69
In der Tiefe des Berges, 21. Juni
Tom ließ das Tal ohne Zögern hinter sich und trat in die Dunkelheit der Höhle ein, an deren Eingang Hitimana und Kambere gewartet hatten. Sie hatten ihm bestätigt, was Muthahwa bereits angedeutet hatte: Andrea, Peter und Georg waren hier hineingegangen. Er musste ihnen sofort folgen.
Kambere reichte ihm eine Pechfackel. Hitimana hielt einen Stapel davon in der Hand. Tom blickte in das schwarze Loch vor sich. Ohne Licht war man dort drin verloren. Er entzündete seine Fackel und nickte den Jungen zu. Sie gingen los.
»Wann sind die anderen hier gewesen?«, wollte Tom wissen, als sie sich in der Höhle zu orientieren versuchten.
»Der Mond war gerade verschwunden«, antwortete ihm Hitimana.
»Wer war dabei?«, fragte Tom weiter.
Sie folgten dem Fluss.
»Die Frau, der ältere weiße Mann und Peter«, sagte der Junge zögerlich und setzte hinzu: »Wir haben dich gerufen, aber du warst verschwunden.« Sie marschierten jetzt hintereinander am Rand des Wassers entlang, mussten immer wieder über Steine hinwegsteigen und durch flache Wasserstellen waten.
»Ich war mit Mbusa im Wald.« Tom keuchte. Er war von der Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit noch immer mitgenommen, und der Marsch war anstrengend. »Am anderen Ende des Tals.«
»Dann hast du die Lichtung der Erkenntnis betreten?«, fragte Kambere mit skeptischem Blick.
»Ich wusste nicht, dass sie so heißt,« sagte dieser. Er dachte einen Moment lang an die Erlebnisse, dann schüttelte er sich und fragte: »Weshalb sind die anderen so plötzlich aufgebrochen?«
»Sie wurden bei der Zeremonie entdeckt«, antwortete Hitimana.
»Und euer Schamane hat gesagt, die Geister werden sie für die Störung bestrafen, richtig?« Tom blieb kurz stehen und fixierte die Jungen hinter sich.
»Unsere Geister sind mächtig, das solltest du mittlerweile wissen. Sie strafen und belohnen nach ihren eigenen Regeln.« Kambere unterbrach sich, bevor er leise hinzufügte: »Ja, sie werden sie bestrafen.«
Verzweiflung stieg in Tom auf. Sie mussten etwas tun, sie mussten schneller vorankommen. Er wollte Andrea unbedingt zur Seite stehen.
Tom rannte beinahe durch die dunklen Gänge. Als sie wieder einmal an einer Gabelung standen und rätselten, welches der richtige Weg war, weil das Wasser aus beiden Gängen herausströmte, bemerkte Tom einen schmalen Spalt auf seiner rechten Seite. Irgendetwas daran zog ihn an. Er zwängte sich mit der Fackel zwischen die Felsen und stieß auf einen kleinen Höhlenraum.
»Was ist das?«, fragte Kambere, der ihm gefolgt war, und wies in den Schatten.
Tom hob die Fackel hoch, um zu sehen, was der Junge entdeckt hatte. Erschrocken wich er zurück. Auf dem Boden lag ein menschliches Skelett. Er atmete einmal tief durch, dann untersuchte er die Knochen.
»Die Leiche muss schon lange hier liegen«, sagte er. »Die Knochen sind vollkommen blank.«
»Das ist keiner aus unserem Dorf«, entgegnete Kambere.
»Woher weißt du das?«
»Die Kleidung.« Der Junge beugte sich vor. »Oh mein Gott!«, rief er erstaunt aus. »Das ist Stefan. Der Weiße, der bei uns gelebt hat. Ich erkenne sein Hemd und die Hose. Und die Uhr. Ich habe bei ihm zum ersten Mal so etwas gesehen.«
»Dann stimmt es, was Mbusa vermutet hat: Sie haben ihn getötet«, murmelte Tom.
»Das glaube ich nicht. Wir von unserem Volk beerdigen selbst unsere schlimmsten Feinde, denn wir wissen genau, dass die Ahnen zurückkommen und Rache nehmen, wenn wir das nicht tun.«
»Kann es nicht eine Ausnahme sein?«
»Er trägt seine Uhr noch am Arm. Alle Männer im Dorf wollten sie damals unbedingt haben. Er hat hohe Angebote dafür bekommen, aber er hat sie alle abgelehnt. Wenn ihn jemand aus dem Dorf getötet hätte, wäre die Uhr jetzt fort.«
Schweigend betrachteten sie die verblichenen Knochen. Jäh durchfuhr Tom die Hoffnung, dass er es schaffen würde, anstatt zu enden wie Stefan.
»Haben ihn die Geister dafür bestraft, dass er den Berg betreten hat?«
»Das ist möglich.«
»Warum strafen sie uns dann nicht?«
»Vielleicht tun sie das noch ...«
Tom nahm ein Halstuch, das neben dem Gerippe lag, betrachtete es nachdenklich und legte es dann über den bleichen Schädel.
»Wir können ihn nicht begraben«, sagte er. Eine Weile sprach niemand. Dann forderte Tom die beiden Jungen auf: »Lasst uns weitergehen.«
Sie folgten dem Flusslauf weiter durch den Berg. Hin und wieder vernahm Tom ein dumpfes Grollen tief aus den Felsen. Mehrmals meinte er, Jens vor sich zu sehen. Doch wenn er genauer hinsah, war der vermeintliche Schatten sofort wieder verschwunden.
Das Geräusch schwoll an, je weiter sie in den Berg eindrangen. Tom erinnerte sich an die beängstigenden Wesen, denen er im Fieberwahn auf dem Gletscher begegnet war. Die orangefarbenen Augen hatten sich tief in sein Bewusstsein eingegraben. Der Gedanke an Andrea trieb ihn nur noch schneller ins Berginnere.
Die drei entzündeten mittlerweile die dritte Fackel, die das Atmen zwar schwer machte, weil der beißende Qualm ihnen ins Gesicht wehte, die zugleich aber die einzige Möglichkeit war, den sich immer wieder verzweigenden Gängen des unendlich scheinenden Höhlensystems eine sinnvolle Richtung abzuringen.
Trotz der zusätzlichen Beschwerden hasteten sie durch die langen dunklen Gänge, die keine Ende zu nehmen schienen – bis sie unversehens die riesige Höhle, das Heiligtum und den See erreichten.
Als Tom so plötzlich mit der überwältigenden Majestät des in grünes Licht getauchten Gewölbes konfrontiert war, glaubte er zunächst an eine Sinnestäuschung, an einen Wahn. Er fühlte sich unweigerlich an einen Besuch in Paris erinnert, an den Moment, als er Notre Dame zum ersten Mal betrat. Der Anblick der Abertausenden Stalagmiten in dieser gigantischen, turmhohen Höhle verschlug ihm für einen Moment den Atem. Sein Gesicht war erhellt vom Widerschein des Grün, das den ganzen Raum erfüllte. Georg hatte untertrieben. Das war keine unterirdische Kirche, das war eine Kathedrale, von der Natur erschaffen. Ein Heiligtum.
Dann versuchte er, die Realität des Anblicks zu ermessen, und seine Augen sprangen hin und her. Sie suchten fieberhaft nach Andrea. Keine Spur von ihr.
»Vielleicht haben sie einen anderen Weg genommen«, murmelte Tom und rieb sich die Schläfen.
Plötzlich bebte der Boden, ein dumpfes Geheul stieg aus dem See auf. Tom hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten, und auch die beiden Jungen mussten sich an den Felswänden festhalten.
In diesem Moment sah er sie. Andrea stand am anderen Ende der Höhle auf einem Plateau, unter dem ein Wasserfall grünlich schäumend in den See stürzte. Aus dem Wasser zwischen ihnen erhob sich ein unheimliches Wesen aus dem See, das Tom mit orange glühenden Augen ansah. Es richtete sich vor Tom auf, drohte ihn zu vernichten.
Mehrere Dinge geschahen auf einmal, als Andrea vor dem Eintritt in den Durchgang vom Plateau aus noch einen letzten Blick in die gigantische Höhle warf. Als Erstes entdeckte sie Tom am gegenüberliegenden Ufer des Sees, der mit Kambere und Hitimana die Kathedrale betrat. Andrea versuchte Toms Blick zu erfassen, trat einen Schritt nach vorne, stoppte jedoch sofort wieder, als sie ein Lachen hörte, das ihr die Haare zu Berge stehen ließ.
Paul stand plötzlich nahe bei ihr. Zusammen mit Hans. Beide grinsten breit.
»Na, Püppchen, so treffen wir uns wieder«, sagte der General mit schmieriger Stimme. Er hielt seine Pistole auf Andrea gerichtet.
»Wie kommt ihr denn hierher?«, fragte Andrea entsetzt. Sie sah Paul fassungslos an. »Ich hatte gehofft, dich nie wiederzusehen.« Sie betrachtete ihn abschätzig, behielt seine Waffe dabei im Blick.
»Da hast du dich wohl zu früh gefreut.« Er lachte.
»Was ist mit dir?«, fragte sie Hans. »Hast du die Seiten gewechselt?« Sie funkelte ihn wütend an.
»Ich habe immer auf der Seite der Gerechtigkeit gestanden, meine Liebe«, antwortete der.
»Was willst du von mir?«
Nun war es Hans, der lachte. Sein Gesicht verzog sich dabei zu einer Fratze, die Andrea angewidert zurückweichen ließ.
»Ich will lediglich das beenden, was vor vielen Jahren begonnen hat.«
Er schnappte nach Andrea.
»Nicht«, rief Paul. »Wir brauchen sie noch.«
»Irrtum. Du brauchst sie noch.«
Paul richtete seine Waffe auf Hans.
»Lass das«, fauchte Hans ihn an. »Du wirst es nicht verhindern können.«
Tom versuchte zu verstehen, was hier geschah. Schockiert starrte er die Gestalt an, die sich direkt vor ihm befand. Der Kopf allein war drei Meter groß. Er wollte zu Andrea laufen. Dann sah er Hans. Woher kam der? Und was machte er da zusammen mit diesem Paul? Die Entfernung war zu groß, um Details zu erkennen, und der ohrenbetäubende Krach, der aus den Felsen und dem See kam, übertönte jedes gesprochene Wort.
»Wir müssen zurück«, riefen Hitimana und Kambere ihm durch das Getöse zu.
»Die anderen haben es geschafft. Also werden wir es ebenfalls schaffen.«
Der Boden wankte immer mehr unter seinen Füßen. Tom überlegte fieberhaft, was Georg ihnen von seiner Durchquerung der Höhle erzählt hatte. Auch er hatte einen Geist gesehen, und er hatte ihn besänftigt.
»Wir werden getötet, so wie Muthahwa es angekündigt hat«, klagte Kambere halblaut.
Er zog Tom am Arm zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Inzwischen spitzte sich die Situation am anderen Ende des Höhlensees offenbar zu. Tom rann der Schweiß in dicken Tropfen die pochenden Schläfen hinab.
»Hat Muthahwa nicht auch gesagt, dass in dieser Höhle die Gerechtigkeit siegt?«
In diesem Moment fiel Tom die Lösung ein: die Holzgorillas. Tom durchwühlte die Taschen seiner Trekkinghose. Zwei von ihnen hatten ein Loch. Hoffentlich hatte er die Figuren nicht verloren. Er fischte schließlich aus der tiefsten Tasche an seinem linken Hosenbein erst die eine, dann auch die andere Hälfte von Stefans zerbrochenem Gorilla. Intuitiv reckte er die Faust mit den beiden Teilen der Gestalt entgegen.
»Was habe ich dir getan?«, fragte Andrea mit bebender Stimme.
Wieder lachte Hans.
»Du hast mir nichts getan. Aber dein Vater hat einen elementaren Fehler begangen.«
»Was hat mein Vater damit zu tun?«
»Ich werde es dir erzählen, damit du weiß, warum du stirbst.«
Andrea trat einen Schritt auf Hans zu, doch der gab ihr sofort mit einer kurzen Bewegung zu verstehen, dass sie am Rand des Plateaus stehen bleiben sollte.
»Er hat mir das Teuerste genommen, was ich in meinem Leben hatte. Nun nehme ich ihm auch das Teuerste, was er hat. Seine Tochter. Das findest du doch sicher auch gerecht, oder?«
Andreas Herz schlug ihr bis zum Hals, während ihre Knie butter-weich wurden. Nicht wegsacken, schrie sie innerlich, der Abgrund ist zu nah.
Die Gestalt wich zur Seeoberfläche zurück, als Tom ihr die Gorillafigur entgegenstreckte, blieb aber über dem Wasser schweben. Das Beben ebbte ab, und der Krach ließ nach. Kambere und Hitimana sahen Tom erstaunt an.
»Wie hast du das gemacht?«
»Wo ist jetzt dieser Altar oder wie ihr das nennt?«
Kambere wies in die Mitte des Sees.
»Irgendwo bei dieser Säule, glaube ich«.
»Dann lasst uns losgehen.«
Tom blickte auf die andere Seite des Sees hinüber zu Andrea, entschied sich dann für den Weg am rechten Ufer entlang. Zu dritt kletterten sie über Felsen, rutschten steile Abhänge hinunter, nachdem sie die Höhe gerade erst erklommen hatten.
Sie erreichten endlich die Mitte der Höhle, von der sich auch auf dieser Seite eine schmale Brücke zu der Säule hinüberstreckte. Tom rannte weiter, blieb dann jedoch abrupt stehen. Auf dieser Seite des Übergangs fehlte ein Stück. Zwei Meter war die Lücke etwa breit. Und darunter lag in zehn Metern Tiefe das grünlich schimmernde Wasser des Sees. Ein Blick nach unten reichte ihm, um die Erinnerungen an seinen Traum, an Jens’ Tod und die Erfahrungen mit Mbusa wachzurufen.
Er zitterte. Und er wusste, dass es diesmal kein Zurück gab. Er blickte nach rechts zu der Plattform, auf der Andrea stand. Sie war noch weiter an den Rand zurückgewichen, war offenbar mitten in einem Wortgefecht mit Hans. Noch immer konnte Tom nicht hören, worum es ging, aber die Körperhaltung von Hans sagte ihm, dass mit ihm nicht zu spaßen war.
Tom sah auf das Ende der klaffenden Lücke vor sich. Er steckte die zerbrochene Figur in die Hosentasche, trat er ein paar Schritte zurück, zählte in Gedanken bis drei und nahm Anlauf. Hitimana schrie auf.
Andrea hörte hinter sich einen Schrei. Sie wandte sich zu schnell um, glitt mit einem Fuß auf dem glitschigen Felsen aus, versuchte Halt zu finden, griff mit den Händen jedoch in die Luft. Sie rutschte ab. Über ihr erscholl das zynische Lachen von Hans.
Toms Fuß knickte weg, als er aufkam. Der Schmerz fuhr durch seinen Knöchel, als er sich auf dem glatten Felsen aufzurichten versuchte. Der Sprung war geglückt. Tom verharrte einen kurzen Moment vor der mächtigen Säule in der Seemitte. Die Kräfte der Geisterwelt beruhigten sich, doch die Stille schien Tom fast noch bedrohlicher als das Grollen zuvor. Er tastete die Säule ab, umrundete sie auf der Suche nach dem Eingang. Ein schneller Blick zu Andrea jagte ihm jähe Panik ein. Sie war nicht mehr dort, wo er sie zuletzt gesehen hatte. Sie hielt sich an einem Felsvorsprung unterhalb des Plateaus fest und drohte abzustürzen.
Tom fand den Eingang und humpelte eilig hinein. Vor ihm stand der steinerne Altar, übersät mit Gorillafiguren unterschiedlicher Größe. Er fischte die beiden Hälften seiner Figur aus der Tasche, fügte sie zusammen und legte sie zwischen die anderen. Als er sich umwandte, fuhr ihm der Schreck in alle Glieder.
Die unheimliche Gestalt mit leuchtend orangen Augen stand direkt vor ihm.
Andrea hörte Hans’ Lachen und ahnte, dass sie keine Chance mehr hatte. Verzweifelt suchte sie immer wieder nach einem besseren Halt, doch sobald sie nach einem anderen Felsvorsprung griff, war Hans’ Fuß schon da. Er schob ihre Finger zur Seite, machte sich einen Spaß daraus, ihr jede Hoffnung zu nehmen.
Peter und Georg konnten ihr nicht helfen, Paul hielt sie mit seiner Pistole in Schach und versuchte zugleich, Hans zurückzuhalten. Andrea spürte die Kraft in ihren Händen schwinden. Wieder erschien Hans’ Stiefel neben ihren Fingern. Diesmal ließ sie sich nicht wegschieben. Mit letzter Kraft griff sie nach oben, bekam den Fuß zu fassen und verlor im selben Moment endgültig den Halt. Sie stürzte in die Tiefe, Hans’ Knöchel fest in ihrer Hand.
Tom hörte Andreas Schrei. Aber er konnte den Blick nicht von den glühenden Augen vor ihm am Eingang der Säule abwenden. Sie fixierten ihn tief und trugen ihn dabei mit sich fort in die Vergangenheit. Die Augen schienen gleichsam Toms Erinnerungen in sich aufzusaugen. Noch einmal sah er Jens vor sich, fortgespült von der eisigen Macht des winterlichen Flusses. Er wusste jetzt, dass er die Verantwortung für Jens’ Tod nicht übernehmen musste. Dann sah er die weiße Schneefläche der schwedischen Landschaft von damals, die sich still und friedlich bis zum Horizont erstreckte. Die Last war weg.
Als die weiße Helligkeit sich langsam wieder von Toms Blick zurückzog und die Gegenwart einkehrte, war die Gestalt mit den orangefarbenen Augen verschwunden. Die kathedralenartige Höhle erschien wieder vor ihm. Und mit ihr kam die Angst um Andrea zurück. Tom blickte zu dem Plateau hoch. Andrea war verschwunden. Hans ebenfalls. Drei Männer standen am Abgrund und blickten erschrocken hinab in das brodelnde Wasser. Tom folgte ihrem Blick, doch er konnte erst nichts erkennen, denn dort, wo der Wasserfall in die Fläche des Sees eindrang, wallte grün flackernder Schaum auf.
Als er die zwei miteinander kämpfenden Körper im Wasser sah, packte ihn das pure Entsetzen. Andrea und Hans waren ineinander verkeilt, ließen nicht voneinander ab. Beide schienen schon jetzt erschöpft und ohne Hoffnung auf Rettung, wenn ihnen nicht jemand von außen zur Hilfe kam. Tom spürte seine Angst. Er spürte aber auch, das etwas anderes, noch Größeres in seinem Inneren die Führung übernommen hatte.
Die klaffende Lücke in der Brücke nahm er kaum wahr, hatte sie übersprungen, bevor er sich Gedanken darüber machen konnte, wie viel Anlauf er brauchte. Er ließ Hitimana und Kambere auf der anderen Seite entgeistert zurück, überwand die im Weg liegenden Gesteinsbrocken, ohne seine eigene Erschöpfung zu spüren.
Dann stand er oberhalb von Andrea und Hans auf dem schmalen Weg, der zum Ende der Höhle führte. Noch immer rangen die beiden miteinander. Viele Meter unter ihm. Andrea versuchte, sich ans Ufer zu retten, doch Hans zerrte sie jedes Mal zurück. Tom sah, wie Hans Andreas Kopf unter Wasser drückte. Dann sprang er.
Das Wasser verschluckte Tom ohne Widerstand. Wärme durchströmte ihn. Er kämpfte sich an die Oberfläche, musste sich orientieren. Alles um ihn herum glühte grünlich. Er entdeckte Hans, aber Andrea konnte er nicht sehen. Mit kräftigen Zügen schwamm Tom auf den Mann zu, erwischte ihn am Bein und zog ihn zu sich heran. Sofort schlug Hans auf ihn ein, versuchte, ihn unter die Wasseroberfläche zu drücken. Die Erinnerungen explodierten in Toms Gehirn. Aber diesmal lähmten sie ihn nicht, sondern setzten eine ungeahnte Energie in ihm frei. Er schluckte Wasser, seine Augen nahmen die Umgebung nur verschwommen wahr. Dennoch gelang es ihm, den schwächer werdenden Hans von sich wegzuschieben, ihn von hinten zu packen. Toms Hände griffen nach den Haaren, sie zerrten daran, bekamen den Kopf zu fassen und drückten ihn reflexartig nach unten.
Hans’ heftige Abwehrversuche wurden schnell schwächer und versiegten bald in letzten Zuckungen seiner Muskeln. Dann war der Körper in Toms Händen still. Er ließ den Kopf des Mannes los und drehte sich suchend im Wasser hin und her. Hans trieb sofort von ihm fort, mit dem Gesicht unter der Wasseroberfläche.
Als Tom Andrea entdeckte, rührte sie sich nicht. Sie lag regungslos auf dem Rücken im Wasser. Verzweiflung durchflutete ihn. Er griff nach ihrem Arm, versuchte ihr in die Augen zu sehen, aber die waren geschlossen. Friedlich sah sie aus. Aber sie sollte nicht friedlich sein. Sie sollte leben! Er zerrte Andrea hinter sich her zum Rand des Sees, bis an die steil vor ihm aufragende Felswand heran.
Kambere und Hitimana waren schon dort. Die Jungen griffen nach Andreas Armen, zogen sie aus dem Wasser, hievten sie mit verzerrten Gesichtszügen an den Felsen hoch, wo sie ihnen von Georg und Peter abgenommen wurde. Tom hatte nicht mehr die Kraft, sich allein an den scharfen Felsen hochzuziehen. Wieder waren die beiden Jungen zur Stelle und retteten auch ihn aus dem flackernden See.