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Ostseite des Ruwenzori, 10. Juni
Uganda. Ein ostafrikanisches Land mit einer unheilvollen Geschichte. Britisches Protektorat von 1894 bis zur Unabhängigkeit 1962. Einparteiendemokratie und afrikanischer Sozialismus beherrschten lange die Politik. 1971 griff Idi Amin nach der Macht in der Hauptstadt Kampala und verjagte den damaligen Präsidenten Obote. Seine Regierungszeit wurde zur Hölle für alle, die nicht seiner Meinung waren.
300.000 Oppositionelle kamen unter Idi Amin ums Leben. Er räumte in der Armee ethnisch auf, ließ jeden töten, der nicht seine Linie vertrat. Innerhalb Afrikas wurde nur vom Präsidenten Tansanias laut Kritik geäußert. Amin erklärte dem Nachbarland kurzerhand den Krieg, der jedoch mit seiner eigenen Vertreibung nach Saudi-Arabien endete. Die arabische Halbinsel ist ein beliebtes Ziel bei gefallenen Tyrannen.
Der ehemalige Präsident Milton Obote kehrte nach Kampala zurück, und auch er verlieh seinem Unverständnis über abweichende Meinungen mit harter Hand Ausdruck: Etwa 500.000 Menschen verloren dabei ihr Leben.
Yoweri Kaguta Museveni marschierte Mitte der 1980er Jahre mit seinen Rebellen in die Hauptstadt ein und ließ sich zum Präsidenten wählen. Er sitzt bis heute auf seinem Thron und kann sich zugute halten, das Einparteiensystem erfolgreich verteidigt und zahlreiche Kinder zu Soldaten versklavt zu haben, den Menschenrechten eher ambivalent gegenüberzustehen und Schwulen und Lesben das Lebensrecht zu verweigern.
2012 erkor der Reiseführer »Lonely Planet« Uganda wegen seiner schönen Graslandschaften, seiner vielen wild lebenden Tiere, der traumhaften Safaris und romantischen Wasserfälle zum Reiseland Nummer eins weltweit.
Tom wurde aus der Lektüre eines Artikels über Uganda gerissen, als Manfred den großen Toyota mit Schwung auf das hügelige Gelände des Ruwenzori Mountaineering Service in Nyakalengija steuerte. Ein freundlich aussehender Ugander kam ihnen entgegen.
»Da ist Peter, unser Guide!«, rief der Reiseleiter.
Der Wagen kam mit einem Ruck zum Stehen.
Die Hüttenreihe des Gästehauses, das ihnen für die kommende Nacht Unterkunft bieten sollte, lag im warmen Licht des späten Nachmittags. Manfred stellte den Motor ab und sprang stöhnend von seinem Sitz.
Andrea betrachtete Peter aufmerksam, der die Gäste überschwänglich empfing. Dann gab sie sich einen Ruck und stieg betont entspannt aus dem Fond, um den schlanken Mann, der auch ihr freundlich lächelnd entgegentrat, zu begrüßen.
Seine Haut war nicht so dunkel wie die der anderen Ugander, seine Lippen waren schmaler und er war deutlich größer. Er lächelte, als Andrea unter der Kraft seiner Hand leicht zusammenzuckte. Dieses Lächeln fiel ihr sofort auf. Die Ähnlichkeit war unübersehbar. Ein leichter Schauer lief ihr über den Rücken.
»Herzlich willkommen!« Seine Stimme war warm und tief. »Du bist bestimmt Andrea.«
Sie nickte knapp. Der Mann sah sie mit den gleichen klaren Augen an, die sie schon seit Ewigkeiten kannte. Damit hatte sie nicht gerechnet.
»Ich werde euch durch die grüne Hölle des Ruwenzori führen«, fuhr Peter in bestem Englisch fort. Auf Andreas Stirn entstand eine steile Falte. »Aber das ist alles halb so schlimm, wie es sich anhört. Ich passe schon auf euch auf.«
Andrea konnte den Blick nicht abwenden. Sie musste es ihm sagen. Sofort. In diesem Moment wandte Peter sich den anderen Reisenden zu. Zwei Männer nahmen die Rucksäcke aus dem Kofferraum und trugen sie auf die Terrasse des kleinen Restaurants, das zu der spartanischen Anlage gehörte. Sie unterhielten sich in einer fremden Sprache.
»Das ist Lhoukonzo, die Sprache der Eingeborenen hier in dieser Region.« Andrea erschrak. Hans stand dicht neben ihr, und sie spürte den Luftzug seiner Stimme an ihrem Ohr. »In Uganda werden über dreißig verschiedene Sprachen gesprochen.« Die feinen Haare in ihrem Nacken stellten sich auf, und ihr lief ein kalter Schauer über den Rücken. Demonstrativ trat sie einen Schritt zur Seite, obwohl Hans schon auf die Terrasse zuging, um sich dort mit großer Geste ein Bier zu bestellen. Andrea wurde das Gefühl nicht los, dass er sie beobachtete. Was wollte dieser Mann von ihr? Auf einen Verehrer dieser Sorte konnte sie gut verzichten.
Die Bilder der letzten Stunden geisterten durch ihren Kopf. Die kleinen Orte, deren Straßen mit Menschen geradezu überschwemmt waren. Die vielfältigen Waren, die überall angeboten wurden. Vor allem die vielen Bananensorten, die Holzkohle, die aus den illegalen Köhlereien der Berge kam und ohne die Ugandas Infrastruktur nicht funktionierte, goldgelber Mais, lange Zuckerrohrstangen, aber auch lebende Hühner in winzigen Käfigen, Sofas in schreienden Farben und Särge in jeder Größe – die meisten waren für Kinder gemacht. Andrea hatte die schillernden Kleider der ugandischen Frauen noch vor Augen und die fremden Gerüche in der Nase. Dennoch brach jetzt der Gedanke an ihre Mission über sie herein, eine Aufgabe, die sie in das pulsierende Herz Afrikas geführt hatte.
Mit in die Ferne gerichteter Wahrnehmung dachte Andrea nach: War es richtig, was sie hier tat? Sollte sie nicht lieber auf der Stelle umkehren, nach Entebbe zurückfahren, das nächste Flugzeug besteigen und es sich wieder in ihrer schicken Berliner Wohnung gemütlich machen?
Nach und nach ließ sich die kleine Reisegruppe auf der Terrasse nieder. Sie bestellten Bier, Wasser oder Cola und unterhielten sich angeregt über die bevorstehende Trekkingtour. Sieben Tage mit diesen Menschen.
Andrea ging auf Tom zu, und eine verlegen kichernde Kellnerin stellte Bier und Cola vor sie hin.
»Auf eine erfolgreiche Besteigung des Ruwenzori!«, rief Hans laut. »Und auf eine gesunde Rückkehr!« Er musterte Andrea, die sich von ihm abwandte, um in ihrer Tasche nach der Kamera zu suchen.
Als sie wieder aufschaute, stockte sie für einen kurzen Moment. Tom sah ihr in die Augen, sekundenlang, ohne zu zwinkern, ohne die Miene zu verziehen. Röte stieg in Andreas Gesicht. Sie griff nach ihrer Colaflasche, nahm einen hastigen Schluck und vermied jeden weiteren Blick in die Runde.
Stattdessen fixierte sie das Geschehen unterhalb der Terrasse. Der Platz der kleinen Anlage war sonnenbeschienen und mit saftigem Gras bedeckt. Zwei Häuserreihen erstreckten sich nach links und rechts, dahinter hatte sich ein Fluss ins Tal gegraben. Unterhalb des Gästehauses lag der kleine Ort Nyakalengija. Eine kleine Kaffeeplantage, nicht größer als ein Hektar, zog sich einen Hang hinauf. Rechts bot die kleine Terrasse mit fünf Tischen Schutz vor der Sonne und dem für diese Region typischen Regen. Dahinter befand sich als Begrenzung zur schmalen Straße, die sich weiter den Berg hochwand, ein dichter Hain aus Bananenstauden, in dem zwei Ziegen nach Futter suchten.
Allmählich tauchte Andrea wieder aus ihren Gedanken auf. Hans und Tom unterhielten sich angeregt. Birgit und die anderen saßen auf den Barhockern und Sofas, tranken Bier und hörten dem Gespräch zu. Andrea nutzte die Gelegenheit, um Peter unbemerkt zu beobachten.
»Die knallen alles ab, was sich bewegt«, sagte Hans gerade. »Dabei sind sie angeblich so eng mit der Natur verbunden, glauben an abstruse Geister auf den Gipfeln der Berge und rennen holzgeschnitzten Götzen nach. Aber wenn es darum geht, ihren eigenen Lebensraum zu erhalten, dann verhalten die sich wie Vollidioten. Deshalb war es richtig, sie aus den Bergen umzusiedeln.«
»Den Menschen blieb ja keine andere Wahl«, warf Tom ein. »Die Regierung hat ihre Gebiete immer weiter beschnitten, und sie mussten von irgendetwas leben. Und umsiedeln ist eine nette Beschreibung dafür, dass die Menschen aus dem Ruwenzori vertrieben wurden.« Er sprach ruhig und überlegt, ohne sich zu ereifern – im Gegensatz zu Hans, dem schon die Röte ins Gesicht schoss. Andrea lächelte in sich hinein. An Toms Stelle wäre sie Hans vermutlich längst an die Gurgel gegangen.
»So ein Unsinn«, meinte Hans. »Diese weltweit einzigartige Natur muss um jeden Preis erhalten bleiben. Da ist es nur richtig, die Menschen, die ja doch nur Bäume fällen und Tiere töten, in die Orte hier unten zu bringen. Hier gibt es außerdem Schulen, die Kinder lernen Englisch und werden medizinisch versorgt. Ich sage nur: Schuster bleib bei deinen Rappen.«
Andrea verdrehte die Augen. Tom lachte leise. Dann setzte er wieder eine ernste Miene auf.
»Die Menschen leben in diesem Gebirge seit Tausenden von Jahren«, erwiderte Tom. »Das bisschen Fleisch, was sie gejagt haben, fällt nicht ins Gewicht. Wilderer von außerhalb haben Felle und andere Trophäen für Touristen gejagt – die waren das Problem. Dabei haben sie die Elefanten, Schimpansen und Leoparden hier so gut wie ausgerottet. Diesen Leuten hätte man viel früher entgegentreten müssen. Aber das war in der Zeit Idi Amins kein Thema, und unter Obote hatten die Menschen andere Probleme. Doch seit Museveni im Amt ist, hätte man anders damit umgehen können.«
»Bist du schon mal da oben gewesen?«, mischte sich nun Kathrin ein, die sich bislang mit keinem Wort an dem Gespräch beteiligt, sondern ihre Fingernägel studiert hatte.
»Ja, und ich freue mich auf das zweite Mal«, antwortete Tom geheimnisvoll.
In diesem Moment trat ein Einheimischer an den Tisch.
»Das ist Nzanzu«, stellte Peter ihn vor und sah Tom an, als er fortfuhr: »Er ist der perfekte Guide für deine Tour, Tom.«
Nzanzu war kleiner als alle anderen am Tisch. Außerdem wirkte er alt, obwohl er einen trainierten Eindruck machte. Tom begrüßte ihn und wandte sich dann an Peter.
»Ich habe meine Pläne ein wenig modifiziert.« Dabei warf er einen flüchtigen Blick auf Andrea. »Wenn es euch nicht stört, dann werde ich den ersten Teil der Wanderung mit euch zusammen machen.«
Andrea nickte leicht mit dem Kopf und lächelte.
»Für mich ist das in Ordnung«, sagte Peter.
»Welchen Weg wolltest du denn ursprünglich nehmen?«, mischte sich Hans ein.
»Ich wollte den Central Circuit in umgekehrter Richtung laufen, das heißt, wir wären uns dann auf halbem Weg erst wieder begegnet.«
Tom sah Nzanzu an.
»Können wir bis zu den Kitandara-Seen mit den anderen zusammen gehen?«
»Den Geistern wird das gleich sein«, sagte der Guide und nickte.
Andrea blickte zwischen Nzanzu und Tom hin und her.
»Dann glaubst du also an die Geister der Mondberge?«, wollte sie von dem Einheimischen wissen.
Der sah sie mit seinen klaren Augen an. »Sie sind da. Dort oben in den Bergen genauso wie hier unten in den Dörfern. Sie gehören zu den Bayira, meinem Stamm, wie die Berge und der Wald. Seit Ewigkeiten besiedeln unsere Vorfahren sowohl die östlichen als auch die westlichen Hänge der Berge. Und auch wenn wir heute durch eine Grenze getrennt sind, sind doch dieselben Geister für uns da.«
»Und was tun die Geister?«, bohrte Andrea unruhig nach.
»Unsere Geisterwelt«, antwortete Nzanzu geduldig, »unterteilen wir in gute und böse Geister. Die guten, die Abalimu, beschützten die Menschen. Sie sind die Seelen verstorbener Familienmitglieder. Ihre Aufgabe ist es, uns vor den Gefahren des Lebens zu bewahren. Aber es gibt auch die Totengeister, die Ebirimu, die zu den Menschen zurückkehren, wenn ein Toter nicht richtig begraben wurde oder wenn jemand unschuldig gestorben ist.«
Andrea hörte ihm gespannt zu, während sie aus den Augenwinkeln Tom beobachtete, der bei Nzanzus Worten skeptisch die Nase rümpfte.
»Einmal bin ich einem Ebirimu begegnet.«
»Und was ist geschehen?«, wollte Andrea wissen.
Nzanzu betrachtete sie eine Weile schweigend, dann fuhr er mit leiser Stimme fort: »Mitten in der Nacht bin ich von einem lauten Weinen und Schreien erwacht. Als ich aus meiner Hütte blickte, habe ich den Geist gesehen. Er war von einem Funkenregen umgeben, hat wild um sich geschlagen, geschrien und das gesamte Dorf geweckt.« Nzanzus Blick glitt für einen Moment in die Ferne. »In derselben Nacht ist meine Mutter gestorben.«
Andrea war blass geworden. Sie hatte mit Faszination von diesen Geistern der Mondberge gelesen, doch jetzt schauderte es sie. Dabei waren sie erst am Fuß der Berge, der Heimat dieser Geister. Tom lachte glucksend, als er ihren ängstlichen Gesichtsausdruck sah. Andrea senkte ärgerlich den Kopf.
»Besonders diejenigen, die den Glauben an die Geister weit von sich weisen, werden gerne von ihnen heimgesucht«, sagte Nzanzu mit ruhiger Stimme. Die Haare auf Andreas Unterarmen stellten sich auf.
Als die Runde sich eine halbe Stunde später auflöste, bezog jeder einen eigenen Raum in der Hüttenzeile. Andrea ergatterte das Zimmer, das den Toiletten am nächsten lag. Der Strom wurde nach zweiundzwanzig Uhr abgestellt. Daher wollte sie sich ihren Weg so kurz wie möglich gestalten, falls sie nachts mit der Stirnlampe noch mal raus müsste.
Das Zimmer war einfach eingerichtet. Ein Bett, ein Sessel und eine wackelige Kommode. Dies war der letzte Luxus, den sie für eine Weile erleben würde. Ab dem nächsten Morgen würde sie nur noch ihren Schlafsack für sich allein haben, den sie auf eine durchgelegene Matratze oder ein hartes Etagenbett in einer zugigen Hütte legen würde.
Nach dem Abendessen setzte Andrea sich etwas abseits auf das altersschwache Rattansofa am Rand der Terrasse. Die anderen unterhielten sich an den hohen Tischen über den nächsten Tag. Andrea beobachtete Peter aufmerksam. Der bemerkte sie nach einer Weile, blickte zu ihr herüber. Er zwinkerte ihr zu, zog die Stirn nachdenklich kraus, schien über etwas nachzudenken, schüttelte dann kurz den Kopf, und unterhielt sich weiter mit Tom. Andrea registrierte Peters Lächeln. Und wieder seine Augen.
Sie ging früh am Abend in ihr Zimmer, kroch unter dem Moskitonetz hindurch, setzte sich die Stirnlampe auf den Kopf und griff nach dem Reiseführer. Aber sie konnte sich nicht auf das Lesen konzentrieren. Sie legte das Buch zur Seite, sank in die Matratze und hörte, wie die anderen nach und nach ebenfalls schlafen gingen. Kurz darauf verlosch auch draußen das Licht. Andrea begann, sich ihrer Müdigkeit hinzugeben. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie für einen winzigen Moment einen Schatten vor dem Fenster. Als ob jemand versuchte, durch die Gardinen in ihr Zimmer zu spähen. Andrea war schlagartig hellwach und hielt den Atem an. Sie hob langsam den Kopf vom Kissen und lauschte. Da war ein unterdrücktes Atmen. Sie spürte ihren Herzschlag bis in den Hals. Die Türklinke senkte sich langsam mit einem leisen Quietschen. Panik stieg in ihr auf. Die Klinke hob sich wieder. Andrea hatte abgeschlossen. Aber wie sicher war die Tür? Halblaut rief sie »Hallo?« Sie bekam keine Antwort. Stattdessen hörte sie schnelle Schritte davonhuschen. Sie sprang aus dem Bett, stürzte zur Tür, drehte den Schlüssel im Schloss und riss die Tür auf. Sie spähte nach rechts und links. Es war stockdunkel und menschenleer.
Eben wollte sie die Tür wieder schließen, als sie im Schein der Stirnlampe einen Gegenstand auf der Betonplatte entdeckte. Sie bückte sich und hob ihn auf. Eine kleine Gorillafigur aus Holz, vielleicht fünf Zentimeter groß. Irgendwo hatte sie genau so eine Figur schon einmal gesehen. Sie steckte sie in eine Seitentasche ihres Rucksacks, schloss die Tür zweimal ab und legte sich wieder ins Bett.