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Den ganzen Sommer hindurch rackerte sich die Familie ab, und im Herbst hatte sie das Geld beisammen, daß Jurgis und Ona nach gutem alten heimatlichen Brauch heiraten konnten. Ende November mieteten sie einen Saal und luden all ihre neuen Bekannten ein, die auch kamen und sie dann mit über hundert Dollar Schulden sitzenließen.

Es war eine bittere und grausame Erfahrung, die das junge Ehepaar in qualvolle Verzweiflung stürzte. Und das gerade jetzt, da ihre Seelen so empfindsam gestimmt waren! Welch kümmerlicher Anfang für ihr gemeinsames Leben: Sie liebten sich so sehr, und doch konnten sie sich nicht die kleinste Pause gönnen, um sich ganz einander zu widmen. Es war eine Zeit, in der ihnen alles zuzurufen schien: Seid glücklich!, eine Zeit, in der in ihren Herzen das Wunder glühte und beim leisesten Hauch zur Flamme aufloderte. Die Erfüllung ihrer Liebe wühlte sie bis ins Innerste auf und gab ihnen zugleich tiefe Ehrfurcht ein – war es da wirklich eine so unverzeihliche Schwäche, daß sie sich nach ein wenig Ruhe und Frieden sehnten? Ihre Herzen hatten sich geöffnet wie Blumenknospen im Frühling, und nun brach der gnadenlose Winter über sie herein. Sie fragten sich, ob jemals in der Welt eine Liebe geblüht habe, auf der so herumgetrampelt wurde!

Unbarmherzig knallte über ihnen die Knute der Not; am Morgen nach ihrer Hochzeit traf sie sie noch im Schlaf und trieb sie vor Tagesanbruch zur Arbeit. Ona konnte sich vor Müdigkeit kaum auf den Beinen halten, aber wenn sie ihre Stelle verlor, wäre das ihrer aller Ruin, und kam sie heute zu spät, verlor sie sie ganz bestimmt. Alle mußten sie hinaus, selbst der kleine Stanislovas, dem hundeelend war, weil er zu viele Würstchen gegessen und zu viele Gläser Sarsaparilla getrunken hatte. Den ganzen Tag lang wankte er an seiner Schmalzmaschine hin und her, und immer wieder fielen ihm die Augen zu, so sehr er auch dagegen ankämpfte; er war nahe daran, entlassen zu werden, denn der Vorarbeiter mußte ihn zweimal durch einen Fußtritt wecken.

Es dauerte eine volle Woche, ehe sie sich alle wieder erholt hatten, und währenddessen war das Haus mit den quengelnden Kindern und schlechtgelaunten Erwachsenen kein eben gemütlicher Aufenthalt. Trotz alledem verlor Jurgis nur selten die Geduld. Das lag an Ona; ein flüchtiger Blick auf sie genügte, und er beherrschte sich wieder. Sie war so empfindsam – war für solch ein Leben nicht geschaffen, und hundertmal am Tag, wenn er an sie dachte, ballte er die Fäuste und stürzte sich von neuem in die Arbeit vor ihm. Ona sei zu gut für ihn, sagte er sich, und daß sie nun die Seine war, machte ihn bange. So lange hatte er sich nach ihr verzehrt, und jetzt, nachdem sein Wunsch in Erfüllung gegangen war, hatte er das Gefühl, ihrer nicht wert zu sein. Daß sie ihm so vertraut, läge einzig und allein an ihrem guten Herzen und wäre nicht sein Verdienst – was sie aber nie herausfinden dürfe! Deshalb war er ständig darauf bedacht, nichts von seinen schlechten Seiten ans Licht kommen zu lassen; selbst bei Kleinigkeiten gab er acht, wie etwa seinen Manieren und seiner Gewohnheit, gleich immer zu fluchen, wenn mal etwas nicht glattging. Ona kamen ja so leicht die Tränen, und sie konnte ihn so flehend ansehen – zu all dem anderen, das ihn beschäftigte, hatte Jurgis nun noch in einem fort damit zu tun, gute Vorsätze zu fassen. Überhaupt ging ihm in dieser Zeit mehr durch den Kopf als in seinem ganzen bisherigen Leben.

Er mußte Ona beschützen, mußte um ihretwillen gegen all die Schrecknisse zu Felde ziehen, die er ringsum sah. Sie hatte ja nur ihn, und wenn er versagte, war sie verloren; er schloß sie immer so in seine Arme, als wollte er sie vor der Welt verstecken. Er hatte jetzt erkannt, wie es um ihn her zuging: Krieg aller gegen alle, und den letzten beißen die Hunde. Man lädt nicht andere zu einer Feier ein, sondern wartet, bis man von ihnen eingeladen wird. Man geht mit Argwohn und Haß im Herzen durch die Welt; du weißt, daß du von feindlichen Mächten umringt bist, die auf dein Geld aus sind und die alles Gute und Edle nur als Köder für ihre Fallen benutzen. Die Geschäftsleute bepflastern ihre Schaufenster mit allen möglichen Lügen, um dich anzulocken; selbst die Zäune am Wegesrand, die Laternenpfähle und die Telegraphenmasten sind mit Lügen beklebt. Das große Unternehmen, bei dem du in Lohn stehst, betrügt dich, betrügt das ganze Land – von vorne bis hinten, von oben bis unten ist alles nur Lug und Trug.

Das Bewußtsein, die ganze Sache durchschaut zu haben, machte sie jedoch nicht weniger schlimm. Der Kampf war einfach zu ungleich – einige waren so sehr im Vorteil! Jurgis zum Beispiel hatte auf den Knien gelobt, Ona vor Leid zu schützen, und doch mußte sie schon eine Woche später schrecklich leiden, denn gegen den Feind, der da zuschlug, konnte er unmöglich an. Eines Morgens regnete es wie mit Gießkannen, und jetzt im Dezember war es alles andere als ein Vergnügen, den ganzen Tag in durchnäßten Kleidern in einem der kalten Keller von Brown zu verbringen. Als einfache Arbeiterin besaß Ona natürlich keinerlei Regenzeug, und deshalb setzte Jurgis sie in die Straßenbahn. Nun gehörte diese Linie aber Leuten, die mit ihr Geld machen wollten. Und als ihnen von der Stadt auferlegt worden war, Umsteigebilletts auszugeben, hatten sie diese voller Unmut lediglich als Zusatzscheine eingeführt, die der Fahrgast gleich beim Bezahlen verlangen mußte und auf die er danach keinen Anspruch mehr geltend machen konnte; später wurden sie noch unverschämter und verboten ihren Schaffnern sogar, sie von sich aus anzubieten. Man hatte Ona zwar gesagt, daß sie einen Umsteiger brauche, aber da es nicht ihre Art war, ungefragt zu reden, wartete sie und folgte dem Schaffner mit den Augen, weil sie meinte, er werde schon noch an sie denken. Als schließlich ihre Haltestelle kam, redete sie ihn doch an und bat um den Umsteiger. Der wurde ihr natürlich verweigert. Sie wußte nicht, was sie davon halten sollte, und begann, mit dem Schaffner zu argumentieren und zu streiten – in einer Sprache, von der er kein Wort verstand. Nachdem er sie mehrmals gewarnt hatte, klingelte er kurzerhand ab, und die Bahn fuhr weiter, woraufhin Ona in Tränen ausbrach. An der nächsten Ecke stieg sie aus, und da sie kein Geld mehr hatte, mußte sie den restlichen Weg zu den Yards im strömenden Regen zu Fuß zurücklegen. Den ganzen Tag hockte sie fröstelnd da, und abends kam sie zähneklappernd und mit Kopf- und Kreuzschmerzen nach Hause. Zwei Wochen lang litt sie furchtbar und mußte sich doch jeden Tag zur Arbeit schleppen. Die Aufseherin ging mit Ona besonders streng um, denn sie hielt sie für widerborstig, weil ihr der Tag nach ihrer Hochzeit nicht freigegeben worden war. Ona hatte das Gefühl, daß die Aufseherin es nicht gern sah, wenn ihre Arbeiterinnen heirateten – wohl weil sie selber nicht mehr jung und hübsch war und keinen Mann abgekriegt hatte.

Es gab viele solcher Gefahren, bei denen die Familie von vornherein im Nachteil war. Die Kinder kränkelten mehr als in der Heimat, aber woher sollten unsere Freunde wissen, daß ihr Haus nicht an die Kanalisation angeschlossen war und daß in der Senkgrube unter ihm die Abwässer von fünfzehn Jahren standen? Woher sollten sie wissen, daß die bläuliche Milch, die sie im Laden um die Ecke kauften, mit Wasser verdünnt und mit Formaldehyd behandelt war? Wenn die Kinder daheim in Litauen mal krank gewesen waren, hatte Teta Elzbieta Kräuter gesammelt und sie damit kuriert; hier dagegen mußte sie zum Drugstore gehen und Säfte und Extrakte kaufen – wie konnte sie wissen, daß die samt und sonders verfälscht waren? Woran sollten sie merken, daß ihr Tee und Kaffee, ihr Zucker und ihr Mehl durch Zusätze gestreckt, ihre Dosenerbsen mit Kupfersalzen und ihre Marmelade mit Anilin gefärbt waren? Und selbst wenn es ihnen bekannt gewesen wäre – was hätte ihnen das genutzt, da es ja in meilenweitem Umkreis nichts anderes zu kaufen gab? Der kalte Winter stand vor der Tür, und sie mußten für mehr Kleidung und Bettzeug sparen, aber im Grunde war es egal, wieviel sie zurücklegten, denn Sachen, die richtig warmhielten, konnten sie ohnehin nicht bekommen; alle Kleidung, die in den Warenhäusern zu haben war, bestand aus Cotton und Shoddy, also aus Baum- und Lumpenwolle. Zahlten sie höhere Preise, kriegten sie vielleicht modischen Firlefanz oder wurden einfach nur betrogen; wirkliche Qualität gab es weder für Geld noch für gute Worte. Ein junger Bekannter von Szedvilas, der erst vor kurzem hier zugezogen und in einem Geschäft in der Ashland Avenue als Verkäufer untergekommen war, erzählte belustigt, wie sein Chef neulich einen naiven Mann vom Lande angeschmiert hatte: Der Kunde verlangte eine Weckeruhr, und der Chef legte ihm zwei genau gleiche vor. Die eine, erklärte er, koste einen Dollar, und die andere einen Dollar fünfundsiebzig. Nach dem Unterschied befragt, zog er die erste halb und die zweite ganz auf und demonstrierte dann, daß die zweite doppelt so lange läutete. Daraufhin meinte der Kunde, er habe einen festen Schlaf, und da sei es wohl besser, das teurere Modell zu nehmen!

 


Ein Dichter hat geschrieben:

 

Gefestigter wird das Herz und edler die Haltung,

Wenn unsre Jugend läutert das Feuer der Qualen.

 


Doch dürfte er damit wohl kaum jene Qualen gemeint haben, die von Armut herrühren und die so unendlich drückend und grausam sind und dabei so erbärmlich und schäbig, so häßlich, so erniedrigend – ohne daß der leiseste Hauch von Würde oder auch nur Pathos sie mildert. Diese Art von Qualen ist gewöhnlich kein Thema für Dichter; allein schon die Ausdrücke dafür sind im Wortschatz der Poeten verpönt – sich in der Gesellschaft über solche Dinge auszulassen gilt ja als unfein. Wie könnte zum Beispiel jemand bei Liebhabern guter Literatur Anklang erhoffen, wenn er schildert, wie eine Familie entdeckt, daß es in ihrem Haus von Ungeziefer wimmelt, was sie dadurch an Ungemach und Pein erleidet und was ihr Kampf dagegen sie von ihrem sauer verdienten Geld kostet? Nach langem Zögern und Zweifeln zahlten unsere Freunde fünfundzwanzig Cent für eine große Tüte Insektenpulver – ein patentiertes Präparat, das vermutlich zu fünfundneunzig Prozent aus harmlosem Gips bestand und das herzustellen sicher nicht mehr als zwei Cent gekostet hatte. Natürlich zeitigte es nicht die geringste Wirkung, außer an ein paar Küchenschaben, die zu ihrem Unglück Wasser soffen, nachdem sie von dem Pulver gefressen hatten, und in deren Magen der Gips dann hart wurde. Der Familie, die von all dem keine Ahnung hatte und es sich nicht leisten konnte, noch mehr Geld zum Fenster hinauszuwerfen, blieb nichts anderes übrig, als aufzugeben und sich mit einer weiteren Plage abzufinden.

Und dann die Sache mit dem alten Antanas. Es war nun Winter, und er arbeitete in einem dunklen, ungeheizten Keller, wo man den ganzen Tag den Atem vor dem Mund sehen konnte und wo einem manchmal vor Kälte die Finger erstarrten. Des alten Mannes Husten wurde von Tag zu Tag ärger, bis er schließlich kaum noch aufhörte und das den anderen dort lästig fiel. Doch dann holte sich Antanas noch etwas viel Schrecklicheres. Bei seiner Arbeit stand er mit den Füßen ständig im Nassen, in einer Lache aus Chemikalien, und es dauerte nicht lange, da hatten die sich durch seine neuen Stiefel gefressen. An seinen Füßen begannen sich offene Stellen zu bilden, die zusehends schlimmer wurden. Er wußte nicht zu sagen, ob sie von irgendwelchen Kratzern herrührten, die sich entzündet hatten, oder einfach von schlechtem Blut, und als er die Kollegen um Rat fragte, sagten die ihm, das wär das Übliche – es komme vom Salpeter. Früher oder später kriege das hier jeder, und dann sei es aus mit ihm, jedenfalls für diese Art von Arbeit. Die Wunden würden nie mehr zuheilen – am Ende faulen einem die Zehen ab, wenn man nicht aufhört. Aber der alte Antanas wollte nicht aufhören; er sah, wie seine Familie Not litt, und er dachte daran, was es ihn gekostet hatte, diese Arbeit zu bekommen. Also umwickelte er seine Füße und machte humpelnd und hustend weiter, bis er schließlich zusammenbrach: Er kippte plötzlich um und kam nicht mehr hoch. Man trug ihn zu einer trockenen Stelle, legte ihn dort auf den Boden, und am Abend halfen ihm zwei Männer nach Hause. Antanas wurde ins Bett gesteckt, und obwohl er es bis zuletzt jeden Morgen versuchte, konnte er nicht wieder aufstehen. Er lag da, hustete sich Tag und Nacht die Lunge aus dem Leib und wurde immer weniger, bis er zum Skelett abgemagert war – ein schrecklicher Anblick, ja auch schon ein schrecklicher Gedanke. Eines Nachts hatte er dann einen Erstickungsanfall, wobei aus seinem Mund ein kleiner Blutschwall kam. Außer sich vor Angst, holte die Familie einen Arzt und zahlte einen halben Dollar, um dann zu hören, daß nichts mehr zu machen sei. Zum Glück sagte der Arzt das nicht in Hörweite des alten Mannes, denn der klammerte sich noch immer an den Glauben, daß es ihm morgen oder übermorgen besser gehen werde und er wieder arbeiten könne. Die Firma hatte ihm ausrichten lassen, man halte ihm seine Stelle frei – oder vielmehr hatte Jurgis einen von Antanas’ Kollegen gedungen, an einem Sonntagnachmittag vorbeizukommen und das zu sagen. Der arme alte Mann glaubte nach wie vor daran, während er drei weitere Blutstürze erlitt, und schließlich fanden sie ihn eines Morgens steif und kalt vor. Es ging ihnen zur Zeit ziemlich schlecht, und obwohl es Teta Elzbieta fast das Herz brach, sahen sie sich gezwungen, auf nahezu alles zu verzichten, was zu einem anständigen Begräbnis gehört. Sie nahmen nur den Leichenwagen und für die Frauen und Kinder eine Droschke. Jurgis, der rasch dazulernte, verbrachte den ganzen Sonntag damit, dafür einen niedrigen und vor allem festen Preis auszuhandeln, und er tat das im Beisein von Zeugen, damit der Kutscher ihm nicht hinterher noch irgendwelche Nebenkosten berechnen konnte. Fünfundzwanzig Jahre hatten der alte Antanas Rudkus und sein Sohn miteinander im Wald gelebt, und jetzt so zu scheiden tat weh. Aber vielleicht war es gut, daß Jurgis sich ganz darauf konzentrieren mußte, durch die Beerdigung nicht an den Bettelstab zu kommen, und folglich keine Zeit hatte, sich seinen Erinnerungen und seinem Schmerz hinzugeben.

 


Nun war der Winter mit all seinen Schrecken da. Im Walde führen den ganzen Sommer lang die Zweige der Bäume einen Kampf ums Licht, und manche verlieren ihn und sterben allmählich ab; dann kommen die Winde, die Hagel- und Schneestürme und besäen den Boden mit diesem verdorrten Geäst. Genauso war es in Packingtown: Das ganze Viertel rüstete sich zum harten Überwinterungskampf, und jene, die den nicht durchhielten, starben scharenweise dahin. Das Jahr über hatten sie als Rädchen in der großen Yard-Maschine gedient, und jetzt kam die Zeit zu deren Überholung und zum Auswechseln beschädigter Teile. Lungenentzündung und Influenza gingen um und suchten nach geschwächten Konstitutionen, die Schwindsucht hielt ihre alljährliche Ernte unter denen, die sie bereits aufs Lager geworfen hatte, und schneidende Winde und Blizzards waren eine erbarmungslose Prüfung für erschlaffte Muskeln und zu dünnes Blut. Früher oder später kam der Tag, da der Entkräftete nicht mehr zur Arbeit erschien, und dann, ohne daß man erst lange auf ihn wartete, sich nach ihm erkundigte oder ihn bedauerte, erhielt ein anderer seinen Platz.

Arbeitskräfte gab es ja wie Sand am Meer. Jeden Tag waren die Tore der Fabriken bis in den Nachmittag hinein belagert von Männern, die keinen Cent in der Tasche hatten und denen man den Hunger ansah; Morgen für Morgen kamen sie, buchstäblich zu Tausenden, und kämpften gegeneinander um eine Überlebenschance. Schnee und Kälte vermochten sie nicht zu hindern – sie waren immer zur Stelle, fanden sich bereits zwei Stunden vor Sonnenaufgang und eine Stunde vor Arbeitsbeginn ein. Manchmal holten sie sich dabei Frostbeulen an Nase, Wangen, Ohren, Händen oder Füßen, und es kam auch vor, daß einer völlig erfror, doch das hielt keinen ab, denn wo sollten sie sonst hin? Einmal inserierte Durham in der Zeitung nach »200 Mann zum Eisschneiden«, und da kamen den ganzen Tag lang die Obdachlosen und Hungerleidenden der Stadt von überall her aus deren zweihundert Quadratmeilen durch den Schnee herbeigestapft. Zur Nacht drängten achthundert Leute in die Polizeiwache des Yard-Bezirks; sie füllten die Räume völlig aus, schliefen sozusagen im Schlittensitz einer in des anderen Schoß, und auf den Korridoren lagen sie wie die Heringe, bis die Beamten keinen mehr hereinließen und einige draußen dem Erfrieren ausgesetzt blieben. Am Morgen standen schon vorm Hellwerden dreitausend Mann vorm Eingang von Durham, und es mußte Bereitschaftspolizei eingesetzt werden, um mit dem Tumult fertig zu werden. Dann suchten sich die Aufseher zwanzig der kräftigsten Männer aus – »200« war ein Druckfehler gewesen.

Vom vier, fünf Meilen östlich liegenden Michigan-See kamen eisige Winde herangebraust. Mitunter fiel das Thermometer nachts auf zwanzig oder gar dreißig Grad unter Null und reichten dann am Morgen die Schneewehen bis hoch zu den Fenstern. Die Straßen, durch die unsere Freunde zur Arbeit gehen mußten, waren alle ungepflastert und voller tiefer Schlaglöcher und Rinnen; im Sommer konnte es nach starkem Regen vorkommen, daß man, um zu seinem Haus zu gelangen, durch knietiefes Wasser waten mußte, und jetzt im Winter war es erst recht eine Quälerei, sich im Morgen- und im Abenddunkel da hindurchzuarbeiten. Sie wickelten sich ein, zogen sich alles an, was sie besaßen, aber selbst die wärmste Kleidung half nicht gegen Erschöpfung, und beim Kampf gegen diese Schneewehen ermattete selbst mancher Mann, so daß er niedersank und einschlief.

Wenn es schon für die Männer schlimm war, kann man sich vorstellen, wie schwer es erst den Frauen und Kindern wurde. Manche nahmen die Straßenbahn, sofern die überhaupt fuhr, aber wenn man so wie der kleine Stansislovas in der Stunde bloß fünf Cent verdient, möchte man nicht genausoviel für die kurze Strecke von zwei Meilen ausgeben. Die Kinder kamen so eingemummt zu den Fabriken, hatten die Schals so hoch über die Ohren gezogen, daß von ihren Gesichtern kaum noch etwas zu sehen war – und trotzdem erlitten immer wieder welche Erfrierungen. Eines bitterkalten Morgens im Februar erschien der Junge, der mit Stanislovas an der Schmalzmaschine arbeitete, fast eine Stunde zu spät, und er schrie vor Schmerzen. Die Männer wickelten ihn aus, und einer begann, ihm die Ohren zu reiben, und da die steifgefroren waren, brachen sie nach zwei-, dreimal Rubbeln ab. Auf Grund dieses Erlebnisses entwickelte Stanislovas einen solchen Horror vor Kälte, daß es schon an Manie grenzte. Jeden Morgen, wenn es Zeit wurde, sich auf den Weg zur Arbeit zu machen, fing er an zu weinen und sträubte sich. Keiner wußte, wie man ihm das austreiben sollte; Drohungen nutzten nichts – es schien etwas zu sein, über das er keine Gewalt hatte, und manchmal befürchteten sie sogar, er könne in Krämpfe verfallen. Schließlich mußten sie es so einrichten, daß Jurgis ihn stets hinbrachte und auch abholte; bei tiefem Schnee trug der Mann den Jungen oft den ganzen Weg huckepack. Mitunter arbeitete Jurgis bis sehr spät abends, und das war schlimm, denn es gab für den kleinen Kerl nirgends einen Platz zum Warten außer auf den Fluren oder in einer Ecke der Schlachthalle, wo er dann manches Mal beinahe eingeschlafen und erfroren wäre.

Die Schlachthallen hatten keinerlei Heizung; die Männer hätten genausogut den ganzen Winter hindurch im Freien arbeiten können. Überhaupt gab es in dem Gebäude sehr wenig Wärme, abgesehen von dort, wo gekocht und gebrüht wurde – aber wer da arbeitete, war noch größerer Gefahr ausgesetzt, weil er jedesmal, wenn er in einen anderen Raum mußte, eiskalte Korridore zu passieren hatte, oft mit nichts weiter auf dem Oberkörper als einem ärmellosen Unterhemd. An den Schlachtbändern war man meist mit Blut bespritzt, und das gefror rasch; wenn man sich an eine Säule lehnte, fror man selber daran an, und faßte man mit der Hand an die Klinge seines Messers, konnte es geschehen, daß die Haut hängenblieb. Die Arbeiter umbanden sich die Füße mit Zeitungen und alten Säcken, die dann, von Blut durchtränkt, sehr bald gefroren, von neuem durchtränkt wurden, abermals gefroren – und immer so fort, bis die Männer am Abend mit wahren Elefantenfüßen umherliefen. Ab und an, wenn die Aufseher nicht hinschauten, sah man sie die Füße bis zu den Knöcheln in einen dampfend warmen Rinderkörper stecken oder quer durch die Halle zu den Heißwasserschläuchen rennen. Am furchtbarsten war, daß die meisten, da sie ja mit Messern arbeiteten, keine Handschuhe tragen konnten. Ihre Arme waren weiß vor Kälte, ihre Hände klamm und gefühllos, und da kam es natürlich zu Unfällen. Außerdem war die Luft von dem heißen Wasser und Blut voller Wrasen, so daß man keine zwei Meter weit sah; und bei den vielen Männern, die in dem an den Schlachtbändern verlangten Tempo hin- und herhetzten, alle mit scharfen Metzgermessern in der Hand – nun, es war schon als Wunder anzusehen, daß nicht mehr Menschen als Rinder geschlachtet wurden.

Mit all dem hätten sie sich vielleicht noch abgefunden, hätten sie nur einen Platz zum Essen gehabt. Jurgis mußte sein Mittag entweder inmitten von dem Gestank einnehmen, in dem er arbeitete, oder aber so wie all seine Kollegen in eine der unzähligen Kneipen eilen, die ihm die Arme entgegenstreckten. Das sich im Westen der Yards hinziehende Stück Ashland Avenue wurde »Whiskey Row« genannt und war in der Tat eine »Schnapsstraße«, denn hier reihte sich Ausschank an Ausschank. In der südlich gelegenen Forty-seventh Street kam auf jeden Häuserblock ein halbes Dutzend, und an der Kreuzung beider Straßen gab es den »Whiskey Point«, ein riesiges Areal mit einer Leimfabrik darauf – umgeben von wohl zweihundert Kneipen.

Man hatte dort freie Wahl: »Heute Erbsensuppe und Kohl«, »Heiße Würstchen mit Sauerkraut. Hereinspaziert!«, »Bohnentopf mit Lamm. Willkommen!« All das konnte man in vielen Sprachen lesen, ebenso auch die phantasievollen und anheimelnden Namen dieser Zufluchtstätten. Da gab es eine »Familienklause« und ein »Kaminstübchen«, ein »Gemütliches Eck« und eine »Traute Quelle« sowie gleich mehrere »Vergnügungspaläste« und »Wunderländer«, »Traumschlösser« und »Liebeslauben«. Wie immer sie sich auch nennen mochten, ganz bestimmt führten sie die Bezeichnung »Gewerkschaftslokal« und zeigten sich betont arbeiterfreundlich. Man fand dort stets einen Platz am warmen Ofen und traf ein paar Bekannte, mit denen man sich unterhalten und lachen konnte. Nur eine Bedingung war daran geknüpft: Man mußte etwas trinken. Ging man hinein, ohne das zu tun, wurde man unverzüglich wieder hinausgewiesen, und folgte man der Aufforderung nicht schnell genug, stand zu befürchten, daß man eine Bierflasche über den Kopf geknallt bekam. Die Männer hielten sich jedoch alle an diese Spielregel und tranken; sie bildeten sich ein, dadurch etwas umsonst zu kriegen – denn sie brauchten nicht mehr als ein Glas zu bestellen und konnten sich dafür dann kostenlos mit einem guten warmen Mittagessen vollschlagen. In Praxis war das freilich nicht ganz so billig, denn bestimmt traf man dort einen Freund, der einen ausgab, wofür man sich natürlich revanchieren mußte. Dann kam noch einer hinzu – und schließlich waren ein paar Schnäpse Medizin für einen schwer arbeitenden Mann. Kehrte er zurück, fröstelte ihn weniger und machte er sich mit neuem Mut wieder an seine Arbeit; deren stumpfsinnige Eintönigkeit ging ihm nicht mehr so auf die Nerven – es kamen ihm Gedanken, und er sah seine Lage in weniger trübem Licht. Aber auf dem Weg nach Hause befiel ihn das Frösteln wahrscheinlich wieder, und so mußte er ein- oder zweimal einkehren, um sich gegen die grimmige Kälte aufzuwärmen. Da es auch in diesem Lokal kostenloses Essen gab, konnte es geschehen, daß er erst spät zum Abendbrot heimkam oder auch gar nicht. Vielleicht zog dann seine Frau los, ihn zu suchen, und ihr wurde ebenfalls kalt; womöglich hatte sie ein paar der Kinder dabei – und so konnte eine ganze Familie der Trunksucht zutreiben. Wie um den Teufelskreis zu schließen, zahlten alle Fabrikanten ihre Leute nur in Schecks aus, lehnten jede Bitte um Bargeld ab; und wo ließ sich in Packingtown ein Scheck bequemer einlösen als in einer Kneipe, wo man sich für diese Gefälligkeit dann erkenntlich zeigte, indem man einen Teil des Geldes in Getränke umsetzte?

Vor all dem wurde Jurgis durch Ona bewahrt. Er trank nie mehr als das eine Glas in der Mittagspause; dadurch kam er in den Ruf, ungesellig zu sein, und war in den Trinkstuben nicht allzu gern gesehen, so daß er nirgends Stammkunde wurde. Und abends ging er geradenwegs nach Hause oder half Ona und Stanilovas bei dem beschwerlichen Heimweg. Oft mußte er noch einmal hinaus, Feuerung zu holen, und kam dann von ein paar Straßen weiter mit einem Sack Kohle auf der Schulter durch die Schneewehen zurückgewankt. Zu Hause war es nicht sehr gemütlich – jedenfalls nicht jetzt im Winter. Sie hatten keinen einzigen Ofen, sondern nur einen kleinen Herd kaufen können, der, wie sich herausstellte, bei starker Kälte nicht einmal ausreichte, die Küche zu erwärmen. Das machte es tagsüber schwer für Teta Elzbieta und ebenso für die Kinder, wenn sie nicht zur Schule gehen konnten. Abends hockte sich die ganze Familie, das Essen auf dem Schoß haltend, um diesen Herd; Jurgis und Jonas rauchten anschließend noch eine Pfeife, und danach krochen sie alle in die Betten, um warm zu werden, denn das Feuer wurde jetzt ausgemacht, weil sonst zuviel Kohle verbraucht würde. Die ganze Nacht lang wehrten sie sich dann verzweifelt gegen die Kälte. Sie behielten die Sachen an, sogar die Mäntel, und legten auf die Schlafdecken noch alles drauf, was sie an warmer Kleidung besaßen. Die Kinder schliefen alle aneinandergekuschelt in einem Bett, doch selbst so konnten sie sich nicht warmhalten; die außen lagen, bibberten und schluchzten, krochen über die anderen hinüber und suchten in die Mitte zu kommen, was dann eine Rauferei auslöste. Dieses alte Holzhaus mit seiner undichten Verschalung war ganz anders als ihre Katen daheim mit den dicken, außen und innen lehmverputzten Wänden, und die eindringende Kälte hatte etwas von einem Lebewesen, so als wäre ein Geist im Zimmer. In den Mitternachtsstunden, wenn alles rings um sie schwarz war, wachten sie auf; vielleicht hörten sie draußen gellendes Schreien, oder aber es herrschte Totenstille, und das war noch unheimlicher. Sie spürten, wie die Kälte durch die Ritzen hereingekrochen kam und ihre todbringenden Eisfinger nach ihnen ausstreckte, und sie krümmten sich zusammen, machten sich ganz klein, um sich vor ihr zu verstecken. Doch es half alles nichts – sie rückte näher und näher, unaufhaltsam, ein Schreckgespenst aus den Höhlen des Grauens, eine kosmische Urkraft, die ahnen ließ, was für Qualen die dem Chaos und der Vernichtung anheimgegebenen Verdammten erwarten. Sie ließ und ließ nicht nach, Stunde um Stunde wanden sie sich unter ihrem grausamen Griff, einsam und allein. Niemand hätte auf ihr Schreien gehört, von nirgendwo konnten sie Hilfe oder auch nur Mitleid erhoffen. So ging das bis zum Morgen – bis sie hinaus mußten zu einem neuen Tag der Plackerei, wieder ein bißchen schwächer und ein Stückchen näher der Zeit, da sie an der Reihe waren, vom Baum geschüttelt zu werden.