73
Außerhalb des Tals, am Morgen des 22. Juni
Das Lager der Rebellen am Ausgang der Höhle war schmutzig, schlammig und kalt. Die Geiseln saßen unter Bäumen, hinter ihnen die Berge, die das verborgene Tal von der Außenwelt abgrenzten. Vor ihnen lagerten die wenigen Soldaten, die übrig geblieben waren. Paul war gerade zu ihnen gegangen, sein Stellvertreter Innocent machte sich etwas abseits an dem Eingang zur Höhle zu schaffen, aus der sie in der Nacht gekommen waren.
Tom ging auf Hitimana und Kambere zu, die noch immer verängstigt und völlig erschöpft aussahen. Er setzte sich neben die beiden Jungen auf den Boden, um ihnen Mut zuzusprechen.
»Wo kommt die Frau her?«, wollte Hitimana leise von Tom wissen. Er nickte zu Birgit hinüber. »Sie ist gefährlich ...«
Erstaunt sah Tom ihn an. »Nein, keine Sorge, Birgit ist mit Andrea befreundet. Sie kümmert sich nur um sie.«
»Aber sie hat das doch alles organisiert«, flüsterte der Junge, während er sich nervös umsah, ob die Soldaten, die nur ein paar Meter entfernt saßen, ihnen zuhörten.
»Was meinst du damit?«, fragte Tom.
»Sie hat es Paul gesagt. Gleich nach der Entführung.« Hitimana blickte Tom ängstlich an. »Sie hat gesagt, dass sie die Verlobte von unserem Präsidenten ist.«
»Von diesem Bernard?« Toms Stirn legte sich in Falten, als er an diesen Schattenpräsidenten dachte, der eine Armee von Söldnern im tiefsten Afrika angeblich von Deutschland aus befehligte, hier aber nie in Erscheinung trat. »Nein, das ist vermutlich nur irgendeine Art Finte von Birgit gegenüber Paul. Sie ist einfach nur eine Freundin ...«
Tom stockte. Wie heißes Öl fuhr ihm die Erkenntnis durch die Glieder. Birgit hatte sich merkwürdig verhalten. Sie hatte immer wieder mit Paul geredet, als hätten ihre Gespräche bereits eine persönliche Basis, als würden sie sich kennen. Vielleicht hatte sie sich gar nicht für ihre Freilassung eingesetzt? Was, wenn Tom sie völlig falsch eingeschätzt hatte? Er starrte entsetzt zu Andrea und Birgit hinüber, die einträchtig zusammensaßen.
»Was genau hat Birgit gesagt?«, fragte er Hitimana mit trockener Kehle.
»Ich habe nicht alles richtig verstanden. Aber sie hat von Paul verlangt, dass sie besser behandelt wird als die anderen. Weil sie die Frau seines Chefs ist.«
»Und wie hat Paul reagiert?«
»Er hat gelacht. Wenn der Präsident wieder da ist, will er dich gar nicht mehr, hat er gesagt. Sie sei Bernard völlig egal.«
Tom erinnerte sich, wie Birgit nach einer Auseinandersetzung mit Paul niedergeschlagen zu ihnen zurückgekommen war. Obwohl alles zusammenzupassen schien, fand Tom die Idee noch immer äußerst gewagt. Selbst die kaltblütigsten Menschen warfen ihre Freunde einem solchen Rebellen nicht zum Fraß vor.
»Vielleicht hast du sie falsch verstanden? Manchmal sagen Erwachsene Dinge, die sie nicht so meinen.«
»Ich weiß, was ich gehört habe«, beharrte Hitimana und sah dabei plötzlich sehr erwachsen aus. »Und ich sage dir: Die Frau ist gefährlich.«
Tom überlegte fieberhaft, wie er vorgehen konnte, um Birgit die Wahrheit zu entlocken. So bemerkte er zu spät die klobigen Stiefel des Generals vor sich im Dreck, sah erst im letzten Moment, wie Paul seine kleine glänzende Pistole aus dem schmierigen Halfter zog. Er spürte das Zittern des geflohenen Kindersoldaten Hitimana neben sich, blickte dem kaltblütigen Afrikaner über sich in die Augen und sah darin die Lust an der Qual.
Paul zog den Hahn seiner Waffe noch nicht durch. Eine Weile ergötzte er sich an der Angst seines ehemaligen Untergebenen. Dem Jungen trat der Schweiß auf die Stirn und er griff nach Kamberes Hand, der auf der anderen Seite neben ihm saß. Pauls Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen, als er die Mündung der Waffe langsam zu dem fremden Jungen hinüberwandern ließ.
Hitimana suchte auch mit der anderen Hand Halt. Die kleine raue Handfläche legte sich langsam auf Toms Arm. Dieser spürte die Angst des Jungen fast, als wäre es die eigene. Das Zittern durchströmte ihn wie immer stärker werdender elektrischer Strom. Neben ihm saß ein Kind, das alles verloren hatte, was es brauchte. Die Eltern, die Geschwister, Heimat, Liebe. Und jetzt sollte Hitimana auch noch sein eigenes Leben verlieren?
Entschlossen drückte sich Tom in die Höhe. Er überragte den General der ALR um zehn Zentimeter. Das war ihm vorher nie aufgefallen. Mitleidig blickte er auf den Mann hinab, der sich nun ihm zuwandte, ohne die Position der Waffe zu verändern. Tom hatte keine Angst mehr.
Er sah Paul in die Augen, unverwandt, ohne zu blinzeln, streckte die Hand aus, legte sie auf Pauls Arm und drückte diesen langsam und konsequent nach unten. Dabei ließ sein Blick nicht von den Augen des Generals ab, in denen er die Häme und Kaltblütigkeit erkannte, die einen Menschen unberechenbar macht.
In diesem Moment bemerkte Tom die Männer. Im Schatten der üppigen Pflanzenwelt näherten sie sich. Geduckt. In Tarnanzügen. Vermummt und mit gezückten Maschinenpistolen. Es war vorbei. Paul hatte nichts mehr zu melden.
Toms Bewegung der Augen war kaum wahrnehmbar. Ein winziger Blick zur Seite, ein kurzes Aufflackern, eine Spiegelung in den Pupillen. Seine Augen lachten, während er noch immer keine Miene verzog. Er beobachtete Paul gespannt. Der glaubte weiterhin, die Macht in den Händen zu halten, der Mittelpunkt der Welt zu sein. In dieser Position bemerkt man nicht, wenn sich alles plötzlich in eine andere Richtung dreht. Und das war genau jetzt der Fall.
Paul ließ widerstandslos zu, dass Tom seinen Arm hinunterdrückte, denn er registrierte sehr wohl, dass etwas geschah. Er hatte es in Toms Augen gesehen. Wenn er jetzt schoss, wäre er in derselben Sekunde tot. Wer oder was auch immer hinter ihm war, würde nicht einen Sekundenbruchteil zögern.
Ganz langsam senkte sich Pauls Arm und steckte die Pistole zurück in das Halfter. Dann geschah das Unglaubliche: Paul reichte Hitimana die Hand, und der Junge blickte erstaunt zu ihm empor, griff tatsächlich zu, irritiert über diese plötzliche Geste. Pauls Hand schloss sich um seine. Hitimana zuckte zusammen, versuchte seine Hand zurückzuziehen, aber der General ließ ihn nicht mehr los. Seine Hand war zu einer eisernen Klaue geworden, die sich niemals wieder öffnen wollte.
Tom blickte wie gelähmt auf das Geschehen neben sich, ohne Idee, was er tun sollte. Panisch sah er sich um, erfasste Andrea, die ihn erschrocken anstarrte, daneben Birgit, bemerkte Innocent, der sich in die Dunkelheit der Höhle zurückzog. Georg, der sich an einem nahen Bach unbekümmert das Hemd über den Kopf zog, um sich darin zu waschen. Nzanzu saß mit Peter etwas abseits. Kathrin blickte mit düsterer Miene auf den Boden.
Ohne den Blickkontakt zu Tom abzubrechen, zog Paul den Jungen eng an sich heran, legte ihm von hinten einen Arm um die Brust, hob ihn hoch und entfernte sich mit langsamen Schritten, bis er neben Andrea stand. Immer noch den Blick auf Tom gerichtet, hielt er bereits wieder den Lauf der Pistole an Hitimanas Schläfe. Er trat Andrea in die Seite, sodass sie aus ihrer Erstarrung erwachte.
»Steh auf, Miststück«, zischte er ihr zu.
Taumelnd kam sie auf die Beine. Blitzschnell ließ Paul den Jungen los, ergriff Andrea, wirbelte herum, richtete seine Pistole auf ihren Kopf und hielt sich Andrea als Schutzschild vor den eigenen Körper. Dann ging er langsam Schritt für Schritt rückwärts und zerrte Andrea mit.
»Sofort hinlegen!«, dröhnte die Stimme des deutschen Einsatzleiters durch die Bäume. »Alle!«
Ein Schuss löste sich aus Pauls Waffe. Tom warf sich auf den Boden, riss dabei Kambere, der ihm am nächsten stand, mit und hielt ihn fest in seinen Armen. Weitere Schüsse fielen.
»Stopp!«, brüllte Tom. »Aufhören!«
Innocent war verschwunden. Paul taumelte mit einem verzerrten Grinsen im Gesicht und mit Andrea vor sich immer weiter auf den Höhleneingang zu. Tom wollte aufstehen, wurde jedoch sofort von der harschen Stimme des Polizisten daran gehindert.
»Unten bleiben!«
Die vermummten Polizisten strömten aus dem Wald auf die Lichtung. Keiner der Rebellen leistete Widerstand. Mit hoch erhobenen Armen warteten sie darauf gefesselt zu werden.
Drei der Männer rannten auf Paul und Andrea zu, die in diesem Moment in das Dunkel der Höhle eintauchten. Schüsse peitschten aus der Dunkelheit heraus und zwangen die Vermummten, sich auf den Boden zu werfen.
Diesen Moment nutzte Tom. Er sprang auf, ignorierte die Warnungen, rannte an den drei Polizisten vorbei und folgte Andrea und Paul in die Finsternis.
Tom konnte nichts sehen. Aber er konnte Andrea hören. Sie wehrte sich, strampelte und schrie. Tom taumelte vorwärts, eine Hand schützend vor dem Kopf, die andere tastend ausgestreckt. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit, sodass er zumindest Umrisse erkennen konnte. Tom war schneller als Paul, der im Gegensatz zu ihm eine Frau unter Kontrolle halten musste, die sich nach Leibeskräften wehrte.
Tom spürte die Angst in der Luft und roch die Panik zweier Menschen. Und er baute darauf, dass Andreas Geschrei seine Schritte übertönte.
In diesem Moment bemerkte er Schritte hinter sich. Die Polizisten waren ihm gefolgt und nur wenige Meter entfernt. Eine Taschenlampe blitzte kurz auf und zeigte ihm die Silhouetten von Andrea und Paul. Dann war es wieder dunkel. Doch der kurze Lichtblitz hatte gereicht, damit sich Tom orientieren konnte. Er sprang nach vorne und schlug zu. Er traf Paul mit der Faust direkt ins Gesicht.
Paul taumelte und lockerte seinen Griff um Andrea für einen Moment. Andrea riss sich los, bekam Pauls Pistole in die Hände, griff instinktiv danach und drückte ab. Im Licht der Taschenlampen sackte Paul zusammen. Die Vermummten stürzten auf sie zu.
Es war vorbei.
Tom nahm Andrea in den Arm, entwand ihren Händen die Pistole und übergab sie den Polizisten. Es war endlich vorbei. Er stützte Andrea, und sie kehrten im Schein der Polizeitaschenlampen langsam zum Ausgang der Höhle zurück.
Als die beiden ins Licht hinaustraten, machte sich Erleichterung in ihm breit. Und Erschöpfung.
Nun durfte etwas Neues beginnen. Es war endlich sein Leben, das ausgerechnet hier, an dieser unwirtlichen Stelle im Herzen Afrikas seinen Anfang nahm. Sein neues Leben, dass er mit Andrea an seiner Seite beginnen wollte.