05_Vollmond.tif

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Im Tal, während der Feier

Tom hatte sich von den anderen entfernt, als sich die Feier im Dorf seinem Höhepunkt näherte, und wartete wie verabredet am Ufer. Mbusa bewegte sich lautlos durch die Dunkelheit und stand plötzlich vor ihm. Er nickte Tom nur kurz zu, dann eilte er schon weiter zu einem der Boote, sprang hinein und stieß es ab, als auch Tom eingestiegen war. Sie paddelten mit schnellen Schlägen zum anderen Ufer, versteckten dort das Boot zwischen den Büschen und gingen zu Fuß weiter. Niemand schien sie bemerkt zu haben. Nur die Balindi saßen beinahe regungslos am Wasser und beobachteten sie aufmerksam.

Schweigend stapften sie durch das dichte Gebüsch einen Hang hinauf, bis sie zu einer kleinen Lichtung kamen, die an einer Seite von Felsen begrenzt war. Der Himmel war wolkenlos, während der Mond über ihnen die Umgebung zu einer gespenstisch wirkenden Szenerie erhellte. Auf dem See lag der Nebel so dicht, dass das Wasser nicht zu erkennen war. Im ganzen Tal waren die fröhlich feiernden Menschen der Insel zu hören. Alles schien aus einer anderen Welt zu entspringen, und zum ersten Mal konnte Tom die sich schwarz gegen den Himmel abzeichnenden Berge erkennen, deren schneebedeckte Spitzen hell im Mondlicht erstrahlten.

Sie setzten sich unter einem Felsüberhang auf einen umgestürzten Baumstamm, und Mbusa holte mit langsamen Bewegungen einige Kräuter aus einem Stoffbeutel, breitete sie auf einem flachen Stein aus und entzündete ein kleines Feuer. Tom wurde bewusst, wie unheimlich die Situation auf ihn wirkte.

Gerade wollte er Mbusa fragen, was genau er vorhatte, als er eine Bewegung am Rande der Lichtung wahrnahm. Zwei Balindi kamen langsam zwischen den Bäumen hervor, sahen zu ihnen herüber und ließen sich im hohen Gras nieder. Tom war fasziniert. Die Tiere waren majestätisch und wirkten zugleich unendlich beruhigend auf ihn. Er atmete tief durch und entspannte seine müden Muskeln. Er schloss für einen Moment die Augen, um dieses Gefühl ganz in sich aufzusaugen.

Er spürte Jens’ Anwesenheit, bevor er ihn sehen konnte. Tom wusste, dass sein Bruder da war. Er öffnete die Augen, um sich umzusehen. Außer Mbusa und den beiden Gorillas konnte er nichts erkennen. Nach einer Weile bemerkte er feinen Nebel, der aus dem Wald zu ihnen herüber strich. Der anfängliche Hauch wurde allmählich immer dichter. An einer Stelle des Waldes sammelte er sich, bis er sich schließlich zu einer vage erkennbaren Gestalt verfestigte. Da war er. Jens blickte traurig zu Tom hinüber.

»Mbusa«, sagte Tom. »Mein Bruder ist da.«

»Er ist immer da.«

»Woher weißt du das?«

»Kambere hat es mir gesagt. Der Junge nimmt viel mehr wahr, als ihm lieb ist. Er hat gesehen, dass dein Bruder immer in deiner Nähe ist.«

»Ist das ein gutes Zeichen?«

»Er ist schon viel zu lange in seinem jetzigen Zustand. Er will sich wandeln, um an dem Kreislauf des ewigen Lebens teilzuhaben.«

»Wird er dann verschwinden?«

»Er wird weiterhin für dich da sein, jedoch wird er in anderer Gestalt durch die Welt gehen. Aber noch ist er nicht soweit.«

»Jens kann nicht loslassen?«

»Ihm muss etwas widerfahren sein, dass heute noch seine Wandlung verhindert.«

»Kann ich ihm helfen?«

»Ja, das wirst du tun.« Mbusa sah Tom streng an »Du musst dich erinnern. Nur dann kannst du ihn verstehen.«

Mbusa hatte auf dem Feuer eine Art Tee gekocht, den er Tom nun anbot. Auch er selbst nahm einen kleinen Schluck davon.

»Trink das. Es wird dir helfen, dich zu entspannen. Danach wirst du die Dämpfe der Amaryllis einatmen. Ich habe unsere Kräuterkundigen im Dorf ausgefragt. Die Dämpfe der getrockneten Blüten der Amaryllis können die Vergangenheit zurückbringen.«

Tom trank den würzig schmeckenden Tee und spürte die Entspannung in jeder Faser seines Körpers. Zugleich wurde er von einer inneren Zufriedenheit durchdrungen, die seine Angst vertrieb und ihn neugierig auf das machte, was ihm bevorstand.

Mbusa nahm eine Hand voll von den Blüten, die vor ihnen auf dem Stein lagen, zerrieb sie zwischen den Händen und streute sie langsam in das Feuer. Sofort stieg Tom ein erst beißender, dann aromatisch werdender Duft in die Nase.

Als der Rauch sich verzogen hatte, blieb ein Gefühl der Betäubung zurück, das Tom wegdämmern ließ. Obwohl er die Augen weiterhin offen hielt, schoben sich bald Bilder in sein Sichtfeld, die nichts mit dem Ort zu tun hatten, an dem er sich gerade befand. Eindrücke von Situationen, die er nur wenige Stunden zuvor erlebt hatte, wurden abgelöst von solchen aus den ersten Tagen der Wanderung. Er saß mit seinen Eltern zusammen, erinnerte sich an den Moment, als sein Vater ihm zum ersten Mal von seiner Krankheit erzählte, an die Trennung von seiner letzten Freundin. Er hatte lange nicht mehr an diese Situationen gedacht, hatte sie weggeschoben, weil sie ihm unangenehm waren. Immer weiter reiste Tom in seiner Vergangenheit zurück.

Und dann war da mit einem Mal Schnee. Der Winter in Schweden. Tom war sechzehn Jahre alt. Sein Vater redete auf ihn ein. Ununterbrochen.

»Woher hast du bloß diese abstrusen Ideen?«, hörte Tom seinen Vater fragen. Er fühlte sich so klein, so elend und völlig missverstanden.

»Was ist so abstrus daran, Umweltaktivist bei Greenpeace zu werden?«, fragte er.

»Umweltaktivist. Hirngespinste! Du bist alt genug, um zu wissen, wie naiv das ist, was du da sagst.«

»Das ist aber nun mal das, was ich tun möchte ...«

»Komm auf den Teppich. Triff endlich eine realistische Berufswahl. So wie dein Bruder. Obwohl Jens jünger ist als du, ist er viel erwachsener. Er hat sich entschieden. Er weiß, was er tun will. Und seine Entscheidung hat Hand und Fuß. Damit wird er eines Tages viel Geld verdienen.«

Tom lachte zynisch. »Jens will Fotograf werden. Wie soll er damit Geld verdienen?«

»Alle großen und berühmten Fotografen haben einmal klein angefangen. Und sieh dir doch an, wie gut er jetzt schon fotografiert. Du hingegen fängst mit tausend Dingen an, hältst aber nichts davon bis zum Ende durch. Du hast angefangen, Schwedisch zu lernen, hast aber nach einem Jahr wieder aufgehört. So geht das bei dir schon immer. Du musst endlich lernen, beständig zu sein.«

Tom sah sich selber, wie er wütend durch den viel zu warmen Raum der Holzhütte rannte, seine Jacke vom Haken rupfte, die Tür aufriss, draußen von der eisigen Kälte empfangen wurde und in den Schnee hinausstürmte. Er wollte diese Diskussionen mit seinem Vater nicht mehr führen.

Tom hörte durch die geschlossene Tür den Streit der Eltern. Er fühlte sich schuldig daran, denn sie stritten über ihn. Ob es richtig gewesen war, ihn mit in den Urlaub zu nehmen, oder ob er Weihnachten zuhause bei den Großeltern hätte verbringen sollen. Sein Vater hielt nichts davon, ihn zu zwingen, aber die Mutter hatte noch einmal als ganze Familie Weihnachten feiern wollen. Ein letztes Mal, bevor Tom zu alt dafür wurde.

Tom stapfte durch den verharschten Schnee auf die Straße zu. Hinter sich hörte er Rufe. Jens rannte ihm nach. Gemeinsam liefen sie die vereiste Schotterstraße entlang, immer weiter durch den Wald, bis sie zu der Holzbrücke kamen, die sich über einen zugefrorenen Fluss spannte. Tom schlitterte den Abhang hinunter, rutschte aus und überschlug sich dabei fast. Dann war er unten. Er tastete sich langsam auf das Eis vor. Der Fluss war in der Zeit der klirrenden Kälte auf der gesamten Breite zugefroren. Zehn Meter waren das sicher. Danach hatte es geschneit, aber auf der Eisfläche lag kein Schnee. Der Wind hatte ihn weggetrieben. Tom konnte das Wasser unten hindurchströmen sehen. Er drehte sich um und entdeckte seinen Bruder oben auf der Brücke.

Er lockte ihn. Er prahlte. Er nannte Jens einen Angsthasen. Ein Muttersöhnchen, das sich nichts traut. Jens zögerte eine Weile, kaute auf der Unterlippe, sprang schließlich den steilen Abhang hinab. Auf das Eis. Zunächst war er noch vorsichtig, doch dann ließ er die Hemmungen hinter sich, wurde regelrecht übermütig, tollte über das Eis und lief immer weiter in die Mitte des Flusses. Tom beklatschte ihn, rannte ihm nach. Um ihn zu ärgern nahm er ihm den Fotoapparat weg, den Jens immer bei sich hatte, und machte verwackelte Fotos von seinem Bruder. Wie zwei junge Hunde tobten sie über die glatte Fläche. Tom verschoss den ganzen Film.

Als das Eis brach, war Tom nur zwei Meter von seinem Bruder entfernt. Zwei Meter, die über Leben und Tod entschieden. Ein zähes Knirschen, ein Knacken in der Kälte. Jens verlor das Gleichgewicht, taumelte, rutschte ab, fiel in das eiskalte Wasser. Auch Tom brach durch das Eis, versank erst mit einem Bein, dann auch mit dem anderen. Er spürte den Sog des Flusses. Das Wasser schlug kurz über seinem Kopf zusammen. Die Kälte lähmte seinen Körper. Im letzten Moment erwischte er mit klammen Fingern die messerscharfen Kanten des Eises, zog sich daran hoch, obwohl das höllisch schmerzte, kämpfte sich durch das immer wieder einbrechende Eis in Richtung Ufer. Dann sah er sich panisch um.

Er entdeckte Jens, seine Hände, seinen Kopf, seine Augen. Er schien zu schreien, doch Tom hörte keinen Ton aus dem Mund seines Bruders. Die Eisschollen, die Toms Rettungsweg markierten, wurden von der Strömung des Flusses unter die Eisfläche geschoben. Dahinter strampelte Jens um sein Leben. Tom sprang auf, rannte ein paar Meter am Ufer entlang, bog wieder auf das Eis ab, schob sich vorsichtig tastend auf Jens zu. Erst verschwand der blonde Schopf seines Bruders, dann eine Hand, danach die andere. Jens wurde unter das Eis gezogen. Der gewaltigen Kraft der Strömung hatte sein Bruder nichts entgegenzusetzen.

Das Eis war sonderbar klar. Tom konnte beinahe wie durch Glas das Wasser des Flusses sehen. Der Anblick war wunderschön und bestialisch zugleich. Denn unter dem Eis sah er Jens. Mit dem Gesicht nach oben trieb er unter der Eisfläche auf Tom zu, war unter ihm, bewegte den Mund, aus dem Luftblasen quollen, wurde weitergetragen. Tom schrie. Er folgte seinem Bruder, der immer weiter den Fluss hinabtrieb. Er versuchte verzweifelt, das Eis zu durchbrechen. Doch was eine Minute vorher von allein geschehen war, gelang ihm an dieser Stelle nicht mehr.

Die nasse, schwere Kleidung zog Jens nach unten. Die Strömung nahm zu. Er trieb schneller weiter. Tom begann zu laufen. Er wünschte sich, selbst erneut einzubrechen, bei seinem Bruder zu sein, ihn rauszuholen aus der eisigen Hölle. Er rutschte, schlitterte, fiel, raffte sich wieder auf. Eine niedrige Brücke versperrte ihm den Weg. Er musste an der Böschung hinaufklettern, rannte auf die andere Seite, glitt auf der spiegelglatten Brücke einmal, zweimal aus, rutschte das Ufer auf der anderen Seite der Brücke wieder hinunter. Er rannte und rannte. Doch er fand ihn nicht mehr. Jens war weg. Tom schrie, doch kein Ton verließ seinen Mund.

Später – er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war – saß er an der Böschung des Flusses. Ein Mann stand neben ihm, sprach ihn an, zog ihn hoch, verfrachtete ihn in ein Auto, drehte die Heizung bis zum Anschlag auf, raste über die weiße Straße, sprach ununterbrochen mit ihm. Sie kamen zu einem Haus, das aussah wie die meisten Häuser der Gegend. Aus Holz gebaut, gelb verschalt, weiße Umrandungen. Zwei Scheunen daneben, rot mit weißen Kanten. Die Tür öffnete sich, der Mann zerrte an ihm, zog ihn, trug ihn fast zum Haus.

Ein Sofa. Eine Frau. Sie zogen ihm die nassen Kleider vom Leib, wickelten ihn in Decken, flößten ihm heißen Tee ein. Der Mann telefonierte. Die Frau redete ohne Unterlass mit ihm. Sobald er die Augen schloss, sich in die Dunkelheit retten wollte, rüttelten sie ihn, hielten ihn wach, taten alles, damit er nicht wegdämmerte. Tom spürte nichts. Gar nichts. Er wusste, dass er die Schuld trug. Er hatte seinen Bruder in den Tod getrieben. Er hatte Jens so lange geärgert, bis er auf das Eis gesprungen war. Mit seinen steif gefrorenen Händen umklammerte er den Fotoapparat seines Bruders. Er gab ihn nicht wieder her.

Später kamen andere Menschen. Ein Arzt. Er untersuchte Tom, stellte ihm viele Fragen. Doch Tom verstand ihn nicht, reagierte nicht, sagte nichts. Er war leer. Nicht sein Körper war erfroren, sein Herz war zu Eis geworden. Es schlug, es pumpte Blut in alle Körperteile. Aber Tom spürte nichts.

Seine Eltern waren plötzlich da. Seine Mutter weinte. Sie streichelte ihn, flüsterte ihm seinen Kosenamen zu, fragte nach Jens. Sein Vater wirkte alt. Er stand verbittert schweigend neben dem Sofa und sagte keinen Ton. Tom hörte ihn, in seinem Kopf. Deutlich und klar. Du hast versagt. Seine Blicke durchbohrten ihn. Was hast du mit Jens gemacht?

Irgendwann kam die Polizei. Der junge Polizist schüttelte den Kopf. Nein, wir haben ihn nicht gefunden. Die Strömung ... Er fragte Tom immer wieder, woran er sich erinnerte. Was war mit Jens geschehen? Tom wollte nichts erzählen, doch der Polizist blieb unerbittlich, ließ nicht locker. Also erzählte Tom, dass Jens zuerst auf dem Eis war. Dass Jens ihn, Tom, herausgefordert hatte. Weil er ein Angsthase sei. Tom sagte, er sei seinem Bruder gefolgt. Er sagte, Jens sei eingebrochen und er habe versucht, ihn zu retten.

Sie glaubten ihm. Alle. Nur sein Vater nicht. Das sah Tom ihm an. In jeder Sekunde in all den folgenden Jahren. Bis heute.

Sie warteten. Einen Tag, zwei Tage. Eine Woche. Dann fuhren sie zurück nach Deutschland. Um weiter zu warten. Eine Woche, zwei Wochen. Die Monate zogen sich zäh in die Länge. Doch die Nachricht kam nicht. Sie kam nicht mit den ersten Sonnentagen. Sie kam nicht zu Ostern. Sie kam nicht im Sommer. Toms Vater rief jede Woche in Schweden an. Die Antwort war immer dieselbe: Nein, wir haben den Körper nicht gefunden, aber wir suchen weiter. Den Film aus dem Fotoapparat hatte Tom nie entwickelt.

Tom erschrak, als Mbusa ihn an der Schulter fasste. Er hatte die Augen die ganze Zeit über offen gehabt, hatte wahrgenommen, wie Jens’ Gestalt immer näher auf ihn zugegangen war. Jetzt war er nur noch zwei Meter von Tom entfernt.

»Tom?«, sagte Mbusa vorsichtig. »Geht es dir gut?«

Langsam wandte Tom ihm den Kopf zu. Er nickte andeutungsweise.

»Trink das hier.«

Mbusa hielt ihm eine dampfende Schale hin. Eine Mischung unbekannter Kräuteraromen stieg Tom in die Nase. Schon der Geruch ließ seine Lebensgeister zurückkehren. Er trank den heißen Tee in kleinen Schlucken und spürte sofort, wie die Betäubung in seinem Kopf nach und nach verschwand. In seinen Händen hielt er einen Gegenstand. Es war die Linse des alten Fotoapparates von Jens, das Einzige, das nach all den Jahren noch übrig war. Er hatte die Linse am Rand durchbohrt und trug sie mit einem Lederband um den Hals. Niemals legte er es ab. Nun war das Band zerrissen.

»Was ist passiert?«, fragte er Mbusa.

»Du warst eine Weile ganz weit fort. Aber deine Augen standen offen.«

»Nur eine Weile?«, fragte Tom verwundert. »Mir kommt es vor, als seien es Stunden gewesen.«

Tom berichtete in stockenden Worten, was er gesehen und gefühlt hatte. Mbusa hörte ihm aufmerksam zu. Und auch die Gestalt von Jens schien jedes Wort in sich aufzusaugen.

»Ich habe meine Version der Geschichte so oft erzählt, bis ich sie selber geglaubt habe. Aber ich habe gelogen. Zwanzig Jahre lang«, brachte Tom mühsam hervor.

»Du hast nicht gelogen. Du hast die Erinnerung verloren und wusstest es nicht besser.«

»Wenn ich ihn nicht geärgert hätte, dann wäre er nicht auf das Eis gegangen. Dann würde er heute noch leben.«

Mbusa legte Tom eine Hand schwer auf die Schulter.

»Du bist nicht schuld am Tod deines Bruders. Das war ein Unfall. Du hättest dich nicht hinter einer Lüge verstecken müssen. Zwanzig Jahre lang hast du geglaubt, schuldig zu sein, und hast deshalb das Erlebte tief in dir vergraben. Du hast befürchtet, die Wahrheit nicht ertragen zu können. Aber jetzt kennst du sie und kannst dich mit ihr auseinandersetzen.«

»Wenn ich meinen Eltern sage, was wirklich passiert ist ... was wird dann geschehen?«

»Das kann dir niemand beantworten.«

»Sie haben mir immer wieder gesagt, dass ich die Verantwortung für ihn trage. Er war doch jünger als ich.«

»Wie viel?«

»Dreizehn Monate.«

»Dann wart ihr im Grunde gleich alt. Dein Bruder konnte für sich selbst die Verantwortung übernehmen.«

»Aber ich habe die Verantwortung ja gern auf mich genommen, weil ich mich ihm dann überlegen gefühlt habe.« Tom stand auf, raufte sich die Haare. Dann fiel sein Blick auf die Lichtung. Die Balindi saßen noch immer am Rand. Aber die Gestalt von Jens war verschwunden, und das Licht hatte sich verändert. Er sah zum Himmel und stutzte: Der Vollmond wanderte in den Schatten der Erde.

»Was ist das?«, fragte Mbusa irritiert.

»Eine Mondfinsternis«, antwortete Tom und erklärte ihm den Vorgang. Mbusas Gesicht legte sich in sorgenvolle Falten.

»Ich weiß nicht, wie die Leute aus meinem Clan darauf reagieren.« Er sah einen Moment lang nachdenklich aus. »Lass uns zu Ende bringen, was wir angefangen haben.« Er wandte sich Tom wieder zu. »Dein Bruder wurde nie begraben?«

»Man hat seine Leiche nicht gefunden. Sie ist unter das Eis gezogen worden und vermutlich bis in die Ostsee getrieben.«

»Dein Bruder muss ein rituelles Begräbnis bekommen, dann kann er seine Gestalt wechseln. Erst danach wird er Ruhe finden.« Mbusa schaute Tom an. Dann bemerkte er die Linse in dessen Hand. »Was ist das?«, fragte er.

Tom erklärte es ihm. »Den Film habe ich zuhause in einer Schublade. Ich habe ihn nie entwickelt. Ich habe mich nicht getraut.«

Mbusa streckte die Hand nach der Linse aus. Tom gab sie ihm zögernd. Mbusa drehte und wendete sie hin und her, blickte hindurch und prüfte die stumpfen Kanten mit dem Daumen.

»Wenn man von der einen Seite hindurchsieht, dann wirkt die Welt größer, von der anderen Seite aus betrachtet wirkt sie kleiner. Die Welt sieht immer anders aus, je nachdem, von welcher Seite aus du sie betrachtest. Diese Linse hier ist allerdings so zerkratzt, dass die Welt auf der anderen Seite nicht mehr klar erkennbar ist.«

Tom sah seinen Freund mit offenem Mund an, dann nahm er die Linse wieder an sich. Mbusa hatte Recht: Die Linse war blind. Die Welt dahinter war nur noch schemenhaft erkennbar. Tom schüttelte erstaunt den Kopf. Dieser Gegenstand war für ihn jahrelang nur ein Talisman gewesen, eine Erinnerung an seinen Bruder. Und jetzt stellte er fest, dass sie so viel mehr war.

Mbusa ging in die Mitte der Lichtung. Dort hob er mit Hilfe seines Speers eine flache Mulde aus. Dabei murmelte er Worte, die Tom nicht verstand. Nach einer Weile stand Mbusa auf, streckte die Hand nach der Linse aus, die Tom ihm gab, und zückte ein scharfes Messer.

»Ich werde dir jetzt in die Hand ritzen und der Erde dein Blut übergeben. Danach wirst du diese Linse, die einmal deinem Bruder gehört hat, hier an dieser Stelle begraben. Wir werden das Ritual einer Beerdigung vollziehen.«

Tom nickte. Dann hielt er Mbusa seine Hand hin. Er betrachtete den Himmel. Der Mond war fast vollständig im Schatten der Erde verschwunden. Er spürte die kalte Klinge auf seiner Haut, den Schmerz, als das Metall die Haut durchschnitt, die Wärme seines eigenen Blutes, das in die Mulde tropfte. Genau in diesem Moment fegte ein eisiger Wind über die Lichtung. Tom zuckte zusammen.

»Bleib ruhig«, sagte Mbusa schnell.

Die Temperatur sank merklich ab. Tom fror. Doch Mbusa hörte nicht auf. Während er ununterbrochen in sanftem Tonfall Worte sprach, die Tom fremd waren, legte er die blinde Linse in die Mulde. Als das Glas die blutgetränkte Erde berührte, zog Nebel in dicken Schwaden aus dem Wald heran und über ihnen ertönte ein Heulen, das Tom das Blut in den Adern gefrieren ließ. Die Balindi hatten sich in den Schutz der Bäume zurückgezogen, blieben aber in der Nähe. Tom spürte die Anwesenheit seines Bruders, ohne ihn zu sehen. Die Baumwipfel wurden von Wind gepeitscht, während der Nebel immer undurchdringlicher wurde.

»Kathelhuli und Kithasamba, zwei unserer höchsten Geister sind hier«, flüsterte Mbusa fast unhörbar.

»Ihre Namen dürfen niemals laut ausgesprochen werden. Sie kämpfen um die Seele deines Bruders. Lass uns hoffen, dass Kithasamba gewinnt.«

Tom sah eine Gestalt auf sich zurasen und duckte sich im letzten Moment weg. Was auch immer das gewesen war, es flößte ihm bittere Furcht ein. Auch Mbusa zog den Kopf ein. Die beiden verharrten gebeugt und häuften so lange Erde in die ausgehobene Mulde und über die darin liegende Linse, bis ein kleiner Grabhügel entstanden war. Mbusa suchte die Umgebung nach runden Steinen ab, die er um den kleinen Hügel legte.

Und mit einem Mal erstarb das Heulen, der Wind ließ nach und der Nebel löste sich auf. Die Umgebung war stockfinster. Am Himmel waren nur die Sterne zu sehen. Dann bemerkte Tom, wie der rote Mond ganz langsam wieder aus dem Erdschatten herauswanderte.

Er spürte noch immer Jens in seiner Nähe. Aber zum ersten Mal war es ein durchweg angenehmes Gefühl. Er war da und er wachte über ihn. Aus tiefster Seele wurde Tom in diesem Moment von dem Gefühl der Liebe durchdrungen. Von einer Liebe, die sich nicht auf einen bestimmten Menschen beschränkte, sondern allumfassend war. Tom saß auf dem feuchtem Boden, mitten in Ostafrika, umgeben von einer traumhaften Landschaft, die vor ihm nur sehr wenige Menschen zu Gesicht bekommen hatten. Unten im Tal wartete eine Frau auf ihn, die in den letzten Tagen mit jeder Minute an Bedeutung gewonnen hatte.

Langsam stand Tom auf. Der Erdschatten gab immer mehr von der Mondsichel preis.