02_Zunehmende_Sichel.tif

10

Westseite des Ruwenzori, in der Nacht zum 11. Juni

Paul lag auf der Pritsche in seinem Zelt, öffnete die Augen und lauschte angespannt in die Dunkelheit der Nacht hinaus. Sie waren spät in ihr Lager in der Nähe von Mutwanga zurückgekehrt. Er hatte eine Stimme gehört, im Halbschlaf. Er rechnete ständig mit einem Angriff des kongolesischen Militärs, daher musste er mitbekommen, ob die Stimme zurückkam. Am Eingang des Zeltes raschelte es. Paul tastete nach seiner Pistole, ohne die er niemals zu Bett ging, setzte sich schnell auf und richtete die Waffe auf die Zeltöffnung.

Innocent erschien im schummrigen Licht des Zelteingang. Pauls engster Vertrauter und Untergebener, sein Leutnant und härtester Verfechter der Ziele der ALR – und ein bedingungslos den Wünschen ihres Präsidenten Bernard folgender Soldat. Gelassen betrachtete er Paul.

Eine Gruppe von etwa zehn Soldaten ihrer Miliz sei aus dem Lager geflohen, berichtete Innocent. Wütend sprang Paul aus seinem provisorischen Bett, zog seine Uniform über, griff wieder nach der Pistole, steckte sie ins Halfter und stapfte aus dem Zelt. Über ihm schien hell der zunehmende Mond. Der Platz war nach dem abendlichen Regen völlig durchweicht. Er rief seine Männer zusammen. Sie kamen verschlafen aus ihren Zelten gekrochen. Schnell standen sie in Reih und Glied vor ihm, warteten auf seine Befehle. Paul musterte sie kritisch, dann wählte er die 25 treuesten von ihnen aus, die den Geflohenen in den Wald folgen sollten. Der Schlamm schmatzte unter ihren eiligen Schritten, als sie im Wald verschwanden. Vier weitere Soldaten stellte Paul als zusätzliche Wachen ab, die übrigen schickte er wieder schlafen. Er selbst setzte sich mit Innocent zur Lagebesprechung im großen Zelt zusammen.

»Das ist jetzt schon das dritte Mal innerhalb eines Monats!«, fluchte er laut.

»Je länger Bernard in Haft ist, desto mehr sinkt die Moral«, sprang ihm Innocent zur Seite.

»Deshalb muss etwas geschehen. Wir müssen ein Exempel statuieren. So geht das nicht weiter.« Paul überlegte. Dann fuhr er fort: »Wer ist der Rädelsführer? Ngoga, stimmt’s?«

»Sieht so aus.«

»Dann wünsche ich ihm, dass er sich gut versteckt. Wann sind sie desertiert?«

»Vor etwa einer halben Stunde. Einer von ihnen hatte die Hosen voll und ist umgekehrt.«

»Wer?«

»Hitimana.«

»Der Junge?«

»Er ist erst dreizehn. Er kam zu mir ins Zelt und hat alles erzählt.«

»Ein braver Junge. Bring ihn her!« Innocent verließ das Zelt und kehrte nach drei Minuten mit Hitimana zurück, der verängstigt aussah und die Augen niederschlug, als Paul ihn fixierte. Der General füllte ein Glas mit Schnaps, das er Hitimana in die Hand drückte.

»Trink. Das hast du dir verdient.«

Vorsichtig setzte Hitimana das Glas an die Lippen und nippte an dem scharfen Getränk.

»Wer hat die Flucht organisiert? War es Ngoga?«

Hitimana nickte.

»Seit wann hat er die Flucht geplant?«

Der Junge begann zögernd zu erzählen, wie Ngoga seit einer Woche Leute um sich geschart hatte, denen er vertraute. Er hatte auch Hitimana angesprochen, doch der war von Anfang an unsicher gewesen. Sie hatten sich für diese Nacht verabredet, um durch den Dschungel zu fliehen.

»Wohin wollen sie?«, wollte Paul wissen.

»Zu den Goldminen. Von dort aus zur Hauptstraße und dann in Richtung Ruanda.«

»Was wolltest du denn da? Du kommst doch gar nicht aus Ruanda.« Pauls Stimme war schneidend.

Der Junge zuckte ängstlich mit den Schultern.

»Wo lebt deine Familie?«

Hitimana traten Tränen in die Augen, die er sofort wegwischte. Paul schlug mit der flachen Hand so stark auf den Tisch, dass dieser beinahe zusammenbrach. »Du willst ein Soldat sein? Du heulst wie ein Mädchen!«

Hitimana zuckte zusammen, dann straffte er seinen Körper. »Ich will ein guter Soldat sein«, stammelte er.

»Das ist schon besser. Ich werde dich genau im Auge behalten. Wenn du dir noch einmal eine Verfehlung zuschulden kommen lässt, dann weißt du, was dir blüht!«, zischte Paul ihm zu. »Und jetzt geh schlafen. Morgen haben wir einen langen Marsch vor uns.«

Hitimana salutierte und stolperte nach draußen.

Paul stöhnte auf. »Wie soll ich mit Kindern einen vernünftigen Krieg führen?«, fragte er Innocent. »Die haben keinen Mumm in den Knochen. Seit Bernard in Deutschland im Gefängnis sitzt, drehen hier alle durch. Wenn so viel am Präsidenten hängt, dann muss sich die Situation ändern.« Er musterte seinen Leutnant. »Was meinst du?«

»Bernard ist nun mal der gewählte Präsident. Er entscheidet über unseren Weg. Sein Wort ist entscheidend.«

»Dir ist doch auch aufgefallen, dass sich die Stimmung unter den Soldaten geändert hat?«, fragte Paul mit zusammengekniffenen Augen.

»Ja, natürlich. Sie sind lahm geworden. Sie wissen nicht mehr, wofür sie kämpfen sollen.«

»Dann müssen wir ihnen wieder einen Grund geben. Dann werden sie motivierter sein. So wie es jetzt ist, kann es nicht weitergehen.«

»Du hast längst einen Plan, habe ich Recht?« Innocent war auf der Hut.

Paul fixierte seinen Leutnant durchdringend. Vorsichtig wiegte er den Kopf hin und her, bis er wieder zu sprechen begann. »Wenn ich einen Plan hätte, auf wessen Seite würdest du dann stehen?«

»Paul! Was ist das für eine Frage?« Innocent erhob sich von der Bank, wandte sich von seinem General ab. »Wir kämpfen seit Jahren zusammen.« Er versuchte den Blick seines Chefs einzufangen, als er sich wieder umdrehte. »Natürlich stehe ich auf deiner Seite. Du erinnerst dich doch an ’94: In Kigali haben wir Seite an Seite gegen die Tutsi-Kakerlaken gekämpft. Wir haben zusammen unsere Heimat verlassen, als die Tutsi die Macht übernahmen. Seitdem haben wir fast jeden Tag zusammen verbracht. Das wird auch weiterhin so sein.« Er machte eine Pause. Dann setzte er sich wieder. »Also, was ist dein Plan?«

»Wir haben beide oft genug erlebt, dass man sich nicht einmal auf seine besten Freunde verlassen kann, wenn es um die großen Dinge geht. Was kannst du mir anbieten, damit ich sicher sein kann, dir vertrauen zu können?«

Innocents Augen wurden schmal. Seine Hand wanderte fast unmerklich an den Hosenbund. Die Waffe war geladen und entsichert. Paul folgte der Bewegung aus den Augenwinkeln. Er sagte nichts, seine Hände ruhten auf dem Tisch. Nur ein leichtes Zucken durchlief seine Finger. Er konnte schnell sein, sehr schnell. Innocent registrierte die winzige Bewegung sehr genau. Dennoch begann er zu sprechen.

»Ich gehe davon aus, dass es darum geht, Bernard vom Thron zu stoßen und einen neuen Präsidenten zu wählen. Solltest du zu irgendeiner Zeit Pläne in dieser Richtung haben, dann stehe ich hinter dir und werde bis zu deinem Tod an deiner Seite stehen.« Wieder folgte ein Moment angespannter Stille. Die beiden Männer sahen sich unbeirrt in die Augen. »Bernard ist in seiner jetzigen Situation handlungsunfähig«, sagte Innocent in ruhigem Ton. »Jemand muss seine Arbeit übernehmen. Und ich finde, dass diese Aufgabe dir zufallen sollte.«

In Pauls Augen blitzte es auf.

»Dir ist klar, was du da sagst?«, fragte er lauernd. »Ich könnte dich auf der Stelle für deine Worte hinrichten lassen. Auf Meuterei steht der Tod.«

»Ich bin mir sicher, dass du die Situation genauso siehst wie ich. Also lass uns etwas tun, damit wir die Macht in die Hand bekommen!«

»Wir?« Pauls Stimme klang zynisch.

»Du als Präsident, ich als dein Stellvertreter.«

»Darüber kann man nachdenken.«

Als Paul verstummt war, bemerkte er Unruhe im Lager und trat hinaus. Die Morgendämmerung schob sich schnell über die Wipfel der Bäume. Die Häscher kamen zurück und trieben einen Teil der Flüchtlinge vor sich her. Sieben waren es, alle an den Händen gefesselt. Sie waren völlig erschöpft, einige hatten tiefe Schnittwunden, die von Macheten herrührten, andere hatten offenbar Schussverletzungen. Paul trat vor das Zelt, um die Schar in Empfang zu nehmen. Zornig starrte er ihnen entgegen, als sie von ihren ehemaligen Kameraden in den Schlamm des Platzes gestoßen wurden. Die meisten blieben dort liegen, ergaben sich bereits ihrem Schicksal. Nur einer rappelte sich sofort wieder auf, obwohl seine Hände auf dem Rücken fixiert waren und er an der Schulter stark blutete. Herausfordernd blickte er Paul in die Augen.

»Ngoga ...«, sagte dieser nach einer Weile. »Wie schön, dich zu sehen. Wie geht es dir?« Paul lächelte. Als Antwort spuckte Ngoga vor ihm auf den Boden. Lange sahen sich die beiden Männer an. Um sie herum hatten sich die Soldaten der gesamten Miliz versammelt. Sie beobachteten den wortlosen Kampf zwischen den beiden starken Männern. Dann begann Paul, Ngoga mit bedrohlich langsamen Schritten zu umrunden.

Nach und nach wurden die Männer nervös, denn es war nicht abzusehen, wer das stumme Duell gewinnen würde. Schließlich beendete Paul die Situation und richtete sich vor den Gefangenen auf: »Führt sie ab!« Dann wandte er sich um und ging auf sein Zelt zu. In diesem Moment begann Ngoga zu lachen. Paul blieb wie angewurzelt stehen. Er zog seine Waffe aus dem Holster, drehte sich ganz langsam um und schritt auf Ngoga zu. Als dieser Pauls Waffe auf sich zukommen sah, verstummte er kurz, doch dann begann er zu sprechen:

»Ja, das kannst du. Mit Gewalt unterdrückst du deine Leute. Aber sei dir darüber im Klaren: Du hast sie längst nicht mehr unter Kontrolle. Du hast dich nicht mehr unter Kontrolle. Mit Gewalt macht man sich keine Freunde. Du wirst untergehen – so wie wir alle, wenn wir nicht ...«

Ein Schuss peitschte durch den Wald. Ngoga verstummte, als ihn Pauls Kugel in den Kopf traf und nach hinten schleuderte. Er sackte verrenkt in den Dreck, um seinen Kopf bildete sich sofort eine dunkelrote Blutlache. Die anderen Gefangenen zuckten entsetzt zurück. Paul trat auf sie zu.

»Möchte noch jemand das Maul aufreißen?« Jedem Einzelnen blickte er ins Gesicht, die Waffe in der Hand, den Zeigefinger angespannt auf dem Abzug. »Also, wer will mir etwas mitteilen? Ich höre gerne zu.«

Keiner sprach ein Wort. Paul war wütend. Er musste sich Autorität verschaffen, um seine Leute wieder in den Griff zu kriegen. Natürlich hatte Ngoga Recht. Doch niemand durfte das aussprechen, schon gar nicht öffentlich.

»Bringt die anderen auf die kleine Lichtung hinter den Felsen.« Er sprach jetzt wieder so leise, dass ihn seine Soldaten kaum verstanden. Nur die, die in seiner Nähe waren, hörten jedes Wort genau. »Sie sollen Gruben ausheben, tief genug, damit sie später nicht mehr ausgebuddelt werden können.« Zwei Kindersoldaten unter den Gefangenen begannen zu weinen. »Wenn sie fertig sind, dann ruft mich.« Mit diesen Worten wandte er sich erneut um und verschwand in seinem Zelt.

Eine Stunde später gingen Innocent und Paul durch den dämmrigen Wald zu der Lichtung, auf der sich die Soldaten versammelt hatten. Sie waren immer noch nicht genug, um die großen Ziele zu verfolgen. Die Truppenstärke reichte gerade, um die Märkte und Minen der Umgebung zu kontrollieren. Doch für den Holzkohlehandel brauchten sie weitere fünfzig Soldaten. Das war ein einträgliches Geschäft. Im Moment floss dieses Geld unkontrolliert an der ALR vorbei, und das ärgerte Paul. Sie konnten sich keine weiteren Verluste erlauben. Die Aufmerksamkeit der anderen Generäle und des Präsidenten war auf Paul gerichtet.

Sechs Gräber hatten sie ausgehoben. Sechs Soldaten knieten davor, mit dem Rücken zu den Löchern. Zwei waren erst etwa zwölf Jahre alt. Sie knieten ganz links. Ihre Hosen waren schmutzig und nass. Die Augen aller sechs waren verbunden. Paul baute sich vor den Gefangenen auf, stemmte die Hände in die Hüften. Dann ließ er den Blick über seine Soldaten wandern, die rund um die Gräber standen und auf den Bäumen saßen. Sie warteten.

»Nehmt ihnen die Augenbinden ab. Ich will das Weiße in ihren Augen sehen, wenn sie sterben.«

Vier Soldaten sprangen auf und zogen den zum Tode Verdammten die Stofffetzen vom Kopf.

»Hitimana, Mugiraneza, kommt zu mir.«

Die beiden Jungen schälten sich vorsichtig aus dem Schatten. Sie mussten aufschauen, als sie vor ihrem General standen. Er musterte die beiden ausgiebig, bis ihnen die Angst ins Gesicht geschrieben war.

»Wollt ihr wahre Soldaten der ALR sein?« Die beiden nickten.

»Seid ihr bereit, alles für die ALR zu tun?« Wieder nickten die beiden.

»Seid ihr bereit, für die ALR zu töten?« Erneut erntete er ein Nicken.

Die Soldaten rundherum applaudierten. Dann begannen sie, die Parolen der ALR zu skandieren. Rhythmisch klangen ihre Rufe durch den ansonsten unheimlich stillen Dschungel. Zufrieden blickte Paul seine Leute an. So hielt er sie zusammen. Er rief zwei Soldaten zu sich heran, die ihre Gewehre über den Schultern trugen. Er nahm ihnen die Waffen ab und drückte sie den beiden Jungen in die Hand.

»Erschießt sie!«, befahl er ihnen.

Die Menge verstummte. Kein Laut war zu hören, als die beiden Jungen vor die Gefangenen traten.

»Fangt rechts an!«

Der Mann, der rechts in der Reihe kniete, begann zu weinen, zu betteln und zu flehen. Hitimana und Mugiraneza traten auf ihn zu, hoben die Waffen, schauten sich einmal kurz an, dann drückten sie gleichzeitig ab. Der Verräter wurde von Kugeln getroffen und stürzte in sein selbst ausgehobenes Grab. Die Soldaten applaudierten frenetisch und begannen wieder mit ihren rhythmischen Rufen.

Hitimana hob die Kalaschnikow über seinen Kopf, wobei er in die Rufe einstimmte. Mugiraneza stand wie versteinert vor dem Mann, den er gerade erschossen hatte. Paul trat zu ihm und schlug ihm anerkennend auf die Schulter. Dann schob er ihn weiter zum nächsten Verurteilten. Jetzt sollte er es allein machen. Wieder hob Mugiraneza die Waffe. Sie zitterte in seiner Hand. Langsam legte er den Zeigefinger auf den Abzug. Sein Opfer vor ihm sah ihn ängstlich an. Paul wusste, dass das Töten so am schwersten war. Einen Mann von hinten zu erschießen war einfach, aber wenn man in die Augen des Delinquenten sah, dann war es, als ob man eine Waffe auf sich selber richtete. Man war mit der Angst konfrontiert, die aus den Augen sprach.

Zögernd zog Mugiraneza den Abzug durch. Der Schuss hallte einsam über die Lichtung. Die Kugel hatte den Mann in die Schulter getroffen, sodass er zwar nach hinten in sein Grab stürzte, aber keinesfalls tot war. Er schrie vor Schmerzen. Die Soldaten lachten. Paul schob Mugiraneza nach vorne, ganz dicht an den Verletzten heran. Er senkte den Lauf des Gewehrs, richtete die Mündung auf den Kopf des am Boden Liegenden und drückte ab. Ein Schuss beendete das unerträgliche Schreien.

Nun waren noch vier Soldaten übrig. Zwei davon waren erfahrene Männer. Paul blickte sie an, dann grinste er bestialisch. Er sprach die beiden ebenfalls zum Tode verurteilten Jungen an: »Wenn ihr die Männer neben euch tötet, dann dürft ihr weiterleben.«

Er spielte solche Spiele gerne. Ein Soldat sprang auf sein Zeichen auf die Jungen zu, band ihre Fesseln auf.

»Wie heißt du?«, fragte Paul den einen Jungen.

»Ndabarinzi«, antwortete der.

»Und wie alt bist du?«

»Zwölf.«

»Und du da? Wie heißt du?«, sprach Paul den anderen Jungen an.

»Ich heiße Mugabo. Ich bin elf ...«

»Gut, Ndabarinzi – wirst du den Mann da neben dir töten? Oder willst du sterben?«

Der Junge begann zu zittern, er senkte den Kopf, Tränen flossen seine Wangen herab. Er und sein bester Freund Mugabo waren gerade erst von den Rebellen mitgenommen worden, als diese Badyoro, das Dorf ihrer Eltern, überfallen hatten.

Ndabarinzi hatte seinen Vater unter den Machetenhieben der Soldaten sterben sehen. Er hatte gesehen, wie seine Mutter, seine Schwestern und seine Oma unzählige Male vergewaltigt und danach zerhackt worden waren. Er hatte diese Hölle überlebt. Aber das, was die Soldaten seitdem mit ihm machten, kam ihm noch schlimmer vor: Sie zeigten ihm immer wieder seine älteste Schwester, die mit jedem Tag, den sie im Lager der Rebellen wie ein Tier gehalten wurde, schlechter aussah. Sie hatten sie vor seinen Augen vergewaltigt und von ihm verlangt, ihr dabei ins Gesicht zu spucken. Bis sie an ihren Verletzungen gestorben war.

Da war ihm der Vorschlag, zu fliehen, als die beste Lösung vorgekommen. Sein Freund Mugabo, der mit ihm entführt worden war und auch mit ihm zu fliehen versucht hatte, war sein einziger Halt. Und jetzt sollte jeder von beiden einen Menschen kaltblütig töten.

Paul zog seine Pistole aus dem Halfter, entsicherte sie und reichte sie Ndabarinzi. Der blickte auf das schwarze Metall, griff langsam danach. Doch dann ließ er sie fallen. »Ich will lieber sterben«, sagte er mit gesenktem Kopf.

Paul war kurz erstaunt, dann begann er laut zu lachen. Er bemerkte nicht, wie über das Gesicht Hitimanas ein Schatten huschte, denn der Junge stand in seinem Rücken. Hitimanas Hände verkrampften sich zu Fäusten.

»Gut, mein Junge, dann sollst du sterben.« Paul grinste, als er Mugabo die Pistole in die Hand drückte und sagte: »So, Mugabo. Wie ist es mit dir? Willst du lieber sterben oder deinen Kumpel hier mit einer Kugel ins Jenseits befördern?«

Mugabo betrachtete erst Paul, dann seinen Freund. Einen Moment lang sahen sie sich an, dann griff Mugabo nach der Hand Ndabarinzis und fixierte den General wieder.

»Entweder sterben wir beide oder keiner von uns.« Er hatte die Augen fest auf Paul gerichtet und streckte die Hand mit der Waffe zu ihm aus. »Ich werde meinen besten Freund nicht erschießen. Niemals.«

Pauls Gesicht zeigte zum ersten Mal eine leichte Verunsicherung. Doch dann verhärteten sich seine Züge wieder.

»Ihr bekommt eine letzte Chance.« Er zeigte auf die beiden anderen Todeskandidaten, die noch immer auf der matschigen Erde knieten. »Wenn du, Ndabarinzi, einen von den beiden Verrätern erschießt, dann darf dein Freund leben. Und wenn du, Mugabo, den anderen erschießt, dann kann Ndabarinzi weiterleben.«

Entschlossen griff Ndabarinzi nach der Waffe, drehte sich ein wenig zur Seite, richtete sie auf den Mann neben sich und drückte ab. Er traf ihn mitten ins Herz. Als Ndabarinzi seinem Freund die Waffe hinhielt, verhinderte Paul den Verlust eines weiteren Soldaten und griff nach der Pistole.

»Das soll reichen. Du wirst schon noch eine Chance bekommen, deinen Mut zu beweisen, Mugabo.« Er steckte die Pistole weg. Zu dem übriggebliebenen Soldaten sagte er: »Ich stelle dich unter strenge Bewachung. Wenn du dir irgendetwas zu Schulden kommen lässt, dann bist du tot.« Mugabo nickte panisch.

»Buddelt die Verräter ein. Danach melden sich zwanzig Freiwillige für eine Sonderaktion, die unser Präsident Bernard angeordnet hat.« Er blickte noch einmal in die Runde, dann drehte er sich um und verschwand zum Lager. Innocent und die meisten anderen folgten ihm. Mugabo und Ndabarinzi waren zu Boden gesunken und knieten stocksteif vor ihren eigenen, leeren Gräbern.

Hitimana schaute die beiden Jungen an. Zum ersten Mal in seinem Leben empfand er tiefen Respekt. Diese beiden Kinder, die jünger waren als er selbst, hatten Mut bewiesen. Er spürte tief in seinem Inneren, dass der Weg, für den sich Mugabo und Ndabarinzi entschieden hatten, der richtige war.

Paul wählte aus den zahlreichen Freiwilligen zwanzig Soldaten aus, die mit ihm losziehen sollten. Darunter auch sechs Kindersoldaten. Mugabo und Ndabarinzi gehörten ebenso dazu wie Hitimana und Mugiraneza. Er wollte die Jungen persönlich anlernen. Innocent kam mit und einige weitere, sehr zuverlässige Leute. Er musste sich auf die kleine Truppe verlassen können. Sie stiegen auf zwei Lastwagen mit Kurs auf den nächsten Ort, der unter ihrer Kontrolle stand, um sich dort mit dem nötigen Proviant für die kommenden Tage zu versorgen. In zwei Wochen würden sie zurück sein.