50
Im Tal, am Mittag des 19. Juni
Tom hielt den Atem an, als die drei Schwarzen auf sie zukamen. Er wusste so gut wie nichts über die Völker hier oben in den Bergen, wenn er auch einiges über ihre Geschichte gelesen hatten. Die Literatur hatte nur wenig über die Menschen im Ruwenzori offenbart, denn hier lebte heute eigentlich niemand mehr, seit der Nationalpark immer weiter ausgedehnt worden war. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine Gruppe Menschen dem Einfluss der Nationalparkbehörden entzogen hatte, schien ihm unvorstellbar klein. Und doch kamen jetzt zwei Frauen und ein Mann auf sie zu, mit langen Speeren in den Händen, die Mienen versteinert, ohne jede Regung.
»Macht keine hastigen Bewegungen und sprecht nicht zu laut«, sagte Peter. »Wir wissen nicht, was sie wollen. Sagt am besten erst mal gar nichts.«
»Die wollen uns einfach begrüßen, mehr nicht«, entgegnete Andrea.
»Ich weiß nicht so recht«, mischte sich Tom ein. »Vielleicht wollen sie uns auch in den Kochtopf werfen.«
Andrea warf ihm einen verächtlichen Blick zu und wollte gerade auf die drei zugehen, als Mugiraneza ungezwungen die Hand zum Gruß erhob und etwas in seiner Sprache sagte. Eine der Frauen antwortete, und zwischen den beiden entspann sich ein Gespräch.
»Das sind Bayira. Sie sprechen Lhukonzo miteinander«, meinte Peter.
»Kannst du jetzt etwas verstehen?«, wollte Andrea wissen.
»Kein Wort«, gab Peter leise zurück. »Ich kenne ihren Dialekt nicht.«
In diesem Moment winkte Mugiraneza ihnen zu. Sie sollten zu ihm herüberkommen. Er und Hitimana standen direkt bei den Bayira und schienen sich gut mit ihnen zu verstehen. Zögernd traten Tom, Peter und Andrea auf die Einheimischen zu. Jetzt fiel Tom die geringe Körpergröße der drei auf, sie reichten ihm gerade einmal bis zur Schulter. Schon die Träger waren sehr klein gewesen, doch bei diesen Leuten war es noch deutlicher. Durch ihre Speere und die geringe Bekleidung sahen sie beinahe wie Wilde aus dem Bilderbuch aus. Umso mehr irritiert war er, als ihn eine der beiden Frauen in bestem Oxford-Englisch ansprach.
»Euer Freund hat uns gesagt, dass ihr auf der Flucht seid. Ihr seid in ein heiliges Tal gelangt und müsst so schnell wie möglich wieder verschwinden. Es ist Fremden nicht erlaubt, sich hier aufzuhalten.«
»Wir hatten nicht vor, euer Tal zu betreten. Bitte verzeiht – aber uns blieb keine andere Wahl«, versuchte Peter eine Erklärung vorzubringen.
»Was auch immer die Gründe für euer Erscheinen sind, hier ist kein Platz für euch.«
»Wir können nicht zurück«, sagte Tom und musste sich räuspern. »Dort oben warten Rebellen auf uns.«
»Das ist nicht unser Problem.« Der Blick der kleinen Frau blieb hart.
»Können wir uns nicht wenigstens einen Moment ausruhen und nach einem anderen Weg suchen?«, fragte Peter.
»Es gibt nur den Weg über den Pass, den ihr gekommen seid.«
»Die Rebellen werden auch hierher kommen. Was werdet ihr dann tun?«, fragte Tom.
»Sie werden nur in dieses Tal kommen, wenn sie euch nicht gefunden haben. Also müsst ihr umkehren, um das zu verhindern.« Tom meinte einen kleinen Funken Unsicherheit in ihren Augen zu erkennen. Er setzte alles auf eine Karte.
»Wenn wir den Rebellen erzählen, dass ihr hier lebt, dann werden sie das Tal sehen wollen. Sie werden herkommen und eure Siedlungen zerstören. Und nicht nur das. Sie werden weit schlimmere Dinge tun – so wie sie es in dem Dorf von Mugiraneza und Hitimana im Kongo getan haben.« Er blickte die Frau herausfordernd an. Als sie nicht sofort reagierte, schob er nach: »Fragt die beiden. Sie werden es euch erzählen.«
Die Bayira fixierte ihn einen Moment lang skeptisch, dann wandte sie sich an Mugiraneza, stellte ihm Fragen, die er zögernd nach und nach beantwortete. Tom sah Tränen in seinen Augen. Als Mugiraneza fertig war, schwiegen die acht Menschen auf der Lichtung. Die einheimische Frau betrachtete den Jungen vor sich mit versteinerter Miene, aus der das Entsetzen über das Gehörte sprach. Dann zog sie sich mit den anderen beiden zur Beratung ein paar Meter zurück. Der Mann und die andere Frau hörten ihr schweigend zu, nickten schließlich mit den Köpfen und kamen schließlich zu ihnen zurück.
»Folgt uns. Wir werden den Dorfrat fragen, wie wir weiter vorgehen sollen.«
Kaum hatte sie das gesagt, drehte sie sich schon um und eilte erstaunlich schnell dem Wald zu, der die Lichtung umgab. Peter, Tom und Andrea sputeten sich, um ihnen zu folgen. Allmählich gewöhnte sich Tom an diese Situation. Seit Tagen war er immer anderen Menschen gefolgt, hatte ihren Befehlen gehorcht und sich darauf verlassen, dass dies die für ihn beste Option war. Und auch jetzt hatte er keine Idee, wie er anders hätte handeln können.
Tom fühlte sich deutlich besser als in den vergangenen Tagen. Obwohl die Kopfschmerzen noch nicht ganz verflogen waren und auch eine latente Übelkeit sein ständiger Begleiter blieb, kehrte seine Energie allmählich zurück. Die angenehme Wärme des Tals durchströmte ihn. In seinen seit Tagen ausgekühlten Körper kam langsam Leben zurück, und als er sich nun etwas ausgiebiger umsah, wurde ihm bewusst, dass es für die Höhe, in der sie immer noch sein mussten, viel zu warm war. Jetzt fiel ihm auch das unterbrochene Gespräch mit Peter wieder ein. Er hatte ihn darin bestätigt, dass die Natur hier ungewöhnlich war. Woher also konnte diese Wärme kommen? Die Sonne schien nicht besonders stark, eine dichte Wolkendecke verhinderte ihr Durchdringen bis auf den Boden. War diese Gegend vulkanischen Ursprungs? Nein, das stimmte nicht. Er meinte sich zu erinnern, dass dieses Gebirge die Folge einer geologischen Besonderheit war, deren Namen er vergessen hatte. Auf jeden Fall befanden sie sich im Gebiet des ostafrikanischen Grabenbruchs, in dem sich zwei Kontinentalplatten langsam voneinander entfernten. Dann war die Nähe zu Magma, auf der alle Erdplatten schwammen, vielleicht nicht so weit, und die Wärme konnte daher stammen?
Tom verwarf alle diese Erwägungen schnell wieder, weil sie ihm viel zu kompliziert und unwahrscheinlich erschienen. Es musste einen einfacheren Grund für die Wärme geben.
»Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee war, denen zu drohen«, meinte Peter leise. »In Abgeschiedenheit lebende Clans haben manchmal sehr eigenartige Riten ...«
»Die werden uns schon nicht massakrieren und zu Mittag essen«, entgegnete Tom. »Aber mal ehrlich: Was blieb uns denn anderes übrig? Außerdem ist das, was ich gesagt habe, gar nicht mal so unwahrscheinlich.«
»Das kann ja sein. Ich befürchte nur, dass wir uns damit weitere Schwierigkeiten einhandeln.«
Tom blickte prüfend zu den vorauseilenden Bayira.
Hitimana und Mugiraneza liefen zwischen ihnen und den drei Einheimischen und schienen verhältnismäßig entspannt zu sein. Tom klammerte sich an die Hoffnung, die die Jungen ausstrahlten.
Das Tal offenbarte hinter jeder Wegbiegung schönere Seiten. Durch die ungewöhnliche Wärme, die feuchte Luft und die unerklärliche Helligkeit, die durch die Wolkendecke drang, waren die Pflanzen hier noch üppiger als in anderen Teilen des Ruwenzori. Bereits in den letzten Tagen waren sie durch mystisch anmutende Landschaften gewandert, doch hier wurde der Eindruck noch überwältigender. Zu den Senezien und Lobelien in den höheren Arealen des Tals gesellten sich Korallenbäume, deren blutrote Blüten hoch in den Himmel wuchsen. Die Stämme waren über und über mit Moos bedeckt, und wie überdimensionale Bärte hingen Flechten von den Ästen herab, die an manchen Stellen bis auf die Erde reichten. Jeder Zentimeter des feuchten Bodens war mit Farnen und Gräsern bedeckt, zwischen denen Orchideen in leuchtenden Farben hervorstachen. Bromelien hatten sich in umgestürzten Baumstämmen eingenistet, und knallgelbe Blüten wucherten an langen Ranken die Felsen und Stämme hinauf.
Zwischen den Pflanzen flogen Nektarvögel hin und her, und trotz der Höhe bevölkerten Schmetterlinge die Luft. Blaue, rote, aber auch unscheinbarere braune Falter schwirrten in immer größeren Schwärmen um sie herum. Tom vergaß für einen Moment alle Sorgen. Erstaunt nahm er zur Kenntnis, dass er sich darüber freute, keinen Fotoapparat dabei zu haben, denn so konnte er sich völlig auf das Schauspiel konzentrieren, das sich um ihn herum abspielte. Als er einmal kurz stehen blieb, um sich einen der Vögel genauer anzusehen, spürte er, wie Andrea neben ihn trat und ihre Haut seinen Unterarm berührte. Sie zog ihren Arm nicht weg. Wärme durchströmte ihn bis in jede Faser seines Körpers. Er wandte sich zu ihr um und sah ihr ins Gesicht. Sie strahlte zum ersten Mal seit Tagen Freude aus. Einen Moment lang, der Tom wie eine Ewigkeit vorkam, schauten sich die beiden an. Tom konnte sich nicht von diesem Anblick lösen. Er liebte diese Frau. Und er würde alles dafür tun, dass sie unversehrt aus diesem Gebirge herauskam. Er wollte diese Frau beschützen und um sich wissen, zu jeder Zeit.
»Was denkst du gerade?«, fragte sie ihn leise.
Tom spürte das Blut in sein Gesicht steigen.
»Ich ...«, stotterte er. »Ich habe gerade gedacht, wie es wohl wäre, wenn wir einfach hier blieben ...«
Sie lächelte. Dann gab sie ihm einen schnellen Kuss auf die Wange, zog ihren Arm weg und eilte den anderen nach.
»Ich vermisse jetzt schon den Geruch von Autoabgasen und den Kohleöfen in Berlin«, rief sie nach hinten.
Er lachte und ging ihr nach. Seine Höhenbeschwerden waren fast vollständig verschwunden.
Der Wald wurde mit jedem Meter, den sie weiter abstiegen, höher, und immer wieder verschwand die Wolkendecke über ihnen, weil sie von einem dichten Blätterdach verdeckt wurde. Noch ein Stück weiter veränderte sich die Umgebung schlagartig. Bananenstauden tauchten auf, Felder wiesen auf menschliche Besiedlung hin und die ersten einzeln stehenden Hütten erinnerten Tom daran, dass hier Menschen lebten. Aber die sauber gefegten kleinen Höfe waren leer, als sie sie überquerten. Hühner liefen herum, hier und da ruhten Ziegen unter den Bäumen. Wieder hatte Tom das Gefühl, beobachtet zu werden. Er sah sich um, aber er konnte außer den Menschen, mit denen er unterwegs war, niemanden entdecken.
Sie marschierten nun über einen deutlich besseren Weg als bisher, kamen an weiteren Feldern vorbei, die verlassen dalagen. Und dann erreichten sie den See. Er schimmerte grünlich-blau und die dahinter liegenden Hänge spiegelten sich in der beinahe glatten Oberfläche. Zahllose Insekten huschten über das Wasser. Seine Ausmaße erschienen riesig und nahmen beinahe den gesamten Talkessel ein. Tom betrachtete die Insel in der Mitte des Sees. An ihrem Ufer standen Menschen, die ihnen entgegenblickten. Ebenso spärlich bekleidet wie ihr Empfangskomitee. Tom konnte ihre Mienen auf die Entfernung nicht erkennen. Aber er spürte die Anspannung, die von diesen Menschen ausging. Er machte sich die erste Begrüßung durch die Bayira-Frau noch einmal bewusst und ihm wurde klar: Sie waren hier alles andere als willkommen.
Am Festlandufer saßen die Balindi auf einer freien Fläche und betrachteten sie neugierig. Was war hier los? Andrea, die vor ihm ging, blieb stehen. Als Tom sie erreichte, griff sie nach seiner Hand.
»Ich habe so eine merkwürdige Stimmung noch nie erlebt«, flüsterte sie.
»Ich auch nicht. Diese Tiere sind anders als alle Gorillas, die ich jemals gesehen habe. Ich habe auch noch nie gelesen, dass sie sich so verhalten.«
»Ich habe davon schon gehört«, sagte Peter nun, der dicht neben ihnen stand. »Aber ich kann es mir trotzdem nicht erklären. Ich sehe, dass dort Tiere sitzen, die normalerweise so scheu sind, dass man sie nur von weitem hört. Ich sehe ein Tal, das ich bisher nur aus den Geschichten meiner Großmutter kannte. Ich sehe Menschen, die hier offenbar in vollkommener Harmonie mit ihrer Umgebung leben. Und ich spüre eine Gefahr, die von all dem für uns ausgeht.«
Beklommen standen die drei eine Weile am Ufer des Sees, musterten die Menschen auf der Insel, ließen die Eindrücke auf sich wirken, so wie es vermutlich auch die Bayira drüben taten.
»Sie fühlen sich von uns bedroht«, murmelte Tom so leise, dass nur Andrea ihn verstand.
»Was sollten wir ihnen denn tun?«
Tom erinnerte sich an seine ursprüngliche Idee, die ihn zum zweiten Mal in dieses Gebirge gelockt hatte. Nun hatte er das Tal gefunden. Er hatte sein Ziel erreicht. Doch um eine Reportage zu machen, würde er noch einmal mit einer neuen Kamera zurückkommen müssen, dachte er, spürte dabei jedoch ein großes Unbehagen.
»Wenn wir davon erzählen, was wir hier gesehen haben, dann werden sich Touristen auf das Tal stürzen«, sagte er. »Und das ist das Ende dieser Harmonie.«
Andrea sah ihn bestürzt an. »Dann dürften sie uns nie wieder gehen lassen ...«
Tom hockte sich an den Uferrand und hielt seine Hand ins Wasser. Er hatte mit eiskaltem Wasser gerechnet, so wie in allen Bächen und Seen hier oben im Gebirge. Aber dieser See war warm. Lauwarm. Er tauchte die Hand erneut unter. Das Wasser war seidig und verlockte geradezu, ein Bad darin zu nehmen. Er wusste, dass das mit Sicherheit der denkbar ungünstigste Zeitpunkt gewesen wäre, sich auszuziehen und in den See zu springen.
Die drei Bayira waren in der Zwischenzeit in ein langes schmales Boot gestiegen, das am Ufer gelegen hatten, und setzten über das Wasser. Sie wurden auf der Insel erwartet und beim Verlassen des Bootes sogleich in eine längere Diskussion verwickelt. Einer der Männer auf der Insel brachte sich besonders vehement in die Auseinandersetzung ein, und Tom schwante nichts Gutes, als er ihn beobachtete.
»Sie scheinen dort drüben einen Schamanen zu haben, der uns nicht allzu wohlgesonnen ist.« Peter sah sorgenvoll aus.
»Wie kommst du darauf, dass es ein Schamane ist?«, wollte Andrea wissen.
»Die Heftigkeit, in der er spricht, das Auftreten, sein gesamter Habitus ... Das kenne ich nur von Schamanen. Die Bayira sind eher ein gelassenes und ruhiges Volk.«
In diesem Moment traten weitere Bayira aus dem dichten Wald hinter ihnen heraus, etwa hundertfünfzig Meter von ihnen entfernt. Zwei Männer mit mehreren Jungen. Die beiden Erwachsenen schauten nur einmal kurz zu Tom und seiner Gruppe herüber, begannen danach jedoch sofort, sich den Menschen auf der Insel bemerkbar zu machen. Sofort sprangen drei Männer in Boote und paddelten mit schnellen Schlägen von der Insel über das Wasser. Die Jungen am Ufer sahen mit einer Mischung aus Neugier und Verunsicherung zu den Europäern herüber. Einer löste sich aus dem Trupp und ging langsam auf sie zu, aber schon nach ein paar Metern war einer der Erwachsenen bei ihm und hielt ihn zurück. Tom und die anderen wurden jetzt Zeugen eines leise begonnenen, dann jedoch immer lauter geführten Streits, an dessen Ende der Junge sich aus dem Griff und dem Willen des Älteren befreien konnte und nun mit sicheren Schritten auf sie zukam.
Drei Meter vor Tom blieb er stehen. Er musterte ihn von oben bis unten, kam aber nicht näher heran. Andrea und Peter waren neben Tom getreten, und gemeinsam standen sie dem Jungen gegenüber. Schließlich war es der Junge, der seine Hand zum Gruß hob.
»Wabuchire. Nyiri Kambere. Yiriwahi? «
Tom hob die Hand ebenfalls und bemerkte, dass ihm der Junge kaum bis zur Brust reichte. Hitimana gesellte sich zu ihnen.
»Er heißt Kambere und er begrüßt uns«, sagte er.
»Hallo Kambere«, sagte er. »Ich bin Tom.« Er stellte auch seine Begleiter vor.
Hitimana übersetzte alles zügig.
»Was wollt ihr in diesem Tal?«, fragte Kambere.
»Wir sind auf der Flucht und brauchen Hilfe«, sagte Tom.
Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie Peter und Andrea etwas nach hinten traten, um ihm deutlich zu machen, dass er das Gespräch führen sollte.
»Weshalb seid ihr in unser Tal gekommen? Ihr dürft nicht hier sein.«
»Du und deine Familie – ihr lebt doch auch hier.«
»Das ist unsere Aufgabe. Wir schützen das Tal.«
»Und ihr lebt mit den Berggorillas zusammen.«
»Mit was?«, fragte Kambere verwundert.
»Na, die Tiere dort drüben.« Tom wies mit der Hand auf die immer noch am Ufer sitzenden Berggorillas. Kambere wandte sich um, blickte in die gewiesene Richtung und begann zu lachen.
»Das sind doch keine Tiere«, sagte er immer noch lachend. »Das sind die Balindi. Sie leben schon seit Ewigkeiten hier. Ohne sie gäbe es das Tal nicht. Und ohne das Tal gibt es die Balindi nicht.«
»Beschützt ihr sie?«
»Nein, sie beschützen uns. Und das Tal.«
Wieder sahen sich die beiden lange an, ohne ein Wort zu sprechen. Der Mann, mit dem Kambere kurz zuvor gestritten hatte, kam nun auf die beiden zu und stellte sich hinter Kambere. Gerade wollte Tom fragen, ob sie Hilfe erwarten könnten, als Kambere in Hitimanas Richtung weitersprach. Dieser fragte kurz zurück, und Kambere nickte auffordernd. Also fuhr der Junge an Tom gewandt fort:
»Kambere sagt, dein Bruder war bei ihm. Er hat ihm mitgeteilt, dass ihr Hilfe braucht.«
Tom fiel die Kinnlade herunter. Woher wusste der Junge von Jens?
Kambere sprach weiter: »Er war gestern bei mir. Was macht er hier? Beschützt er dich?«
»Ich weiß es nicht genau. Ich habe ihn hier zum ersten Mal seit seinem Tod getroffen.«
»Er schien traurig zu sein. Er findet keine Ruhe. Was ist mit ihm geschehen? Und was ist euch passiert?«
Tom schluckte. Sollte er das jetzt erzählen? Wie viel Zeit hatten sie? Ein Kloß setzte sich in seinem Hals fest.
Dann begann er zu berichten. Anfangs kam Hitimana mit dem Übersetzen noch gut mit. Je mehr Tom erzählte, desto schwerer fiel es dem Jungen aber, den Anschluss zu behalten. Kambere legte ihm die Hand auf die Schulter und nickte beruhigend mit dem Kopf – schon gut, sollte das heißen, ich weiß, was er sagt.
Tom schilderte ausführlich, was er in den letzten Tagen erlebt hatte. Er berichtete von dem ersten Zusammentreffen mit Jens auf der anderen Seite des Gebirges. Von dem Nebel, von den immer wiederkehrenden Begegnungen, aber auch von der Höhenkrankheit. Er erzählte von der Entführung und den Rebellen, von der Flucht und der Überquerung des Passes. Dabei betonte er, dass sie nicht wusste, was die Rebellen von ihnen wollten. Die Lawine erwähnte er genauso wie die beängstigenden Wesen mit den orangen Augen, die er am Tag zuvor gesehen hatte. Auch die Überraschung, mit den Balindi konfrontiert zu sein, die sich auf so besondere Weise verhielten, sprach er an. Tom berichtete von den Kindersoldaten in der Rebellenarmee und davon, wie Mugiraneza und Hitimana selbst geflohen und zu ihnen gestoßen waren. Und immer wieder kam er auf die ungewöhnlichen Begegnungen mit seinem Bruder zu sprechen. Peter und Andrea standen neben ihm, während er die Ereignisse zusammenfasste, und sagten kein Wort. Kambere hörte aufmerksam zu, unterbrach ihn nicht. Als Tom fertig war, nickte er kurz, fixierte ihn und fragte erneut:
»Was ist mit deinem Bruder geschehen?«
»Was meinst du?«
»Dein Bruder ist hier, bei dir. Und er begleitet dich nicht nur, weil er dich schützt. Der Geist eines Verstorbenen bleibt immer nur so lange unter uns, bis er sich eines Tages in eine höhere Form wandelt. Aber das hat dein Bruder nicht getan. Was hält ihn davon ab?«
Tom dachte nach. Was wollte dieser Junge von ihm? War an dem, was er sagte, etwas Wahres dran? Also erzählte Tom, was er von seinem Bruder wusste. Dass er als Kind gestorben war, während eines Urlaubs in Schweden. Er war in einem Fluss ertrunken. Kambere nickte erneut, als Tom fertig war, obwohl Hitimana auch diesmal nur einen Bruchteil übersetzt hatte. Allerdings hatte Tom jetzt den Eindruck, dass Kambere haarscharf an ihm vorbeisah, als wäre da noch jemand. Er blickte sich um und entdeckte lediglich Peter, Andrea und die beiden Jungs schräg hinter sich.
»Du trägst eine schwere Last mit dir herum. Was bedrückt dich so?« Kambere hörte nicht auf zu fragen.
Tom dachte intuitiv an seinen Vater. Wie ging es ihm? Er wäre jetzt so gerne bei ihm.
»Dein Vater – er ist krank.«
»Ja, er wird sterben. Und ich weiß nicht, ob ich ihn noch einmal wiedersehen werde.«
Kambere lächelte kurz, dann sagte er: »Du wirst ihn noch einmal sehen, das ist sicher.«
»Woher weißt du das?«, fragte Tom irritiert.
»Dein Bruder hat es mir gesagt.«
Tom schloss die Augen. Was um alles in der Welt geschah hier? Dieser Junge machte ihm Angst und er machte ihn neugierig. Er wusste nicht mehr, was er glauben sollte. Als er die Augen wieder öffnete, unterhielt sich Kambere mit dem Mann, der bei ihm stand. Wieder stritten die beiden leise miteinander. Schließlich schien sich Kambere durchzusetzen.
»Kommt mit uns auf die Insel. Dort könnt ihr ausruhen und etwas essen. Ihr seht aus, als hättet ihr seit Tagen nichts gegessen«, sagte der Junge.
Er wandte sich um und ging auf die Boote zu.