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Ruwenzori, 18. Juni
Ihre Suche dauerte nun schon zwei Tage, und doch schien es Hitimana, als hätte sie gerade erst begonnen. Paul war unfassbar wütend geworden, als er die Flucht der Europäer entdeckt hatte. Und er machte die Schuldigen sofort aus: Hitimana, Mugiraneza und Ndabarinzi. Er beorderte die drei Jungen zu sich, beschimpfte sie wüst. Er zog seine Pistole und lud sie durch. Hitimana schloss die Augen. Dann trat Innocent dazwischen und verhinderte in letzter Sekunde eine Strafaktion.
Die Erschießung war ausgesetzt, doch Paul konnte seine Drohungen jederzeit wahr machen. Ihm standen in seinen Stützpunkten genügend Kindersoldaten zur Verfügung; auf einen mehr oder weniger kam es nicht an. Mit den erwachsenen Soldaten ging Paul sorgsamer um, denn er brauchte erfahrene Männer, auf die er sich verlassen konnte. Die Kinder waren für ihn lediglich Mittel zum Zweck. Einzeln wertlos, nur in der Masse von Bedeutung.
Einmal hatten sie die Weißen beinahe erwischt. Sie kamen ihnen so nah, dass Hitimana ihren Angstschweiß riechen konnte. Aber dann verloren sich ihre Spuren plötzlich wieder, und Paul tobte vor Wut, schrie seine Leute an und gab ihnen die Schuld daran, dass sie einer List aufgesessen waren.
Wann immer Hitimana seine Augen schloss, sah er wieder die kalte Wut in Pauls Augen, hörte, wie er seine Waffe entsicherte und spürte einen eisigen Windhauch, der über seine Schultern zu wehen schien.
Bald schon konnten sie die Spur der Entflohenen wieder aufnehmen. Diese Ausländer hatten nicht den leisesten Schimmer, wie man sich lautlos und ohne Spuren zu hinterlassen, durch den Wald und das Gebirge bewegte. Nun gingen sie schon seit Stunden immer weiter bergauf.
Vor ihnen lag ein Berg, dessen Gipfel sie nicht erkennen konnten, da dichte Wolken die Sicht versperrten. Der Schnee unter ihren Füßen wurde immer fester, der anfängliche leichte Regen ging in ein Schneegestöber über, das Hitimana so noch nicht erlebt hatte. Er war sich sicher, dass die Berggeister begannen, Einfluss zu nehmen. Sie wollten ihren Aufstieg verhindern. Um jeden Preis.
Er war froh, dass sein Freund Mugiraneza ebenfalls in der Gruppe war, die nun die Weißen verfolgte. So fühlte er sich nicht ganz allein. Dennoch überkam ihn bei jeder Rast, die sie machten, Heimweh. Er wollte sein Dorf wiedersehen. Er wollte den Blick über die sanften Hügel streifen lassen, den Duft des frischen Kassava seiner Mutter aufnehmen und seinem kleinen Bruder über den Kopf streicheln, wenn er mal wieder etwas ausgefressen hatte und dafür ausgeschimpft worden war. Mugiraneza erinnerte ihn an seinen Bruder. Er war genauso ungeduldig und ungestüm.
Der Junge ging mit müden Schritten vor ihm. Er war völlig erschöpft. Gerne hätte Hitimana ihm etwas von dem Gepäck abgenommen, aber er trug selber schon fast mehr als er konnte. Plötzlich rutschte der Kleinere vor ihm weg, seine Beine versagten und er schlitterte ein paar Meter den Berg hinab, wobei er Hitimana beinahe mitgerissen hätte. Mit rot unterlaufenen Augen sah er Hitimana an, als dieser ihm aufhalf. Sofort war Innocent bei ihnen, riss Mugiraneza auf die Beine und brüllte ihn an.
»Willst du etwa schlappmachen, du Weichling?«
»Nein ...«, stotterte der Kleine.
»Dann lieg hier nicht in der Gegend herum. Wenn Paul das sieht, bist du der Erste, der hierbleibt. Und ich kann dir garantieren, dass er keine Überlebenden zurücklässt.«
Innocent stieß Mugiraneza von sich, der sofort weiterging. Dann verschwand Innocent wieder aus Hitimanas Blickfeld. Er eilte seinem Freund nach.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte er ihn besorgt.
»Ja«, kam die Antwort sehr knapp.
»Wir schaffen das – du musst nur daran glauben.«
Mugiraneza schaute zur Seite auf den größeren Gefährten. Er nickte stumm.
»Wenn wir die Leute gefunden haben, dann gehen wir wieder runter von diesem Berg. Und dann finden wir einen Weg zu fliehen.«
Sie marschierten nebeneinander den steilen Hang hinauf. Hin und wieder berührten sich ihre Arme, manchmal sahen sie sich kurz an, doch lange sprach keiner der beiden ein Wort.
»Erinnerst du dich an den großen Platz in unserem Dorf?«, fragte Hitmana nach einer Weile. »Du hast dort mit deiner Schwester und deiner Mutter getanzt ... erinnerst du dich?«
»Ja.«
»Du wirst diesen Platz eines Tages wiedersehen. Und du wirst mit deiner Schwester auf dem Platz tanzen. Die anderen werden Musik spielen. Du wirst den Geruch der gebratenen Ziegen riechen, die ihr am Abend gemeinsam am Feuer essen werdet.«
Mugiraneza guckte Hitimana erstaunt an.
»Glaubst du das wirklich?«
»Ja, Mugiraneza, das glaube ich. Die Geister beschützen uns. Sie sind immer bei uns.«
Mugiranezas Schritte wurden ein wenig fester. Seine Schultern hoben sich etwas, und er lächelte zwischen seinen Tränen hindurch. Doch dann zog ein dunkler Schatten über seine Augen.
»Meine Schwester ist tot. Ich habe selber gesehen, wie die Soldaten sie erschossen haben ...«, sagte er leise.
»Aber das bedeutet nicht, dass sie dich allein gelassen hat.« Hitimana sah seinen Freund an. Er legte ihm eine Hand auf den Arm. »Was haben dir deine Großeltern von den Ahnen erzählt?«
»Sie haben gesagt, dass sie immer bei uns sind, dass sie uns begleiten.«
»Dann sind sie hier. Dann ist deine Schwester auch hier. Ganz nah. Sie wird dich beschützen. Wenn du einmal das Gefühl hast, allein zu sein, dann schließ’ die Augen und erinnere dich an ihr Gesicht. Du wirst sehen, sie ist immer bei dir.«
»Sie hatte so schönes Haar. Und ihre Stimme hat mich immer beruhigt, wenn ich nachts Angst bekam.«
»Sie singt für dich. Immer wenn du es willst.«
»Hast du auch eine Schwester, die für dich gesungen hat?«
»Sie hat mich immer vor meinem kleinen Bruder beschützt, wenn der mich geärgert hat.« Hitimana musste lächeln, als er an sie dachte. »Ich konnte gegen meinen Bruder nie gewinnen. Ich bin dann immer zu meiner Schwester gelaufen und habe ihr alles erzählt. Sie hat mich in den Arm genommen, ist mit mir zu ihm gegangen und wir haben uns wieder vertragen.« Er meinte plötzlich ihren Geruch in seiner Nase wahrzunehmen.
»Lebt deine Schwester noch?«
»Nein, sie haben sie getötet.«
»Und ist sie bei dir? Beschützt sie dich?«
Hitimana hatte lange nicht an seine Schwester denken wollen, weil dann auch die Bilder wieder kamen. Der Überfall, die Schreie, das Feuer. Und das Blut. Überall war Blut gewesen. Als er jetzt an sie dachte, erschien ihr Gesicht vor ihm. Sie sah ihn mit ihren beinahe schwarzen Augen an.
»Ja, sie ist hier.« Er musterte Mugiraneza.
Der Schneefall nahm zu, und doch spürte Hitimana die Kälte nicht. Er spürte die Liebe, die ihn mit seiner Schwester, die tot war, und mit seinem Bruder, den er lebend wiederzufinden hoffte, verband. Und dann war da die Stimme. Erst klang sie weit entfernt, doch mit jedem Augenzwinkern kam sie näher, wurde klarer. Die Stimme seiner Schwester. Sie sang. Für ihn und für Mugiraneza. Als er zu Seite schaute, bemerkte er den erstaunten Blick seines kleinen Freundes.
»Was ist das?«, fragte der. »Da singt ein Mädchen.«
»Das ist meine Schwester. Sie singt für uns. Sie ist hier. Hab ich doch gesagt.«
Die beiden Jungen stapften weiter durch den tiefer werdenden Schnee den Berg hinauf. Neben ihnen lag der Gletscher wie ein schlafender Riese. In einer langen Kette liefen sie daran entlang, ohne zu wissen, was sie erwarten würde. Plötzlich gellte von oben aus dem Schneegestöber ein Schrei. Hitimana und Mugiraneza blieben stehen. Innnocent trieb sie augenblicklich weiter an.
Etwas später kamen sie an einem Trümmerfeld vorbei. Hitimana konnte durch den Schnee nicht viel erkennen, aber es schien so, als sei hier ein Flugzeug abgestürzt. Bevor er sich genauer umsehen konnte, wurden sie schon unbarmherzig weiter den Berg hinauf getrieben. Paul erschien auf einmal aus dem Nichts, lächelte beinahe glücklich, weil sie die Flüchtenden fast erreicht hatten und verschwand dann wieder im Schneetreiben. Hitimana meinte einen blassen Schatten hinter ihm zu sehen.
»Sie werden ihn einholen«, sagte eine Stimme dicht neben Hitimanas Ohr. Er wandte sich um und erschrak. Ganza, einer der älteren Soldaten, stapfte neben ihm.
»Die Geister werden Paul holen.« Er sah den Jungen düster an. »Sie waren ganz dicht hinter ihm.«
Ganzas Atem ging stoßweise, auch ihn strengte der Aufstieg sehr an. »Du weißt nicht, wo wir sind, habe ich Recht?«
»Was meinst du damit?«, fragte Hitimana zurück.
»Haben dir deine Eltern nie von dem Ort erzählt, an dem die Geister der Mondberge leben?«
In diesem Moment riss der Schneevorhang für einen Moment auf und gab einen kurzen Blick nach oben frei. Zwei gigantische Berggipfel türmten sich über ihnen auf. Schroff und kahl ragten sie aus dem ewigen Eis in den stahlblauen Himmel hinein. Bevor Hitimana genauer hinsehen konnte, peitschte ihm schon wieder Schnee ins Gesicht. Aber er hatte sie erkannt. Ein Schauer lief ihm den Rücken hinab. Das waren die Berge, von denen seine Eltern und Großeltern so oft gesprochen hatten. Das Herz des Ruwenzori. Hier waren die Geister der Mondberge zu Hause. Die Bergspitzen waren heilig, kein Mensch durfte dieses Gebiet betreten. Und doch wusste Hitimana, dass ihm selbst keine Gefahr drohte. Die Geister mussten wissen, dass er hierher gezwungen worden war. Und die sanfte Stimme seiner Schwester, die sich durch das Schneegestöber wieder einen Weg in sein Ohr bahnte, bestätigte ihn darin. Er war frei von Schuld.
»Beeilt euch!«, ertönte Pauls wütende Stimme von oben. Hitimana, Mugiraneza und Ganza rannten jetzt so schnell es ging durch den tiefen Schnee immer weiter auf den verbotenen Gipfel zu. Nach ein paar Minuten hatten sie völlig außer Atem den Anschluss an ihre Gruppe geschafft. Und dann sah Hitimana sie: Am Hang über ihnen keuchten die Europäer durch den Schnee. Paul zog seine Pistole aus der Hosentasche und zielte auf die Weißen. Aber der Schatten war schneller. Er tauchte aus der von Nebel und Schnee geschwängerten Luft auf, erfasste Pauls Kopf und tauchte ihn in die weiße Dunkelheit. Im selben Moment jagte ein Schuss über den Gletscher und sein Knall wurde vielfach von den umliegenden Felsen zurückgeworfen.
Paul stürzte in den Schnee. Der Schatten war genauso schnell wieder verschwunden wie er gekommen war. Innocent hechtete mit erhobenem Gewehr auf seinen Anführer zu, und Hitimana glaubte für einen Moment, er wolle Paul den Gletscher hinabstoßen. Auch die anderen rannten eilig auf Paul zu. Mugiraneza schien ebenfalls magisch von der Situation angezogen zu werden. Da wurde die Stimme in Hitimanas Ohren immer lauter. Seine Schwester. Sie sang. Aber es war nicht mehr der beruhigende Gesang wie noch ein paar Minuten zuvor. Sie warnte ihn. Hitimana streckte den Arm aus und hielt Mugiraneza zurück.
»Bleib hier!«, flüsterte er ihm zu.
Der Kleinere wandte sich erstaunt um. Wie ein dichter Vorhang legte sich in diesem Moment eine Nebelwand zwischen die beiden Jungen und die Gruppe der Soldaten, die der Mitte des Gletschers immer näher kamen. Sie verschwanden aus Hitimanas Sichtfeld, in das nun die Gestalt seiner Schwester trat. Sie sah ihn freundlich an. Und wies ihn und seinen Freund wortlos an, in die andere Richtung zu gehen. Hitimana schaute zur Seite. Mugiraneza musste sie ebenfalls sehen, denn er wich ängstlich zurück. Hitimana griff die eiskalte Hand seines Freundes und zog ihn mit sich. Gefahr braute sich dort oben zusammen. Und sie kam näher. Er riss Mugiraneza hinter sich her, sie verloren ihr Gepäck.
Dann hörte er ein leises Zischen durch den Sturm. Es wurde mit jeder Sekunde lauter und raste auf sie zu. Von oben. Sie liefen schneller. Der Wind peitschte ihnen um die Ohren, das Zischen wurde zu einem leisen Grollen, schwoll an, bedrohte sie, kam immer schneller hinter ihnen her. Im nächsten Moment hatten sie einige Felsen am Rande des Gletschers erreicht. Hitimana stieß seinen Freund unter einen Vorsprung, hechtete hinterher und entkam der zu einem Brüllen angewachsenen Gefahr im letzten Moment. Schnee ergoss sich über die Felsen, verdunkelte die Welt um sie herum, verschwand dann von vielen Echos begleitet in der Tiefe.
Als Hitimana wagte, die Augen wieder zu öffnen, die er in der Panik geschlossen hatte, bot sich ihm ein atemberaubender Anblick: Als habe es nie ein Schneetreiben gegeben waren die Wolken gewichen, der Himmel über ihnen leuchtete in einem klaren Blau, der Schnee glitzerte ringsum und die weiß-grauen Spitzen der benachbarten Gipfel stachen in die klare Luft.