06_Abnehmender_Mond.tif

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In der Tiefe des Berges, 21. Juni

Andrea und Kathrin marschierten hintereinander durch das Berginnere, immer weiter dem Fluss folgend. Georg lief mit der Stirnlampe voran, Peter bildete den Schluss.

Andrea war noch immer von der plötzlichen Begegnung mit der lange vermissten Kathrin verstört. Auch Peter hatte eine Weile gebraucht, bis er ihre Rückkehr realisiert hatte. Am meisten irritierte sie alle, dass sich Kathrin nach ihren eigenen Beteuerungen überhaupt nicht daran erinnern konnte, was mit ihr geschehen und wie sie in die Höhle gekommen war. Sie war immerhin sieben Tage verschwunden gewesen. Sie hatte in dieser Zeit gegessen und getrunken, sie musste irgendwo Schutz vor dem Regen, der Kälte und dem Wind gefunden haben.

Ein Geräusch ließ Peter aufhorchen. Ihnen folgte jemand. Oder etwas. Vorsichtig drehte er sich um und sah in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Völlige Dunkelheit. Er streckte die Hand nach links aus, ertastete die Felswand, rechts musste das Wasser sein, von dort kam das Rauschen. Seine Hand verschwand in der Finsternis, als er den Arm in diese Richtung bewegte. Er zog ihn zurück und streckte ihn dann langsam gerade vor sich aus. Die Hand berührte etwas, wo nichts sein durfte. Peter zuckte zurück, sog den Atem vor Schreck tief ein. Das konnte nicht sein. Zitternd versuchte er es erneut, bekam diesmal jedoch nichts in die Finger.

»Peter, warum kommst du nicht?«, rief Andrea ihm leise zu.

Die anderen waren stehen geblieben. Peter schaute sich zu ihnen um. Er konnte nur noch ihre Umrisse im Schein der Stirnlampe erkennen. Die Batterien wurden immer schwächer.

»Nichts«, antwortete er und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. »Gehen wir weiter. Je früher wir diese Höhle hinter uns lassen, desto besser.«

Die anderen setzten sich wieder in Bewegung. Peter zögerte noch einen kurzen Moment, versuchte sich an das Gefühl in seinen Fingern zu erinnern. Haut. Er hatte jemandem ins Gesicht gefasst. Eiskalt lief ihm ein Schauer über den Rücken, als er sich bewusst wurde, dass da ein Mensch gewesen war. Und er war vermutlich noch immer da, ganz nah. Peter strengte noch einmal seine Augen an, aber hinter ihm lag nur tiefe Schwärze. Eilig folgte er den anderen.

Kathrins Auftauchen gab ihm immer wieder zu denken. Der Träger, der gleich am ersten Tag abgehauen war, kam ihm in den Sinn. Und natürlich Michael, der genauso plötzlich wie Kathrin aus dem Lager verschwunden war. Drei Leute aus seiner Gruppe waren in den ersten Tagen der Tour einfach verschollen. Eine war nun wieder aufgetaucht. Was war mit den anderen geschehen?

So schnell er konnte, schloss Peter zu Kathrin auf, deren gelbe Jacke noch schwach zu erkennen war. Die Geräusche um sie herum wurden lauter. Tief unter den Felsen brodelte etwas. Auf Peter wirkte es, als wäre dort ein riesiges Tier gefangen, das permanent versuchte, aus seinem Gefängnis auszubrechen. Kalter Schweiß benetzte seine Stirn. Er spürte hinter sich verhaltenen Atem. Das Heulen aus der Felswand nahm zu. Die Geister waren erzürnt. Diese Gänge gehörten ihnen, Menschen durften hier nicht sein.

Als Peter nach vorne sah, erblickte er ein grünliches Leuchten, das aus einem Spalt im Felsen zu strahlen schien. Das Licht war ungleichmäßig, es flackerte, nahm zu und schwächte sich wieder ab. Irgendetwas, irgendwer erwartete sie dort.

Georg verlangsamte seine Schritte, bis er schließlich stehen blieb. Er leuchtete mit seiner Lampe nach hinten, erfasste erst Andrea mit dem Lichtstrahl, dann Kathrin und endlich auch Peter.

»Vor uns liegt die große Höhle, von der ich erzählt habe«, sagte er und Ehrfurcht erfüllte seine Stimme.

Peter hingegen packte das nackte Grauen. Die Weißen hatten offenbar immer noch nicht verstanden, wie die Welt hier funktionierte. In Afrika, unter dem mächtigsten Gebirge des Kontinents, galten andere Gesetze als in Europa. Peter wusste das. Ihm war auch bewusst, dass jeder, der hier nach alten Regeln, nach vertrauten Erfahrungsmustern vorgehen wollte, zwangsläufig scheitern musste.

Sie waren noch etwa fünfzig Meter von dem Durchgang entfernt, als etwas an Peter vorbeihuschte. Er spürte einen leichten Luftzug und eine kurze Berührung an seinem rechten Arm. Dann erst sah er einen Schatten. Ein Mensch. Oder zumindest etwas von der Form eines Menschen. Der Schatten überholte auch Kathrin, die jedoch stoisch weiterging.

Der Schatten erreichte Andrea, packte sie am Arm, riss sie seitlich mit sich fort. Andreas Schrei war kurz und gellend. Georg wirbelte herum. Dann wurde es totenstill.

»Andrea?«, rief Georg und seine Stimme war längst nicht so laut wie er wollte. Er bekam keine Antwort.

Peter eilte an Kathrin vorbei und erreichte die Stelle, an der Andrea zuletzt gewesen war. Georg stand noch immer ein Stück weiter vorne.

»Komm zurück«, rief Peter ihm zu. »Ich brauche Licht.«

Georg sprang ihm sofort zu Hilfe. Die Lampe flackerte. Schon befürchtete Peter, dass sie gerade jetzt erlöschen würde, aber das Licht leuchtete wieder konstant, als Georg bei ihm ankam. Der Strahl wanderte suchend an der Felswand entlang, bis er an einem schmalen Spalt hängenblieb.

»Da!« Peter riss Georg die Lampe vom Kopf, um in den Spalt zu leuchten. Ein Gang. Auf dem Boden lag das Tuch, mit dem sich Andrea zuletzt die Haare zusammengebunden hatte. Peter zwängte sich durch den Spalt, folgte dem Gang, der leicht hinauf führte, schürfte sich die Haut an scharfen Felsen auf, stieß sich schmerzhaft den Kopf, prallte mit dem Arm gegen einen spitzen Vorsprung, aber schließlich erreichte er eine größere Halle. Kampfgeräusche. Wutentbranntes Stöhnen. Tritte. Schläge.

»Andrea?«, rief Peter in die Dunkelheit.

»Peter!«, hörte er Andrea atemlos antworten.

Am Ende des Raumes fing der schwache Lichtstrahl Andrea und eine weitere Gestalt ein. In etwa zwanzig Metern Entfernung. Als Peter auf sie zueilte, bemerkte er rechts neben sich mit Grausen einen tiefen Abgrund. Der Boden war nicht zu erahnen. Andrea rang mit einem Mann, nur einen Meter von der Kante entfernt. Peter erreichte die beiden, erwischte den Kopf des Mannes und versuchte, ihn von Andrea wegzuziehen. Der stieß Andrea zu Boden, auf den nahen Abgrund zu. Peter zerrte den Mann von ihr weg. Andrea blieb still liegen.

Im schwachen Licht sah Peter für einen Sekundenbruchteil das Gesicht des Mannes. In diesem Moment schlug dieser tobend auf ihn ein. Die Lampe behinderte Peter, aber er wollte sie auf keinen Fall verlieren. Also schlug er mit ihr zu.

Der Mann schrie vor Schmerz auf. Die Lampe erlosch sofort. Peter wusste nicht, wo er den anderen getroffen hatte, aber er spürte, wie der Mann taumelte, ausrutschte und dann plötzlich nach unten wegsackte. Der Mann griff nach Peter, bekam ihn nicht zu fassen. Ein lang gezogener Schrei entfernte sich rasend schnell in die Tiefe des Berges. Im nächsten Moment schlug ein Körper tief unter ihnen dumpf auf die Felsen auf. Danach trat Stille ein.

»Andrea?«, flüsterte Peter.

»Ich bin hier.« Ihre Stimme klang erschöpft.

»Ich komme jetzt zu dir.«

»Wo ist er?«

»Hast du den Abgrund nicht gesehen?«

»Wer war das?«

»Bleib wo du bist. Beweg dich nicht von der Stelle, hörst du?«

Peter tastete sich Schritt für Schritt in die Richtung, aus der Andreas Stimme zu ihm drang.

»Du darfst dich nicht bewegen. Da ist eine Abbruchkante, irgendwo direkt neben dir.«

»Was ist mit der Lampe?«

Peter tastete mit der linken Hand das Gehäuse ab. Das Glas war zersplittert. Er robbte weiter vorwärts. Mit der vorderen Hand berührte er etwas Weiches.

»Bist du okay?«, fragte er.

»Ist die Lampe kaputt?«

Er half Andrea vorsichtig auf die Beine. Sie drehten sich um. Wenn er sich richtig erinnerte, dann befand sich der Abgrund nun schräg links vor ihm. Der Gang, durch den sie in diesen Höhlenraum gelangt waren, musste dann rechts vor ihnen sein.

»Kannst du gehen?«

Andrea humpelte.

»Hast du den Kerl erkannt?«, fragte sie.

»Imarika. Der Träger von Hans.«

»Mein Gott. Ich dachte, der sei tot.«

»Streck deinen Arm aus, taste nach vorne beim Gehen. Ich habe keine Ahnung, wie weit wir von der Felswand entfernt sind. Und setz die Füße vorsichtig auf, ich weiß nicht, wo genau der Abgrund ist.«

Sie kamen unendlich langsam voran. Doch schließlich stießen sie auf eine Wand. Jetzt mussten sie nur noch den Ausgang finden.

»Hallo? Georg?«, rief Peter halblaut. »Kannst du mich hören?«

»Ja, ich bin hier.«

Georgs Stimme war viel näher, als Peter gedacht hatte.

»Was ist passiert?«

»Bist du an dem Eingang? Andrea ist bei mir.«

»Ich kann nichts sehen. Folgt meiner Stimme, dann kommt ihr hier raus.«

Wenige Sekunden später hatten sie den Gang gefunden und zwängten sich durch den steilen Weg. Einen Moment lang befürchtete Peter, sie hätten den falschen Weg eingeschlagen. Er konnte sich nicht erinnern, bei der Verfolgung Imarikas so steil hinaufgestiegen zu sein. Aber nach einer Weile hörte er vor ihnen den unterirdischen Fluss rauschen. Die Luft wurde wärmer, das Wasser lauter und dann erschien das grünliche Licht wieder am Ende des Hauptganges.

»Wo ist Kathrin?«, fragte Peter in die Dunkelheit.

Schweigen. Sie mussten aus diesem Tunnel raus. Ohne Lampe war es so dunkel, dass sie Kathrin nicht bemerkt hätten, auch wenn sie direkt neben ihnen auf dem Boden gelegen hätte.

»Kathrin?«, raunte Peter fragend in die Dunkelheit. »Kathrin?« Lauter. »Kathrin?«

Keine Antwort. Nur das dumpfe Grollen.

»Wo ist die denn jetzt schon wieder?«, fragte er ermattet.

»Vielleicht ist sie zurückgegangen?« Auch in Andreas Stimme schwang Erschöpfung mit.

»Oder gestürzt.«

»Wir gehen erst mal in die große Höhle«, entschied Georg. »Da ist mehr Licht.«

Vorsichtig tasteten sie sich Meter für Meter vorwärts. Nach einer Weile, die ihnen wie Stunden erschien, erreichten sie endlich den Durchgang. Natürlich hatte Georg Recht, dachte Peter, da war mehr Licht. Aber es war auch das endgültige und unverzeihliche Eindringen in das Allerheiligste der Geister der Mondberge. Eine Stimme in Peters Kopf warnte ihn ununterbrochen davor, weiterzugehen. Sie hämmerte ihm die Warnung regelrecht ein.

Aber sie hatten keine Wahl, so sehr sich auch alles in Peter sträubte. Er dachte an die Gebete, die seine Großmutter ihm beigebracht hatte, um die Geister milde zu stimmen. Er suchte nach den alten Worten, leierte sie flüsternd herunter, in der Hoffnung, die Geister zu beruhigen.

Als er schließlich durch die Öffnung trat, verschlug der riesige Raum Peter sofort den Atem. Er hatte schon einige Heiligtümer ugandischer Völker gesehen, doch keines war mit diesem vergleichbar. Sie standen am Rand eines grünlich leuchtenden Sees. Die Decke der Höhle wölbte sich hoch über ihnen auf, bis in dreißig, vierzig Meter Höhe. Peter entdeckte in der Mitte des Sees die riesige Tropfsteinsäule aus Georgs Bericht. Majestätisch erhob sie sich aus dem Wasser. Sie reichte von einer kleinen Unterbrechung abgesehen bis an die Decke. Rechts und links der Säule wölbten sich natürliche Brücken aus Felsgestein hinüber zu dem Weg, der sich an beiden Seiten der Höhle an der Felswand entlang wand. Auf der gegenüberliegenden Seite stürzte Wasser aus dem Felsen in den See und brachte Bewegung in die Fluten. Die Säule im Zentrum musste der Schrein sein, denn von ihr strahlte eine elementare Energie aus, die Peter wie ein starker Magnet anzog.

Andrea stand mit offenem Mund neben dem Fluss, der sich an dieser Stelle aus dem riesigen See in das verzweigte Höhlensystem hinter ihnen ergoss. Georg war so fasziniert wie bei seinem ersten Betreten der Höhle vor einigen Tagen. Das grünliche Leuchten ging in Wellen von dem Wasserfall aus, verstärkte sich manchmal, dann wieder erlosch es fast vollkommen.

»Was ist das?«, fragte Andrea.

»Auf jeden Fall etwas sehr Heiliges. Ich vermute, dass die Oberhäupter des Clans der Abathatha diesen Ort bei besonderen Anlässen aufsuchen, um ihren Geistern und Ahnen Opfer zu bringen«, sagte Peter ehrfurchtsvoll.

Ein Luftzug wirbelte an ihm vorbei. Er konnte nichts entdecken, doch Peter ahnte, was geschah. Die Geister waren hier. Sie waren immer hier, und wer sich an diesem Ort einen Fehler erlaubte, hatte keine Chance, die Höhle lebend wieder zu verlassen. Schatten krochen an den Felswänden hinauf, Stimmen mischten sich wispernd in das gurgelnde Geräusch des Wassers zu ihren Füßen. Panik breitete sich in Peter aus.

»Wir dürfen hier nicht bleiben«, sagte er leise. »Lasst uns sofort weitergehen.«

Er wandte sich nach links, um den leuchtenden See auf dem schmalen Pfad, der sich an der Felswand zwischen den Felsen entlangschlängelte, zu umrunden. Andrea hielt ihn zurück.

»Was ist mit Kathrin?«

»Wir dürfen uns hier nicht lange aufhalten«, entgegnete er eindringlich. »Die wütende Energie der Geister nimmt stetig zu. Sie wollen ein Opfer.«

»Wir haben sie schon einmal im Stich gelassen«, erwiderte Andrea, und ihre Stimme bebte vor Angst und Zorn zugleich. »Ein zweites Mal lasse ich das nicht zu. Oder glaubst du etwa, dass ein Geist sie geholt hat? Dieser Kathelhuli?«

Aus der Tiefe des Sees erklang ein drohendes Grollen, archaisch und unergründlich. Das Wasser erstrahlte heller als zuvor. Der Boden vibrierte, als ginge ein Erdbeben durch den Fels. Die Schatten an den Wänden huschten unruhig durcheinander. Andrea glitt beinahe aus, griff mit einer Hand nach einem Felsvorsprung. Peter hielt ihre andere Hand fest.

»Du darfst die Namen der Geister nicht laut aussprechen«, raunte er ihr zu.

Das Grollen nahm an Intensität zu, einige der riesigen Stalagtiten an der Decke schwangen bedrohlich hin und her. Dann hörten sie einen Schrei. Gellend und lang gestreckt.

»Kathrin!« Andrea erstarrte.

»Was geschieht hier?«

Peter suchte den Raum nach irgendeinem Zeichen ab. Im Zentrum der Höhle, auf der zehn Meter aus dem See herausragenden mächtigen Tropfsteinsäule, in deren Innerem sich das Heiligtum der Abathatha befand, entdeckte er, was er suchte. Auf dem nackten Felsen konnten sie einen Frauenkörper erkennen.

»Sie ist dort oben«, sagte Peter entsetzt.

»PETER! Was passiert hier?«, wiederholte Andrea.

Die wispernden Stimmen übertönten jetzt das Grollen. Unsichtbare Wesen huschten tuschelnd um Peter herum.

»Ich weiß es nicht«, raunte er entsetzt. »Diese Geister schlüpfen jedes Mal in eine andere Gestalt. Sie spielen mit den größten Ängsten ihrer Beobachter. Wir haben keine Chance.« Er atmete tief durch. »Als du hier warst«, sagte er zu Georg, der sich ebenfalls kaum auf den Beinen halten konnte, »was genau hast du getan? Dich haben sie wieder gehen lassen, was hast du gemacht?«

»Ich bin nur durch die Höhle gelaufen«, sagte der mit zitternder Stimme.

»Du hast die Geister irgendwie beruhigt. Erinnere dich!«

Peter spürte, dass ihnen die Zeit fortlief.

»Die Figur!«, rief Georg über das Grollen hinweg. »Ich habe die Figur hier gelassen!«

Andrea sah Georg mit vor Angst geweiteten Augen an. Dann griff sie in eine ihrer Hosentaschen und zog die Gorillafigur hervor, die einmal Hans gehört hatte. Das Grollen verstummte augenblicklich.

Peter betrachtete erst die Figur, dann wandte er den Blick wieder auf das Zentrum der Höhle.

»Wir tun jetzt genau dasselbe, was du getan hast. Zeig es uns«, mahnte Peter Georg und wies Andrea an, ihm mit der Figur zu folgen.

Das Beben wurde schwächer, der Boden bot wieder genug Halt, um den Pfad am Rande des Sees einzuschlagen. Georg ging vorweg, Andrea folgte ihm, Peter lief am Schluss. Immer wieder sah er sich nach Verfolgern um. Er hatte den Eindruck, dass die Stimmen hinter ihm ihn verspotteten, dass sie sich darauf freuten, ein Opfer gebracht zu bekommen.

Sie erreichten den schmalen, hoch über dem Wasser aufragenden Übergang aus grauem Felsen, der zu der Säule in der Mitte des Sees hinüberführte. Georg betrat die Brücke als Erster, Andrea zögerte einen Moment, doch dann setzte sie entschlossen einen Schritt vor den anderen. In der fest geschlossenen Hand hielt sie noch immer die Gorillafigur. Peter schauderte, als er auf das Wasser tief unter sich hinunter sah, ging jedoch ohne innezuhalten weiter.

Sie erreichten die Tropfsteinsäule. Kathrin war verschwunden. Sie mussten halb um die Säule herumgehen, bis sie in das Innere hineinsehen konnten. Ein Raum öffnete sich vor ihnen, etwa fünf Meter tief, acht Meter hoch. Dort stand ein steinerner Altar, grob aus dem Felsen gehauen, übersät mit Figuren und Opfergefäßen.

»Hier habe ich meine Figur hingelegt«, sagte Georg und wies auf einen der Holzgorillas hin, an den ein feines Lederband geknotet war.

Ehrfürchtig trat Peter vor den Altar. Er erinnerte sich an die Worte, die ihm seine Großmutter für die heiligen Orte der alten Völker beigebracht hatte – wobei sie sich bestimmt nichts ausgemalt hatte, was dieser Aura hier gleichkam. Andrea legte den Holzgorilla zwischen die anderen Figuren. Ein leises Stöhnen ließ Peter zusammenschrecken. Er wandte sich um und sah Kathrin im Schatten neben dem Eingang liegen. Sie kam gerade zu Bewusstsein. Peter sprang auf sie zu, hockte sich vor sie, nahm ihren Kopf in seine Hände.

»Kathrin? Kannst du mich hören?«

Mit verschleierten Augen sah Kathrin ihn an, sie lächelte.

»Da seid ihr ja wieder«, sagte sie nur. Dann verdrehte sie die Augen, und ihr Kopf sackte zur Seite.

Auf der Erde neben Kathrin lag der bleiche Schädel eines Menschen. Dunkle Augenhöhlen blickten Peter düster entgegen.

»Geht es ihr gut?«, fragte Andrea.

»Sie lebt«, antwortete eine dumpfe Stimme vom Eingang der Säule.

Peter hob den Kopf und blickte in die nur noch schwach orange leuchtenden Augen einer Gestalt, deren Umrisse sich im Durchgang abzeichneten. Sie wirkte wie ein Mensch und war doch keiner. Der gesamte Körper war mit einer schwarzen Haarschicht bedeckt, und ein unangenehmer Geruch nach Moder und Fäulnis ging von ihr aus.

»Sie lebt, und ihr könnt sie mitnehmen«, grollte die Stimme. »Verlasst diesen Ort und kehrt nie wieder zurück.« Das Wesen verschwand so schnell, wie es erschienen war.

Rasch schob Peter seine Arme unter Kathrins Schultern und Beine, hob sie hoch und verließ mit ihr im Arm das Heiligtum. Schweigend folgten ihm Andrea und Georg. Sie überquerten die Brücke in umgekehrter Richtung, bogen an ihrem Ende nach rechts ab, um den Weg zum anderen Ende der großen Höhle fortzusetzen.

Der Zufluss des Sees kam näher. Die Wassermassen stürzten mit lautem Getöse aus einem Schacht in den darunter liegenden See. Georg hielt erstaunt inne.

»Mein Gott«, sagte er. »Das habe ich beim ersten Mal gar nicht begriffen.«

»Was ist denn los?«, fragte Andrea erschöpft.

»Das hier ist die Quelle.«

»Was bitte?«

»Dies ist die Nil-Quelle des Ptolemäus!« Mit verklärten Augen betrachtete Georg den See vor ihnen. »Ptolemäus hat vor fast zweitausend Jahren die Quelle des Nils in einem Gebirge in Ostafrika verortet, wo sie zwischen zwei Bergen entspringen soll. Seitdem haben jahrhundertelang Forscher, Wissenschaftler und Abenteurer nach dem Ort gesucht, den er beschrieben hatte. Bisher hat ihn niemand gefunden.« Er machte eine ehrfürchtige Pause. »Der Wasserfall im Tal gleicht genau der Beschreibung von Ptolemäus. Jetzt verstehe ich auch, was Kambere gemeint hat, als er uns sagte, die Höhle und das Wasser, das ihr entspringt, sei die Quelle allen Lebens.« Georg sah seine Mitstreiter begeistert an, die seine Aufregung allerdings mit befremdeten Blicken quittierten. »Das ist eine Sensation! Und die Bayira haben diesen Ort vermutlich immer schon gekannt.«

Kathrin erwachte, sah sich verwirrt um. Während die anderen ihr die Zeit gaben, sich zu orientieren und auf die Beine zu kommen, betrachtete Georg fasziniert seine Entdeckung. Als Kathrin wieder allein gehen konnte, marschierten sie weiter. Immer an der Wand entlang, hinauf steigend, bis sie eine Plattform erreichten, von der Georg sagte, dass dort der Ausgang aus der Höhle sei.

Sie fanden auch den Spalt, durch den sich Georg ein paar Tage zuvor gezwängt hatte. Aber hier lauerte ein neues Problem. Bei der Untersuchung der Stirnlampe stellte sich heraus, dass nicht nur das Glas, sondern auch die Birne kaputt war. Die Lampe war völlig unbrauchbar. Ratlos setzten sie sich auf das Plateau.

Sie überlegten, wie sie an Licht kommen sollten, spekulierten darüber, woher Imarika so plötzlich aufgetaucht war und was er gewollt hatte, als der Boden erneut zu beben begann. Wieder hörten sie das bedrohliche Grollen aus der Tiefe heraufsteigen. Und dann trat die Kreatur mit den leuchtenden Augen aus dem Schatten eines Felsens wieder auf sie zu.

»Ihr seid nicht allein gekommen. Bald werden sie hier sein.«

Andrea sprang entsetzt auf. Die Gestalt verschwand spurlos.

»Wer kann das sein?«, fragte sie ängstlich.

»Muthahwa«, murmelte Peter. »Wir müssen hier raus. So schnell wie möglich.«

»Aber wir können da drin nichts sehen«, wandte Georg ein. »Das ist völliger Wahnsinn. Ich war doch schon dort. Ohne Licht werden wir uns in den Gängen des Berges verlaufen. Dann sind wir endgültig verloren.«

»Wir sollten es wenigstens versuchen«, meinte Andrea. »Das ist immer noch besser, als hier auf diesen Schamanen zu warten, der uns auf dem Altar dort unten opfert.«

Der Boden bebte noch immer. Stärker als zuvor leuchtete das Wasser des Sees grünlich auf. Das dumpfe Grollen, das immer bedrohlicher aus den Felsen zu ihnen herausdrang, ließ den vier Menschen keine Wahl mehr.