodens schuldete, und holte auch seinen Mantel von der Pfandleihe zurück, wohin Elzbieta ihn gebracht hatte, als er im Gefängnis war.

Daß er ihn wiederhatte, war ein großer Segen. Man kann in Chicago nicht mitten im Winter ohne Mantel herumlaufen, ohne dafür büßen zu müssen, und Jurgis hatte zu seiner Arbeit und zurück fünf oder sechs Meilen zu laufen beziehungsweise zu fahren. Die Hälfte des Weges ging in die eine, die zweite in eine andere Richtung, so daß er umsteigen mußte; laut städtischer Verordnung hatten zwar an allen Schnittpunkten Umsteigebiletts ausgegeben zu werden, doch die Straßenbahngesellschaft umging das, indem sie für eine der beiden Linien andere Besitzer vortäuschte. Wollte Jurgis fahren, mußte er also für jede Teilstrecke zehn Cent zahlen, das heißt über zehn Prozent seines Einkommens an diese Macht abführen, die sich ihre Betriebslizenz einst durch Bestechung des Magistrats verschafft hatte, trotz so massiver Proteste der Bevölkerung, daß es fast zum Aufruhr gekommen war. So müde er sich abends auch fühlte und so dunkel und bitterkalt es morgens oft war, ging Jurgis meist lieber zu Fuß; zu den Zeiten, in denen die Arbeiter unterwegs waren, hielt das Straßenbahnmonopol es für richtig, so wenige Wagen einzusetzen, daß die Leute dicht an dicht auf den Trittbrettern hingen und oft sogar oben auf dem schneebedeckten Dach hockten. Natürlich konnten so die Türen nie geschlossen werden, und folglich war es drinnen in den Wagen genauso kalt wie draußen. Gleich vielen anderen fand Jurgis es besser, das Fahrgeld für einen Whiskey mit freiem Essen auszugeben, was ihm beides Kraft zum Laufen gab.

Das alles waren jedoch nur Lappalien für jemanden, der Durhams Düngerbude entkommen war. Jurgis begann wieder Mut zu fassen und Pläne zu schmieden. Er war zwar sein Haus losgeworden, aber dafür lastete jetzt nicht mehr die schreckliche Bürde der Abzahlungen und Zinsen auf seinen Schultern, und wenn Marija wieder arbeitsfähig war, könnten sie neu anfangen und dann auch Geld zurücklegen. In der Halle, wo er arbeitete, gab es einen Mann, Litauer wie er, von dem die anderen voller Bewunderung sprachen, weil er so Enormes leistete. Den ganzen Tag saß er an seiner Maschine und drehte Bolzen, und abends besuchte er eine Schule, um Englisch sowie auch lesen und schreiben zu lernen. Außerdem arbeitete er, da er acht Kinder zu ernähren hatte und sein Lohn dafür nicht ausreichte, an den Wochenenden als Wachmann; dabei mußte er alle fünf Minuten zwei Kontrollknöpfe an entgegengesetzten Enden eines Gebäudes drücken, und da er für den Weg nur zwei Minuten brauchte, blieben ihm zwischen jedem Gang drei Minuten zum Lernen. Jurgis beneidete diesen Mann, denn von so etwas hatte er vor zwei, drei Jahren selbst geträumt. Vielleicht könnte er es sogar jetzt noch schaffen, wenn ihm eine echte Möglichkeit geboten wurde; vielleicht würde man auf ihn aufmerksam und ließ ihn Facharbeiter werden oder gar Aufseher, wie es in diesem Werk schon mehreren geglückt war. Angenommen, Marija bekam Arbeit in der großen Fabrik, die Garn zum Garbenbinden herstellte – dann würden sie in die Gegend hier ziehen, und dann hätte er wirklich eine Chance. Wenn man solche Hoffnungen hegen konnte, hatte das Leben noch einen Sinn. Eine Stelle gefunden zu haben, wo man wie ein Mensch behandelt wurde – bei Gott, er würde ihnen zeigen, wie er das zu schätzen weiß! Er lachte in sich hinein bei dem Gedanken, wie er diese Arbeit festhalten würde!

Und dann sah er eines Nachmittags, an seinem neunten Tag in den Erntemaschinenwerken, als er seinen Mantel holen wollte, eine Gruppe Arbeiter vor einem Anschlag an der Tür stehen, und als er hinüberging und fragte, was es denn gebe, sagten sie ihm, seine Abteilung werde ab morgen bis auf weiteres stillgelegt!