04_Zunehmender_Mond.tif

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Im Tal, am Morgen des 19. Juni

Die Nacht war so schnell über sie hereingebrochen, wie der Schneesturm geendet hatte. Peter hatte eine kleine geschützte Höhle unterhalb der Schneegrenze entdeckt, in der sie sich ausruhen konnten. Aus einem Bach, der neben dem Eingang zu ihrem Unterschlupf den Hang hinabfloss, konnten sie Wasser schöpfen und ihren Durst löschen. Tom fiel bald in einen flachen, unruhigen Schlaf, aus dem er mehrfach aufschreckte, weil ihm in kurzen Traumbildern immer wieder sein Bruder begegnete. Erst gegen Morgen wurde sein Schlaf friedlicher, sodass auch Andrea etwas Ruhe fand. Peter hingegen machte kein Auge zu. Er ahnte, wo sie angelangt waren.

Die Sonne ging auf, als sich Tom schwerfällig von seinem dürftigen Lager erhob. In einem lang gestreckten Talkessel vor ihm waberte der Nebel. Felsen umgaben ihn, dorniges Gestrüpp wucherte dazwischen. Nur an einigen geschützten Stellen lag noch der eine oder andere Flecken Schnee. Dieser Eindruck war alles andere als einladend, sodass sich Tom schon wieder in die Trockenheit der Höhle zurückziehen wollte, als er in den Nebelschwaden mehrere Gestalten zwischen spärlichem Bewuchs bemerkte.

Er konnte nicht genau erkennen, was da saß, und er wusste auch nicht, ob diese Gestalten real waren oder Halluzinationen entsprangen. Er konnte noch nicht einmal die genaue Entfernung abschätzen, da der Nebel immer wieder die Sicht versperrte. Vier, fünf, vielleicht mehr dieser reglos im Dunst hockenden Gestalten zählte er, bevor er sich langsam wieder in die Höhle zurückzog. Ihn schauderte.

»Du hast sie also auch gesehen?«, fragte Peter.

Tom erschrak. Peter saß ihm gegenüber an der anderen Höhlenwand und sah ihn an.

»Was ist das da draußen?«, entgegnete Tom.

»Tja, wenn ich das so genau wüsste.« Peter wirkte ernsthaft und ratlos. »Ich kenne mich mit der Kultur meiner Ahnen nicht gut aus. Aber es gibt da ein paar alte Geschichten, die mir meine Großmutter oft erzählt hat.«

Tom machte eine ebenso zögernde wie auffordernde Handbewegung und schwieg.

»Von Berggeistern, den Mondbergen, von verborgenen Schätzen und Tälern, von den Ahnen. Über gute und böse Geister gibt es unzählige Legenden. Heute kann niemand mehr genau sagen, welche dieser Geschichten schon vor Jahrhunderten erzählt wurden und welche die Erzähler in ihrer blühenden Fantasie erst viel später dazuerfunden haben. Vor langer Zeit, lange bevor die Weißen nach Afrika kamen und uns das Land, die Traditionen und die Ehre nahmen, in einer Zeit, als die Menschen hier noch Respekt vor den Geistern hatten, da sollen diese unmittelbar unter den Menschen gelebt haben. Sie mussten sich nicht verstecken, sie brauchten keinen Platz, an den sie sich zurückzogen, weil sie ungestört bei uns Lebenden wohnen konnten. Sie lebten in Harmonie mit den Menschen, waren für sie da, so wie die Menschen für die Geister lebten. Die Trennung zwischen der Welt der Menschen und der Welt der Geister war fließend. Es gab keine Angst vor dem Tod, weil ja alle ständig erlebten, wie die Ahnen unter uns blieben.

Doch diese Tage sind vorbei. Heute werden die Geister der Mondberge verleugnet, sie werden verdrängt und durch neue Götzen ersetzt. Mobiltelefone und schicke Klamotten sind den meisten Menschen in Uganda heute wichtiger als ihre Traditionen. Deshalb haben sich die Geister angeblich an einen Platz zurückgezogen, an dem sie ihren Frieden haben: in den Ruwenzori, in das größte und unzugänglichste Bergmassiv Afrikas. Aus diesem Grund ist es den Menschen verboten, das Herz des Ruwenzori zu betreten. Wer es dennoch tut, wer den Frevel begeht, die Geister hier zu stören, der wird dafür schwer gestraft. Es gibt nur einen Ausweg: die bedingungslose Akzeptanz der Geister und ihrer Welt. Wer diesen Hort der Geister betritt, muss für immer bei ihnen bleiben. So erzählen es die alten Geschichten.«

Tom hatte Peters Worten fasziniert gelauscht. Jeder Silbe hatte er seine volle Aufmerksamkeit geschenkt, wie er erst jetzt an seiner anhaltenden Versunkenheit bemerkte. Eine Gänsehaut überzog seinen gesamten Körper.

»Was hat das mit uns und denen dort draußen zu tun?«

»Du weißt sehr gut, was ich damit sagen will.«

Peter sah ihn ernsthaft und durchdringend an.

»Wir sind im Herzen des Ruwenzori. Wir sind an dem Ort angelangt, von dem alle Energie ausgeht.«

Andrea war inzwischen erwacht, hatte den Gesprächsfaden aufgenommen und erinnerte sich sofort an Peters frühere Mahnungen.

»Heißt das ...«, warf sie ängstlich ein, »... dass wir diesen Ort nie wieder verlassen können?«

»Ich weiß nicht, ob die alten Geschichten stimmen oder nicht«, gab Peter zurück. »Niemand hat jemals davon berichtet, diesen Ort betreten zu haben. Entweder ist noch niemand hier gewesen oder keiner ist je zurückgekehrt.«

»Und wer ist das da draußen deiner Meinung nach?«, wollte Tom wissen.

»Ich kann auch nur Vermutungen anstellen. Aber es könnten die Berggeister sein, die uns in Empfang nehmen.«

»Gut«, sagte Tom und erhob sich mit einer seltsam entschlossenen Ergebenheit. »Dann sollten wir sie wohl nicht warten lassen. Wir haben ja nichts mehr zu verlieren.« Er wollte nach draußen gehen, aber ein Schwindelgefühl zwang ihn sogleich auf den Boden zurück. Andrea war sofort bei ihm und verhinderte, dass er mit dem Kopf auf einem Felsen aufschlug.

»Du solltest das vielleicht etwas langsamer angehen.«

»Au Mann!«, grummelte Tom. Ihm war tatsächlich kurz schwarz vor Augen geworden.

Peter band sein spärliches Gepäck langsam zusammen. »Dann lasst uns vorsichtig nach draußen gehen und nachsehen, was uns erwartet.«

Tom nickte, auch wenn ihm jeder Knochen wehtat und auf der Haut das Gefühl von tausend Nadelstichen zurückgekehrt war. Sein Puls war weiterhin sehr hoch und die Tatsache, dass er weder Hunger oder Appetit noch Durst hatte, stimmte ihn nachdenklich. Zugleich fühlte er sich leicht, so als hätte er eine große Last abgeworfen und alles, was bislang wichtig gewesen war, hinter sich gelassen.

Andrea betrachtete die beiden Männer. Sie hätte so gern mit Peter über ihren Vater gesprochen. Aber dies war nicht die Zeit dafür. Sie strich ihre Hose glatt, fuhr sich einmal unsicher durch das Haar. Sie scheute davor zurück, die Höhle zu verlassen. Schließlich atmete sie tief durch, schloss kurz die Augen und richtete dann den Blick gespannt auf den Ausgang der Höhle, durch den soeben Tom und Peter, der ihn stützte, traten.

Andrea folgte ihnen. Die Gestalten hockten in einem weiten Halbkreis um den Eingang der Höhle. Ihre Augen hatten sie auf die erschöpften Menschen gerichtet, die vor ihnen auftauchten. Obwohl sie sie ganz offensichtlich bemerkt hatten, regten sie sich nicht, gaben keinen Laut von sich, sondern blieben in ihrer gespenstisch wirkenden Haltung sitzen. Sie sahen die Menschen mit ihren kleinen Augen an. Ihre Köpfe ruhten auf massigen, schwarz behaarten Körpern. Sie stützten sich auf langen Armen ab, hatten die Beine angewinkelt und strahlten eine unendliche Ruhe aus.

Berggorillas. Sie wirkten auf Tom anders als die, die er ein Jahr zuvor gesehen hatte. Sie hatten keine Scheu vor den Menschen, sie schienen sie regelrecht zu erwarten. Ratlos, ebenso unsicher wie neugierig, musterte er die etwa acht bis zehn großen Tiere.

In diesem Moment bewegten sich zwei der Gestalten. Sie hatten seitlich neben dem Eingang der Höhle gesessen, sodass sie vor den Blicken der Heraustretenden zunächst verborgen gewesen waren. Sie erhoben sich, richteten sich hoch auf, viel zierlicher als die anderen, setzten langsam einen Fuß vor den anderen und gingen auf Tom, Peter und Andrea zu. Einer der beiden hob zaghaft die Hand zum Gruß.

»Hitimana! Mugiraneza!«, rief Andrea. Sie hatte die Jungen erkannt und eilte ihnen entgegen. »Ihr wart das also gestern hinter uns.« Als sie die Jungen erreichte, zuckte sie erschrocken zurück. »Seid ihr allein?«

Hitimana nickte.

»Wo sind die anderen? Paul? Innocent? Die anderen Rebellen?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete der Junge. »Nach der Lawine habe ich sie nicht mehr gesehen.«

»Ihr habt vermutlich nichts zu essen dabei, nicht wahr?«, fragte Andrea Hitimana. Der schüttelte den Kopf.

»Was machen wir nun?«, fragte Tom, der die Augen nicht von den mächtigen Tieren abwenden konnte.

»Wir werden zusammen in das Tal runtersteigen und sehen, was uns dort erwartet«, antwortete Peter.

»Erwartet werden wir doch schon«, flüsterte Tom. Die Berggorillas saßen weiterhin regungslos um sie herum und beobachteten sie.

»Wisst ihr, was die hier tun?«, fragte Andrea Hitimana. »Kennt ihr euch aus mit Berggorillas?«

Hitimana sah erst die Tiere, danach Andrea lange an, bevor er den Mund zu einer Antwort öffnete.

»Die Balindi schützen das Tal vor Eindringlingen«, sagte er.

»Die Balindi?«, fragte Tom. Hitimana guckte ihn verständnislos an.

»Dann werden sie uns nicht passieren lassen?«, sprach Tom weiter.

»Wenn sie euch nicht durchlassen wollten, dann wärt ihr gar nicht hier.«

»Was würden wir denn sonst tun?«

»Gar nichts. Nie wieder.«

Nach diesen Worten löste sich Hitimana aus der Gruppe, nahm Andrea an die Hand und zog sie mit sich auf einen der Berggorillas zu. Andrea sträubte sich zunächst, blickte sich furchtsam nach Peter und Tom um, aber Peter nickte ihr auffordernd zu.

Andrea folgte einem dreizehnjährigen Jungen, der sie ein paar Tage zuvor noch mit einer Waffe bedroht hatte, auf ein ausgewachse-nes Berggorillamännchen zu, dass sitzend nur wenig kleiner war als sie stehend. Vor dem Silberrücken blieben die beiden Hand in Hand stehen.

»Das ist Ruhondeza«, sagte Hitimana. Dabei zeigte er ernst auf das riesige Tier vor sich.

»Woher weißt du das?«, hauchte Andrea.

Hitimana wandte ihr den Kopf zu, betrachtete sie einen Moment mit einem Gesichtsausdruck, der völliges Unverständnis über diese Frage ausdrückte. Als Andrea jedoch ihre Frage nicht wiederholte, zuckte Hitimana mit den Schultern und nannte Andrea die Namen aller Berggorillas um sie herum.

»Was passiert hier gerade?«, fragte Tom Peter flüsternd.

»Ich kann es dir nicht sagen«, antwortete der Guide leise. »Das sind keine normalen Gorillas.«

»Sondern?« Tom sah die großen Tiere vor sich ehrfurchtsvoll an.

»Ich meine: keine wilden Tiere, wie du sie vielleicht kennst.«

Tom schaute verzweifelt fragend zu Peter hinüber.

»Diese Berggorillas sind anders als alle Tiere, die ich bisher gesehen habe«, fuhr Peter fort. »Wir sind hier mitten im Ruwenzori. An diesen Ort kommen niemals Touristen. Hier gibt es keine Menschen, es sei denn, sie jagen. Daher müssten die Tiere eigentlich längst vor uns geflohen sein. Wir hätten sie noch nicht einmal sehen dürfen.«

»Was bedeutet das?«

»Ich weiß es nicht. Mir ist das unheimlich.«

Nach und nach erhoben sich nun die Berggorillas und marschierten auf allen vieren über den bewaldeten Hang hinab. Die Menschen folgten ihnen in kurzem Abstand.

Die Luft wurde klarer. Über ihnen lag immer noch eine dichte Wolkenschicht, aber unter ihnen breitete sich ein wunderschönes Tal aus. Tom verschlug es für einen Moment den Atem. Er hatte es gefunden – das geheimnisvolle Tal, von dem ihm die Alte erzählt hatte. Er hatte den Glauben daran schon fast verloren, zeitweise war ihm dieses Ziel sogar abhanden gekommen. Aber jetzt lag das Tal tatsächlich vor ihm. Ausgerechnet jetzt. In Begleitung der ungewöhnlichen Tiere.