25
Kitandara-Tal, 14. Juni
Eine Stunde lang scheuchten die Rebellen die Entführten auf dem vorgegebenen Weg voran, der sie dem oberen Kitandara-See immer näher brachte. Dann kam die harsche Anweisung, in einen schmalen Pfad nach rechts einzubiegen, der kaum als solcher zu erkennen war. Ein Senezienwald, durchdrungen von dicken Nebelfetzen, erhob sich rings um die Touristen und schloss sie gespenstisch in sich ein. Niemand hatte mehr Gepäck bei sich. Außer den nassen Sachen, die Tom am Körper trug, waren ihm nur die Fleece-Jacke, eine leichte Regenjacke, etwas Wasser und zwei Energieriegel geblieben. Die Gruppe war deutlich dezimiert, Manfred sicher längst tot. Die meisten Träger waren verschwunden – mit Ausnahme von Imarika und Chaga. Tom hoffte inständig, dass die anderen überlebt hatten. Vielleicht würde sogar einer von ihnen Hilfe holen. Wenn er den Mut dazu hatte. Leichter Regen setzte ein und drang sofort durch die klamme Kleidung auf die Haut. Tom fror, ihm war schwindlig und er hatte Kopfschmerzen.
Nach einem etwa zwei Stunden währenden, anstrengenden Marsch erreichten sie einen Felsüberhang. Dieser Ort sollte ihr Nachtlager werden. Tom versuchte sich zu orientieren. Sie waren nach rechts vom Hauptweg abgebogen und dann auf mehr oder weniger gleich bleibender Höhe an einem Berghang entlanggelaufen. Vermutlich am Mount Stanley. Die Sonne stand tief über den Bergen, bereit, dahinter unterzugehen. Sie waren nach Westen, in Richtung der kongolesischen Grenze gelaufen. Wie weit war diese noch entfernt?
Auch die Soldaten ließen sich nieder. Tom zog die Regenjacke über die nassen Kleider, um sich zumindest vor dem eisigen Wind zu schützen und kauerte sich dicht neben den anderen seiner Gruppe unter dem Felsen nieder. Intuitiv hatten sie die drei Frauen in ihre Mitte genommen, die direkt an der Felswand auf dem Boden saßen. Kathrins Lippen hatten sich blau verfärbt, ihre Gesichtshaut war weiß. Kai legte ihr seine Jacke um die Schultern, und Tom registrierte, dass Kathrin zum ersten Mal eine Geste ihres Freundes widerspruchslos zuließ. Auch Andrea sah erbärmlich aus. Sie hatte sich bei dem Sturz eine Prellung am Arm zugezogen, ihre Hose war zerrissen und sie wurde von einem Weinkrampf geschüttelt. Die drei Guides saßen nah bei der Gruppe, ohne zu reden. Hans wirkte verstört, hatte seinen Kopf zwischen den angewinkelten Beinen vergraben und strich sich in einer stereotypen Bewegung immer wieder mit den Fingern durch die nassen Haare. Neben ihm hockte Birgit, sprach leise mit sich selber, schien ihre Umwelt völlig vergessen zu haben. Nur hin und wieder schaute sie zu ihrer Freundin Andrea hinüber. Martin zitterte leicht, ob vor Kälte oder wegen des Schocks, war nicht zu erkennen. Michael saß mit fassungslosem Gesichtsausdruck daneben. Tom rückte näher an Andrea heran, legte behutsam seinen Arm um ihre Schultern.
Als einer der Soldaten Anstalten machte, ein Feuer zu entfachen, stieß Paul ihn zur Seite und trat sofort die kleine Flamme aus.
»Du Vollidiot!«, beschimpfte er den Mann, der seinen Anführer ängstlich ansah. »Willst du, dass wir entdeckt werden?« Paul zog sich wutschnaubend zurück.
»Glaubst du, die suchen schon nach uns?«, fragte Tom den neben ihm hockenden Peter.
»Bestimmt nicht aus der Luft. Für einen Hubschrauber sind wir zu hoch.«
»Wieso das denn?«
»Die Hubschrauber hier in Uganda sind alt und können nicht in diese Höhen fliegen. Das liegt zum einen daran, dass der Sauerstoff in der Luft nicht für die Verbrennung reicht, und zum anderen daran, dass der Druck unter den Rotorblättern wegen der geringen Luftdichte nicht aufgebaut werden kann.«
»Aber mit Flugzeugen könnte es gehen, oder?«
»Im Prinzip schon. Wenn die Regierung eines zur Verfügung stellt. Aber es muss sich erst mal einer der entkommenen Träger bis zum Basiscamp durchschlagen.«
»Könnt ihr bei einer normalen Tour keine Hilfe rufen?«
»Ich hatte ein Satellitentelefon dabei. Aber das haben sie mir abgenommen und solange sie es nicht anschalten, kann uns auch niemand orten.«
»Machen sich die Leute im Basiscamp keine Sorgen?«
»Die Guides rufen nur in Notfällen an und haben das Gerät normalerweise ausgeschaltet, um Energie zu sparen. Erst wenn wir nicht am vereinbarten Tag unten erscheinen, werden sie sich Gedanken machen. Das kann noch drei Tage dauern. Bis dahin sind wir vermutlich weit weg von den normalen Routen. Das Gebiet ist so groß – niemand wird wissen, wo man mit der Suche anfangen soll.«
Tom ließ den Kopf sinken und starrte in den Schlamm zu seinen Füßen. Er atmete tief durch. Dann wandte er sich Andrea zu.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Ich habe mir diese Tour irgendwie anders vorgestellt.« Sie lächelte gequält. »Und bei dir?«
»Kopfschmerzen. Sonst bin ich okay.«
Peter wurde hellhörig: »Seit wann hast du die Kopfschmerzen?«
»Das hat kurz vor dem Scott-Elliot-Pass angefangen.«
»Ist das alles?«, bohrte Peter nach. »Schwindel? Übelkeit? Wie ist der Appetit? Hast du letzte Nacht gut geschlafen?«
»Naja, ein bisschen schwindelig ist mir schon. Und Essen kriegen wir ja sowieso nicht.«
»Mist!« Peter schimpfte vor sich hin. »Das hätte ich merken müssen.«
»Was redest du, Peter?«, mischte sich Andrea ein.
»Fühl mal seinen Puls«, forderte er sie auf. Andrea nahm Toms Handgelenk und schrak zurück. Tom spürte, dass sein Puls raste. Andrea schaute ihm ängstlich ins Gesicht.
»Nimmst du Medikamente gegen Bluthochdruck?«, fragte sie ihn, wartete aber die Antwort nicht ab. »Sein Puls ist viel zu schnell, Peter. Ist das die Höhe?«
»Vermutlich«, sagte dieser besorgt.
»Was können wir tun?«
»Es gibt nur ein Mittel dagegen: Runtergehen.«
Toms Gedanken rasten. Der geringe Sauerstoffgehalt der Luft und die ungewöhnliche Anstrengung setzten ihm zu. Er wusste, dass die Höhenkrankheit im schlimmsten Fall tödlich enden konnte. Er musste ins Tal. Möglichst schnell.
Kai und Kathrin sprachen leise miteinander. Kathrin hatte zunächst erstaunlich gelassen auf den Überfall reagiert, doch als sie den Weg verlassen mussten, war sie in Panik ausgebrochen. Sie hatte geschrien und sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, in den dichten Wald vorzudringen. Erst als ihre Kräfte erschöpft waren, hatte sie resigniert. Nun saß sie blass und leise weinend neben Kai, der ebenso ausdauernd versuchte, sie zu beruhigen. Michael und Martin hockten schweigend mit Steve zusammen. Tom wunderte sich fast, dass Michael für seinen Ausbruch nicht bestraft worden war, obwohl dabei einer der Rebellen getötet wurde. So viel also war ein Leben hier oben in den Bergen wert: nichts.
Birgit erhob sich und ging auf Paul zu. Der sah ihr mit einem hämischen Grinsen entgegen. Birgit redete leise, aber wild gestikulierend auf ihn ein. Paul brach in schallendes Gelächter aus und schickte sie mit einer abfälligen Geste zu ihrer Gruppe zurück. Birgit kochte vor Wut, als sie sich mit verschränkten Armen auf einem Stein niederließ. Als die anderen sie mit Fragen bestürmten, antwortete sie nicht, sondern blickte grimmig ins Tal. Hans hatte aufgehört, sich durch die Haare zu streichen, und lehnte nun mit geschlossenen Augen an der Felswand. Nzanzu versuchte, mit einem der Soldaten zu verhandeln, doch auch er hatte keine Chance. Zumindest hatte er erfahren, wen sie da vor sich hatten.
»Sie kommen aus Ruanda, leben aber im Kongo«, sagte der Ugander.
»Dann sind das also Hutu-Milizen, die an dem Völkermord 1994 beteiligt waren?«, fragte Andrea, während sie die Soldaten aus den Augenwinkeln beobachtete.
Peter übernahm das Wort: »Nach den Morden sind Hunderttausende Hutu aus Angst vor Racheaktionen in den Kongo geflohen. In ihrem Schatten sind ihnen militante Milizen gefolgt. Seit Jahren drangsalieren sie die kongolesische Bevölkerung. Sie pressen Kinder in ihre Armee und vergewaltigen Frauen, die auf diese Weise Hutu-Kinder zur Welt bringen, die dann später – mal erzwungen, mal den ärmlichen äußeren Umständen geschuldet – in die Armee aufgenommen werden.«
Andrea erschauerte.
»Diese Milizen verfolgen ein Ziel: Sie wollen eine Armee aufbauen, mit der sie eines Tages die ruandische Grenze überschreiten können, um ihr Land zu befreien, wie sie es nennen.«
Nzanzu fügte leise hinzu: »Warum die Soldaten aber die Grenze nach Uganda zum ersten Mal seit Jahren wieder überquert haben, das verstehe ich nicht.«
Die Soldaten lagerten in einem weiten Kreis um die Entführten herum. Sie packten mitgebrachtes Essen aus, unterhielten sich gedämpft und reinigten ihre Waffen. Sie wirkten grotesk mit ihren abgenutzten Tarnuniformen und den kurz geschorenen Haaren, erst recht, weil sie so jung waren. Eine Vierergruppe stach Tom ins Auge. Die Jungen waren zwischen zehn und vierzehn Jahren alt, wurden aber wie erwachsene Soldaten behandelt. Sie waren erschöpft, ihre Uniformen viel zu groß und die Waffen, die sie neben sich liegen hatten, wirkten überdimensioniert. Der Älteste von ihnen schien Tom zu spüren und sah herüber, doch als Tom ihm zulächelte, wandte er den Kopf ab und beschäftigte sich weiter mit seinem Essen.
Der Hunger begann an den Geiseln zu nagen. Ob sie mit Nahrung rechnen könnten, fragte Tom bei Nzanzu nach, doch der schüttelte nur den Kopf. Tom holte einen der Energieriegel aus der Hosentasche und teilte ihn mit Andrea, die sofort nach dem Verzehr in einen unruhigen Schlaf wegdämmerte. Es dauerte lange, bis Tom ebenfalls einnickte. Das rasende Herzklopfen und die Kopfschmerzen machten ihm immer mehr zu schaffen.
Plötzlich wurde er von einer leisen Stimme geweckt. Es war mitten in der Nacht. Kai hockte neben ihm. Er war völlig verstört.
»Kathrin ist weg!«, sagte er hektisch.
Tom musste sich kurz orientieren, dann erinnerte es sich, wo er war.
»Was meinst du mit weg?«, fragte er irritiert.
»Sie ist nicht mehr da. Ich bin eingeschlafen und als ich wach wurde, war sie weg.«
Kai nahm sich zusammen, um nicht in Tränen auszubrechen.
»Ich habe eine Weile gewartet, aber sie ist nicht gekommen«, sagte er ängstlich.
Tom richtete sich auf. »Hast du die anderen schon gefragt, ob sie etwas gesehen haben? Vielleicht ist sie ja nur pinkeln gegangen ...«
»Eine halbe Stunde lang?«
Kai richtete sich auf und auch Tom erhob sich mit steifen Gliedern. Ohne Schlafsack war es bitterkalt unter dem Felsvorsprung. Sehnsüchtig dachte Tom an die dicke Daunenjacke, die er in seiner Tasche gehabt hatte. Die lag nun irgendwo in einer Felsspalte. Flüsternd befragte er einen nach dem anderen aus der Gruppe, doch alle hatten mehr oder weniger fest geschlafen und nichts bemerkt.
Tom trat auf die wachhabenden Soldaten zu, die er schwach im fahlen Licht des Mondes erkannte. Sie saßen an einen Felsen gelehnt, rauchten irgendein Zeug, das bestialisch stank, und sprangen sofort auf, als Tom auf sie zukam. Sie schrien ihm etwas in gebrochenem Englisch zu, was Tom als Aufforderung verstand, sich sofort unter den Felsen zurückzuziehen. Auch die Drohung, sie würden schießen, schlossen sie in das Geschrei mit ein. Er hob die Arme und ging langsam weiter auf die drei Soldaten zu. Ihr wildes Herumfuchteln mit den Gewehren befremdete Tom mehr, als dass es ihm Angst machte. Konnten sie überhaupt mit den Waffen umgehen? Schließlich blieb er vor ihnen stehen. Mit immer noch erhobenen Händen fragte er nach Kathrin. Erst verstanden die Soldaten ihn nicht, doch nach einer Weile erfassten sie die Lage. Durch das Geschrei waren die anderen Soldaten rings herum erwacht und krochen unter den Regenfolien hervor.
»Was ist hier los?«, donnerte in diesem Moment Pauls Stimme über den Platz. Er zog den Gürtel um seinen Bauch stramm und trat vor Tom.
»Eine Freundin von uns ist weg«, sagte Tom. »Was habt ihr mit ihr gemacht?«
Paul hob eine Augenbraue. Dann wandte er sich seinem Stellvertreter zu, der sofort die niederen Chargen anbellte. Wie in einem Ameisenhaufen liefen die Soldaten durcheinander.
»Sie wird doch wohl nicht den Fehler gemacht haben, zu fliehen?«, sagte Paul nun wieder zu Tom. »Allein wird sie hier niemals rauskommen. Erst recht nicht mitten in der Nacht.«
»Ich glaube nicht, dass sie geflohen ist. Nicht allein.« Tom blickte den Anführer prüfend an. Der gab ein paar Befehle an fünf Soldaten weiter, die sofort ausschwärmten. Zwei andere durchsuchten die Zelte. Einer der Soldaten kam mit einem Tuch wieder, das er gefunden hatte. Kai trat neben Tom, griff nach dem Tuch und starrte Paul an.
»Was habt ihr mit ihr gemacht?«, murmelte er.
Paul verzog das Gesicht zu einem süffisanten Grinsen.
»Meine Soldaten tun nur das, was alle Männer tun.«
Kai sprang auf den General zu und prügelte mit den Fäusten auf ihn ein.
»Ich bringe dich um, wenn ihr irgendetwas passiert ist«, schrie er.
Tom versuchte, Kai von Paul wegzuzerren. Paul blaffte einen Befehl. Ein paar Soldaten lösten sich aus der Gruppe, rannten auf ihren Chef zu. In diesem Moment griff Andrea in das Geschehen ein und hielt einen der Soldaten zurück. Er schlug sie sofort zu Boden. Michael und Martin kamen ihr zur Hilfe, und auch die anderen Entführten mischten sich ein. Paul schrie seine Soldaten an, und einige weitere stürzten nach vorne.
In diesem Moment explodierte ein Schuss, der als Echo von den Bergwänden vielfach zurückgeworfen wurde. In der Dunkelheit, die nur vom immer wieder hinter den Wolken verschwindenden Mond minimal erleuchtet war, wurde Tom in diesem Moment klar: Sie hatten keine Chance. Die Rebellen waren bewaffnet und würden jeden Aufstand gnadenlos abstrafen. Er zog sich aus dem Tumult zurück und fand Andrea.
»Wir müssen das Gerangel beenden. Die bringen uns sonst alle um!«, rief er.
»Ich weiß«, antwortete Andrea angespannt. Dann streckte sie den Rücken durch. »Niemand beobachtet uns. Die sind beschäftigt. Lass uns abhauen!« Sie packte Tom am Arm und zog ihn schnell hinter sich her auf den dichten Senezienwald zu. Er stemmte sich für einen Sekundenbruchteil gegen ihren Entschluss, doch dann folgte er ihr. Weitere Schüsse hallten durch die Nacht. Erschrocken drehte sich Tom um, doch die Schüsse hatten nicht ihnen gegolten. Andrea lief ein Stück weit vor ihm. Er war viel zu langsam. Der Schwindel nahm zu. Er musste runter von diesem Berg.
Sie stolperten über Steine, rutschten aus und fluchten. Das Gelände war abschüssig, Geröll und Steine erschwerten den Weg. Schließlich hörte Tom hinter sich die Rufe der Soldaten. Schüsse kamen immer näher. Hinter einem Felsvorsprung war ein dunkler Fleck. Er stoppte und zog Andrea auf die Stelle zu. Eine Nische, halb verdeckt von umgestürzten Stämmen. Auf einen Versuch kam es an. Er schlüpfte unter den Felsen, Andrea folgte ihm. Sie drängten sich aneinander und hielten den Atem an. Die Soldaten kamen näher, sie schrien, immer wieder schossen sie. Doch sie entdeckten die beiden nicht.
In Toms Kopf wüteten Schmerzen. Die Übelkeit war schlimmer als zuvor. Die gesamte Welt schien sich zu drehen. Und auch Andrea war von der überstürzten Flucht durch die dünne Höhenluft völlig erschlagen. Beide dämmerten – allein wach gehalten von der Angst, entdeckt zu werden – in der Dunkelheit vor sich hin. Stundenlang.
»Wie fühlst du dich?«, fragte Andrea irgendwann, als es um sie ruhig geworden schien.
»Ein bisschen besser«, flüsterte Tom
»Wir sind ja auch bestimmt dreihundert Meter abgestiegen. Das ist genau das Richtige bei einer Höhenkrankheit.«
»Ich weiß nicht, ob das wirklich die Höhenkrankheit ist. Ich habe vermutlich nur etwas Falsches gegessen.«
Andrea begutachtete ihn skeptisch von der Seite.
»Ich habe solche Touren doch schon oft gemacht«, sagte Tom matt. »Noch nie hatte ich solche Probleme.«
»Nzanzu hat mir von diesen Berggeistern erzählt«, flüsterte Andrea. »Vielleicht haben die ja etwas damit zu tun ... In dieser Landschaft kann ich mir alles vorstellen.«
»Völliger Blödsinn«, murmelte Tom.
»Ich mag den Gedanken, dass die Natur um uns herum von den Ahnen bevölkert ist, wenn ich auch selber nichts davon merke.«
Wieder waren Stimmen von Soldaten zu hören. Sie hatten es also doch noch nicht aufgegeben. Schritte kamen näher. Ein Soldat trat so nah heran, dass Tom seine Hosenbeine vor sich im Mondlicht sehen konnte. Beide hielten den Atem an, erstarrten in ihrer Haltung, bis die Muskeln zu schmerzen begannen. Und sie atmeten erleichtert auf, als sich die Hosenbeine wieder entfernten.
Durch die Dunkelheit war kaum etwas zu erkennen. Toms Sinne verschwammen. Die Senezien schienen sich zu bewegen. Neben ihm sprach jemand. Ganz leise flüsterte eine Stimme ihm etwas zu. Tom versuchte, seine Augen zu fokussieren, konnte aber nichts erkennen. Plötzlich bewegte sich eine matt schimmernde Silhouette durch die Dunkelheit. Toms Herz raste. Der Junge blickte Tom an.
Tom richtete sich halb auf.
»Was ist los?«, fragte Andrea ihn.
»Er ist wieder da«, antwortete Tom tonlos.
»Wer?« Erschrocken wandte sich Andrea um.
»Der Junge«, sagte Tom. Er stand auf. Feiner Regen setzte ein. Am Horizont wurde es langsam hell. Dunst zog tief am Boden in dünnen Schwaden zwischen den Felsen und Pflanzen hindurch.
»Welcher Junge?« Andrea hielt Tom am Arm fest. »Bleib hier!«
Doch der schüttelte sie ab. Ohne zu antworten kroch er aus ihrem Versteck heraus.
Tom ging in die Landschaft hinein. Die Helligkeit kommt schnell in der Äquatorregion. Andrea sprang auf und rannte ihm nach. Doch es war zu spät. Hinter ihnen ertönte ein lauter Schrei. Tom erwachte wie aus einer Trance. Der Junge war fort. Andrea zog Tom hinter sich her den Abhang hinunter. Rutschige Steine bedeckten den Boden, Wurzeln erschwerten ihnen den Weg, er knallte gegen eine abgestorbene Senezie, die dem Aufprall nicht standhielt und umstürzte.
Tom packten sie zuerst. Drei auf einmal. Dann waren sie bei Andrea. Sie stürzten sich mit lautem Geschrei auf die beiden, schleuderten sie auf die Steine. Tom rutschte über den Boden, bis sich einer der Soldaten auf ihn warf. Ein Stiefel traf ihn schmerzhaft in die Seite, ein zweiter Soldat trat ihm mit voller Wucht gegen ein Knie. Zwei griffen Andrea brutal unter den Achseln und richteten sie auf. Sie waren nur wenig kleiner als Tom. In diesem Moment fiel ihm zum ersten Mal auf, dass diese Soldaten größer waren als die Menschen, die sie als Träger und Guides kennen gelernt hatten. Einer von ihnen zog ein Seil aus der Tasche, presste Toms Arme auf dem Rücken zusammen und schnürte seine Hände so fest zusammen, dass er vor Schmerz laut aufschrie. Ein letztes Mal versuchte er sich aus der Gewalt dieser Männer zu befreien, doch dann gab er es auf.
Andrea beschränkte sich darauf, die Soldaten mit wüsten Worten zu beschimpfen, während auch sie gefesselt wurde. Doch die Männer lachten nur, schubsten sie vor sich her. Tom blutete aus Mund und Nase, seine Jacke war am rechten Ärmel eingerissen und er humpelte, als sie das provisorische Lager erreichten.
Paul erwartete sie schon. Lässig lehnte er an der Felswand, rauchte eine Zigarette, lächelte den beiden entgegen, sagte kein Wort. Hinter ihm kauerten die anderen der Gruppe. Andrea und Tom wurden zu ihnen gestoßen, die Fesseln gelöst, aber nur, um sie mit den Händen auf dem Rücken an einen Stamm zu binden. Erschöpft und resigniert rutschte Tom an diesem herab und ließ den Kopf hängen. Als er sich beruhigt hatte, blickte er um sich und erschrak. Seine Mitstreiter waren allesamt aufs Übelste zugerichtet. Sie saßen, ebenfalls mit Seilen gefesselt, auf der nackten Erde, nass vom Tau des Morgens. Michael hatte ein tiefblau zugeschwollenes Auge, Kai offenbar eine Platzwunde am Kopf. Martin lag auf der Seite, in seinem Mund steckte etwas, das wohl ein Knebel sein sollte. Nur Birgit und Hans schienen einigermaßen unbeschadet zu sein. Auch Nzanzu, Steve, Chaga und Imarika waren zwar gefesselt, saßen jedoch als Einzige unter dem Felsvorsprung, der Schutz vor Regen bot.
»Was ist passiert?«, fragte Andrea. Die anderen stierten sie nur stumm an. Gerade wollte Tom sie um eine Antwort anschreien, als Nzanzu schräg hinter ihn wies. Er drehte den Kopf zur Seite und sah in das Gesicht des zweiten Anführers der Gruppe, der sich jetzt Andrea zuwandte.
»Da hat die Kleine geglaubt, sie könnte sich so einfach vom Acker machen, was?« Er beugte sich zu ihr herunter, griff mit der Hand nach ihrem Kinn. Sie wollte sich wehren, doch er war schneller. Die schmierigen Finger gruben sich tief in ihre Haut. Er grinste ihr ins Gesicht, lachte und spuckte dann neben ihr aus. Dann ließ er ihr Kinn wieder los und ging davon.
Michael, der Tom am nächsten saß, begann zu flüstern, ohne ihm den Kopf zuzuwenden.
»Bleibt ruhig. Nicht laut sprechen. Sobald sie merken, dass wir miteinander reden, schlägt er euch ins Gesicht.«
Tom nickte, er hatte verstanden.
»Was ist passiert?«, wollte er wissen.
»Kurz nachdem ihr verschwunden wart, haben die Soldaten uns überwältigt, gefesselt und jeden einzeln bewacht. Jede Stunde ist einer gekommen und hat die Männer geschlagen. Martin hat sich gewehrt, hat die Soldaten immer wieder angeschrien, bis sie ihm eine Socke in den Mund gestopft haben. Er ist daran fast erstickt, weil er aus der Nase geblutet hat, doch irgendwie hat er es dann geschafft, das Blut rauszublasen.«
»Hans und Birgit haben offenbar Glück gehabt«, murmelte Tom.
»Sie haben sich von Anfang an zurückgehalten, sich nicht gewehrt, keinen Ton gesagt. Hans scheint es hier noch am besten zu gehen.«
Eine Weile schwieg Michael. Dann erzählte er leise weiter.
»Kai hat immer wieder nach Kathrin gefragt, bis Pauls Stellvertreter, diesem Innocent, der Kragen geplatzt ist. Er hat ihn einfach bewusstlos geschlagen.«
»Kathrin ist also nicht wieder aufgetaucht?«, unterbrach Tom ihn, wobei er unbedacht so laut sprach, dass einer der Bewacher aufmerksam wurde. Er kam herbeigeeilt und drohte ihm mit Schlägen. Tom senkte demütig den Kopf und schwieg, bis der Soldat das Interesse an ihm verloren hatte. Dann fragte er mit gedämpfter Stimme erneut nach Kathrin.
»Nein, keiner hat sie gesehen. Aber ich habe den Eindruck, die Typen wissen wirklich nicht, wo sie ist. Es hat viel Aufregung deswegen gegeben. Die haben die ganze Nacht lang gesucht; dieser Paul war fuchsteufelswild, wobei ich nicht weiß, ob die Wut dir und Andrea oder Kathrin galt. Er hat seine Leute zusammengeschissen, so was habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht erlebt. Nicht einmal beim Bund.«
»Du meinst, die haben gar nichts damit zu tun?«
»Ich kann mich täuschen, aber so aufgeregt wie die waren, kann ich mir nicht vorstellen, dass sie ihr etwas angetan haben ...«
»Was soll denn sonst mit ihr sein? Kathrin würde nie alleine weglaufen.«
Tom, der beim leisen Sprechen auf den Boden schaute, wartete auf eine Antwort, doch als er keine bekam, wandte er den Kopf in Michaels Richtung. Der starrte nach unten.
»Ich glaube das zwar nicht, aber ...«, hob er flüsternd an.
»Nun red’ schon!«, fluchte Tom.
»Schschschscht!«
Doch keiner der Soldaten hatte sie gehört.
Michael fuhr fort: »Die Guides haben uns etwas Absurdes erzählt ...«
Ein ungutes Gefühl machte sich in Tom breit.
»Die Geister der Mondberge ... Sie nehmen manchmal einfach jemanden mit.«
Wieder wandte Tom Michael das Gesicht zu. »Das ist nicht dein Ernst, oder? Die Geister der Mondberge? Die gibt es nicht!«
»Und wenn doch?«, meinte Michael. »Kathrin ist weg. Und offenbar weiß keiner, wo sie ist.«
»Die Guides glauben das?« Vorsichtig blickte Tom zu ihnen rüber.
»Die halten das durchaus für möglich ... besonders Nzanzu.«
Fassungslos fixierte Tom Steve und Nzanzu. Jetzt erst fiel Tom auf, dass Peter nicht bei ihnen saß.
»Wo ist Peter?«
Wieder folgte Schweigen, doch bevor Tom laut werden konnte, räusperte sich Michael.
»Das ist das nächste Problem ... Er ist ebenfalls weg.«
»Scheiße!«