06_Abnehmender_Mond.tif

72

Berlin, 22. Juni

Sven Wiese schlug wütend auf die Tischplatte, als er von dem misslungenen Zugriff der GSG 9 erfuhr.

»Diese Deppen«, murmelte er so leise, dass nur Anja Paffrath ihn hörte.

Er stand von seinem Stuhl auf, wandte sich kurz von den Kollegen ab, kratzte sich nachdenklich am Kopf und drehte eine Runde um den Tisch, wobei ihm die anderen mit den Augen folgten. Die GSG 9 war mit der besten Ausrüstung nach Uganda geschickt worden. Der Botschafter war eingeknickt, und die ugandische Regierung hatte dem Einsatz in letzter Minute zugestimmt. Und was tat die Antiterroreinheit dort? Sie verwechselten ein paar einheimische Träger mit einer Rebellengruppe.

Die Nacht war weit fortgeschritten, Tage waren schon vergangen, ohne dass sie vernünftige Ergebnisse vorweisen konnten. Wiese blieb schließlich an der Kopfseite des Raums stehen und fixierte den Generalbundesanwalt, der sich ihm genau gegenüber befand. Dann ging er zum Angriff über.

»Herr von Schellenburg, welche Absprachen haben Sie mit Bernard Kayibanda getroffen?«, fragte er ruhig, ohne den Blick abzuwenden.

»Das ist eine Unverschämtheit!«, blaffte von Schellenburg ihn an. »Es gibt keine Absprachen zwischen Herrn Kayibanda und mir.«

»Sie haben das Verfahren gegen ihn aussetzen lassen. Ich frage mich, warum die Presse davon noch nichts mitbekommen hat. Das wäre wohl nicht in Ihrem Sinne.«

Die Köpfe aller Anwesenden drehten sich von Schellenburg zu, der sich nun wütend erhob.

»Ich habe gestern bereits mit dem Bundesaußenminister gesprochen«, sagt er. »Er ist überaus unzufrieden mit der Arbeit dieses Krisenstabs. Er wird Sie demnächst zu einem persönlichen Gespräch zu sich zitieren.«

Wiese ließ die Worte an sich abprallen und führte seinen Gedankengang weiter.

»Ich vermute, dass Sie die Bundesanwaltschaft angewiesen haben, keine Nachrichten nach außen zu geben, bis die Geiselnahme beendet ist. Dann allerdings wird Kayibanda Deutschland längst verlassen haben.«

Die beiden Männer sahen sich über den langen Tisch hinweg an.

»Sie wissen genauso gut wie ich, dass uns die Presse zu diesem Zeitpunkt eher im Weg steht«, blaffte von Schellenburg.

»Hat Kayibanda Ihnen ein Lebenszeichen Ihrer Tochter zukommen lassen?«

»Ich habe keinerlei Verhandlungen mit Herrn Kayibanda geführt. Wenn ich mich auf einen Deal mit diesem Mann einlassen würde, wäre ich auf meinem Posten nicht mehr tragbar.«

Wiese ließ diese Worte einen Moment lang im Raum nachhallen. Wie Recht der Mann hatte. Er bezweifelte jedoch, dass er sich dessen bewusst war.

»Vielleicht ist Ihnen das ja egal. Schließlich geht es hier um mehr, um sehr viel mehr, als um Ihren Posten. Womöglich geht es bei der Geiselnahme gar nicht darum, die Bundesrepublik zu erpressen? Stehen Sie selber eventuell mehr im Zentrum dieses Verbrechens, als Sie uns glauben lassen wollen?«

»Sie sind ja nicht ganz bei Trost!«, ereiferte sich von Schellenburg. Er hatte rote Flecken im Gesicht. Mit seinem Taschentuch wischte er sich den Schweiß von der Stirn. »Machen Sie Ihre Arbeit, anstatt sich weiter auf solche absurden Gedankenspiele einzulassen.«

»Und doch ist es höchst interessant, dass Sie genau im Moment der Entführung Ihrer Tochter das Ende der Untersuchungen gegen ihn forcieren.«

Von Schellenburg schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.

»Wir haben keine Handhabe gegen ihn, das wissen Sie ganz genau«, schimpfte er. »Wir haben alle rechtlichen Mittel ausgeschöpft. Und die Fristen kennen Sie.«

Wiese blickte den Generalbundesanwalt kühl an. Der Mann war verdammt schlau. Er sagte nichts, was ihm später zur Last gelegt werden konnte. Und doch wussten alle im Raum, dass Wiese Recht hatte. Ein schneller Blick in die Runde bestätigte diese Vermutung. Er atmete erneut tief durch, bevor er sich wieder an von Schellenburg wandte.

»Dann kehrt Herr Kayibanda nun also in sein Einfamilienhaus in Pinneberg zurück und wird das bürgerliche Leben weiterführen, das er bisher so friedlich und ungestört gelebt hat.«

»Ich bin über die weiteren Pläne von Herrn Kayibanda nicht informiert«, zischte der Generalbundesanwalt ihm zu.

»Darf er Deutschland verlassen oder hat er die Auflage bekommen, an seinem Wohnort zu bleiben?«, fragte Wiese ungeniert weiter.

»Das müssen Sie den zuständigen Bundesanwalt fragen.«

»Das habe ich bereits getan. Er wurde angewiesen, Herrn Kayibanda ohne Auflagen aus der Haft zu entlassen.«

Die Stille im Raum war beängstigend. Das Summen der Computer, ein Drehstuhl quietschte leise, ein Mobiltelefon brummte kurz.

»Davon weiß ich nichts«, sagte von Schellenburg.

»Gut, dann können wir den Affentanz hier sein lassen. Herr Kayibanda ist ja nun nicht mehr das größte Problem Ihrer Tochter.«

Wiese ging zu seinem Platz zurück und stützte sich mit den Armen auf den Tisch. Von Schellenburg sah ihn verständnislos an, blickte von einem Kollegen zum anderen, bis sein Blick zu Wiese zurückkehrte. Er war blass geworden.

»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte er tonlos.

»Nun, in der Reisegruppe befinden sich zwei Teilnehmer, die ein persönliches Interesse an Ihrer Tochter Andrea haben.« Wiese ließ auch diese Worte sacken, während er von Schellenburg weiter ansah. Der Generalbundesanwalt sank schwer auf seinen Stuhl. »Da ist zum einen Hans Meyer, der aus einem mir noch nicht bekannten Grund hinter Ihrer Familie her ist.«

Von Schellenburg öffnete den Mund; seine Hautfarbe war noch blasser geworden, sodass die hektischen roten Flecken umso deutlicher hervorstachen. Er brachte keinen Ton heraus.

»Und dann ist da auch noch diese Birgit Brandt ...«, fuhr Wiese fort.

»Frau Brandt ist eine Freundin meiner Tochter ...«, warf von Schellenburg gehetzt ein.

»... und sie ist zugleich die Ärztin von Herrn Kayibanda.« Wiese machte eine bedeutungsvolle Pause. »Und seine Geliebte«, vervollständigte Wiese die Aussage.

Der Generalbundesanwalt starrte Wiese entsetzt an. Wiese konnte ihm ansehen, dass ein ganzes Gedankengebäude in Trümmer zerfiel. Keiner im Raum sagte etwas. Alle warteten gespannt auf die weiteren Ausführungen Wieses.

»Ich kann noch nicht einschätzen, wie diese Information zu bewerten ist. Ihnen sollte damit allerdings zumindest klar sein, dass Ihre Tochter nicht so einfach in das nächste Flugzeug nach Europa entlassen wird, nur weil Sie einen der Erpresser zufrieden gestellt haben.«

Von Schellenburg erhob sich wieder von seinem Stuhl, fischte nervös sein Taschentuch aus der Hose, ging ein paar Schritte auf die Tür zu, schien den Raum verlassen zu wollen. Doch dann wandte er sich wieder Wiese zu.

»Dann tun Sie doch endlich etwas«, sagte er mit leiser Stimme, beinahe flehend.

»Sie sollten sich eines klar vor Augen führen, Herr von Schellenburg: Wenn Kayibanda erst einmal deutschen Boden verlassen hat, dann ist ihm das Leben Ihrer Tochter Andrea keinen Pfifferling mehr wert.« Er sah den schrumpfenden Hünen an der Tür kühl an. »Die Entführung durch die Rebellen schützte sie auch bis zu einem gewissen Grad vor den Interessen von Hans Meyer und Birgit Brandt, welcher Art die auch immer sein mögen. Oder wer vor Ort sonst noch seine Hände im Spiel haben mag. Dieser Schutz fällt nun flach. Sie wissen, was das bedeutet, und Sie sind sich sicherlich auch im Klaren darüber, wer die Verantwortung für diese Entwicklung trägt.«

Leichenblass starrte von Schellenburg den Leiter des Krisenreaktionszentrums an, ließ seine Hände fahrig die Luft zerschneiden, bevor er sich wieder umdrehte, um zu seinem Stuhl zurückzukehren.

»Warum tun Sie dann nichts dafür, dass meine Tochter aus dieser Lage befreit wird?«, hauchte der korpulente Mann, als er sich wieder gesetzt hatte.

Mit zu schmalen Schlitzen verengten Augen sah Wiese ihn an.

»Wir arbeiten hier Tag und Nacht genau an diesem Ziel: Ihre Tochter und die anderen Geiseln unversehrt aus ihrer misslichen Situation zu befreien. Allerdings wird unsere Arbeit zur Zeit massiv von Ihren Interventionen torpediert.«

Energisch drückte sich Wiese von der Tischplatte ab. Er schüttelte ärgerlich den Kopf, packte seine wichtigsten Unterlagen zusammen und schickte sich an, den Raum zu verlassen. Seine Mitarbeiterin Anja Paffrath folgte ihm. Als Wiese sich an der Tür noch einmal umsah, blickte er in eine Runde betroffener Krisenstabsmitglieder. Und in die Augen eines verzweifelten Vaters.