38
Auf dem Gletscher, 18. Juni
Der Himmel hatte sich bleigrau zugezogen, als Tom am nächsten Morgen den Kopf aus der Höhle streckte. Der Wind war schneidend kalt geworden und trieb Schneeflocken vor sich her, die sich zögerlich auf dem gefrorenen Boden niederließen. Dort, wo die Sonne sein sollte, war nur ein heller Schimmer hinter den Wolken. Tom holte die Karte hervor, die er nach den Erzählungen der alten Frau skizziert hatte. Doch er sah bald ein, dass sie keine Hilfe war. Ihre Angaben waren viel zu ungenau gewesen.
Durch ein Loch am Hosenbein zog Wind in Toms Kleidung. Seine Füße waren mit blutigen Blasen überzogen. Die Gummistiefel waren zwar robust, aber lange hielten sie diesen außergewöhnlichen Strapazen sicher nicht mehr stand.
Gerade wollte er sich wieder in die Höhle zurückziehen, als er etwas hörte. Er hielt den Atem an und lauschte angespannt. Stimmen. Menschliche Stimmen. Die Rebellen waren also wieder auf ihre Spuren gestoßen.
»Wir müssen los«, rief er mit gedämpfter Stimme nach hinten. Die anderen schraken aus dem Halbschlaf auf. »Sie sind uns wieder dichter auf den Fersen.« Peter war sofort bei ihm, spähte und lauschte in die Wildnis hinaus.
Ein paar Minuten später huschten sie möglichst leise zwischen größeren Felsen hindurch und zum ersten Mal waren sie froh, dass sich das Wetter verschlechterte. Der Nebel schluckte jedes Geräusch und verbarg sie vor den Blicken ihrer Verfolger. Tom spürte eine unendliche Erschöpfung durch die Anstrengungen der vergangenen Tage; die feuchte Kälte hatte sich an seinem gesamten Körper festgesetzt und seine Muskeln zitterten vor Schmerz. Seine Lungen schmerzten bereits nach wenigen Metern wie nach einem 100-Meter-Sprint und stießen dabei regelrechte Fontänen kondensierter Atemluft aus.
Unterhalb von ihnen waren die Rebellen, dorthin konnten sie nicht zurück. Vor ihnen lag die Ungewissheit. Keiner von ihnen war jemals in diesem Teil des Ruwenzori gewesen.
Der Schwindel nahm wieder zu. Tom glitt immer wieder auf dem gefrorenen Boden aus. Es schien, als wäre es nur eine Frage der Zeit, bis er stürzte und sich verletzte. Oder einer von den anderen. Er schob die Gedanken daran zur Seite. Peter würde sie hier schon rausbringen. Im Gänsemarsch stapften sie schweigend den Berg hinauf. Jeder seine eigene Atemwolke ausstoßend, eingehüllt in den dichten Nebel. Die Landschaft wurde karger mit jedem Meter, den sie höher stiegen. Immer seltener sahen sie Pflanzen. Bachläufe gluckerten unter ihnen. Dann und wann tauchten märchenhafte, von dichten Moosen und saftigen Gräsern umgebene Tümpel aus den Wolken auf, verschwanden jedoch genauso schnell wieder. Aus der dünnen Schneeschicht unter ihren Füßen entwickelte sich mehr und mehr eine durchgehende Schneedecke. Blendend weiß reflektierte sie das helle Licht, das trotz der Wolken und des Nebels diffus auf sie herabstrahlte. Tom hatte große Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Jeder Schritt wurde für ihn zur Qual, jeder Felsen schien wie ein schier unüberwindliches Hindernis.
Er ahnte es, noch bevor er ihn erblickte. Der Junge war wieder da. Er ging neben ihm, so nah wie nie zuvor. Tom hätte ihn berühren können. Diesmal sprach der Junge nicht. Er lief einfach nur neben Tom her, blickte ihn mitfühlend an. Im Gegensatz zu ihm selbst umgab seinen Kopf keine Atemwolke. Aber Wärme ging von ihm aus, die sich auf Tom übertrug. Keine oberflächliche Wärme, sondern eine, die mitten in der Brust ansetzte und sich von dort auf Toms gesamten Körper ausdehnte.
Sie erreichten einen Gletscher. Das Eis war an den Kanten gräulich verfärbt. Darunter strömte unablässig Wasser hervor, und zum ersten Mal seit vielen Stunden verspürte Tom Durst und hatte den Wunsch zu trinken, ohne dass er sich aus Vernunft dazu zwingen musste. Sie machten an einer geschützten Stelle Rast, und Tom schöpfte das vom Felsabrieb trübe Wasser mit der hohlen Hand in seinen Mund. Trotz der Kälte nahm er es in sich auf wie ein Lebenselixier.
Peter schaute sich um, lauschte und ermahnte sie, so wenig wie möglich zu sprechen. Der Nebel schluckte nicht nur ihre Geräusche, sondern auch die Stimmen und Schritte ihrer Verfolger. Sie konnten nicht wissen, wie weit sie entfernt waren.
Als sie wieder aufbrachen, wandelte der Junge noch immer neben Tom, der sich allmählich an dessen Anwesenheit gewöhnte. Peter ließ Andrea, Hans und Imarika an sich vorbeiziehen, um leise mit Tom zu sprechen.
»Er ist wieder da, habe ich Recht?«, fragte der Guide. Tom nickte. »Dann lass dir Zeit, dich mit ihm anzufreunden.«
»Kannst du ihn sehen?«, wollte Tom wissen.
»Manche Geister der Mondberge wollen nicht von allen gesehen werden. Sie erscheinen nur denen, für die sie wichtig sind.«
»Was will er von mir?«
»Sprich mit ihm.«
Tom lachte angestrengt. »Dann haltet ihr mich ja für völlig verrückt.« Er schüttelte zur Bestätigung seiner Aussage noch einmal energisch den Kopf. »Nein.«
»Du musst nicht laut mit ihm sprechen. Du kannst das in Gedanken tun.«
Sie liefen am Rand des Gletschers entlang, da die Eisfläche selbst zu viele Gefahren barg. Der Wind nahm nochmal zu und peitschte Wolken an ihnen vorbei. Tom keuchte bei jedem Schritt, doch er hatte keine Kraft mehr zum Fluchen. Der Junge wurde allmählich blasser, und Tom spürte, wie die hilfreiche Wärme schwand. Er wollte ihn zurückrufen, doch er traute sich nicht.
»Er geht fort ...«, keuchte Tom.
»Ich weiß. Du kannst ihn zurückhalten, wenn du es nur versuchst«, antwortete Peter.
Tom fühlte sich elend. Worauf ließ er sich da ein?
Die Kälte zog immer grimmiger unter seine Kleidung. Der Schneefall wurde dichter. Die Erschöpfung drückte ihn mit geballter Kraft nieder.
»Vater?«, sagte Tom in Gedanken. Aber es schien zu spät. Die Gestalt war verschwunden. Er kam sich vor wie ein Esel, einen Geist angesprochen zu haben. Dann erfasste Kälte sein Herz.
Wie lange waren sie nun schon hier oben unterwegs? Eine Stunde? Drei Stunden? Die Sicht verringerte sich auf wenige Meter, die harten Kristalle des Schnees stachen in Toms Gesichtshaut. Seine Hände waren steif. Trotz der großen körperlichen Anstrengung fror Tom furchtbar. Er wünschte sich nichts mehr, als in einem Bett zu liegen und all das, was ihn hier umgab, zu vergessen. Er bemerkte, dass sie nun auf der rutschigen Fläche des Gletschers liefen. Vor ihm tauchten Gestalten auf. Schon glaubte er, den Jungen wiederzusehen, doch dann erkannte er Andrea, Imarika und Hans, die auf ihn und Peter warteten. Schritt für Schritt kämpfte er sich voran, um bei ihnen erschöpft auf den Boden zu sinken.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, japste Andrea besorgt.
»Alles gut. Bring mir doch bitte einen Martini. Aber ohne Olive.« Tom versuchte zu lächeln.
»So schlecht scheint es dir ja nicht zu gehen!«, gab Andrea zurück.
»Ich habe mich schon besser gefühlt ...«
»Wir haben etwas gefunden«, sagte Andrea nun zu Peter, der als Letzter zu ihnen stieß. Sie zeigte auf ein eigenartiges Ding, das ein paar Meter von ihnen entfernt halb unter dem Schnee verborgen war. »Das sieht aus wie ein Flugzeugwrack.«
Tom richtete sich auf, spähte durch das Schneetreiben, erhob sich dann steif, um zusammen mit den anderen den Fund zu begutachten. Die Maschine war wohl ehemals weiß gewesen, und die Trümmer lagen über eine Fläche von mehreren hundert Quadratmetern verteilt.
»Jetzt weiß ich, wo wir sind«, sagte Peter. »Das ist ein Flugzeug der UN. Vor fünf Jahren ist es mit Hilfsgütern auf dem Weg in den Kongo an den Rwatamagufa Peaks zerschellt. Die Umstände sind nie geklärt worden, aber man geht davon aus, dass das Wetter schlecht war und der Pilot die Bergspitzen nicht gesehen hat.«
»Das scheint mir aber nicht so ...« Tom beugte sich über eines der Wrackteile. Peter trat zu ihm. Deutlich waren in dem Metall, das vermutlich eine der Tragflächen gewesen war, fingerdicke Löcher zu erkennen. »Für mich sieht das eher so aus, als wäre das Flugzeug abgeschossen worden.« Er strich vorsichtig mit der Hand über die ausgefransten Metallzacken. »Da hat wohl jemand nachgeholfen.«
Peter blickte sich suchend um, hob ein paar der Trümmer auf. Ihre über Jahre gespeicherte Kälte fuhr ihm sofort in die Haut und er ließ sie schnell wieder fallen. »Wer hat ein Interesse daran, dass Hilfsgüter nicht in den Kongo geflogen werden?«
»Vielleicht wollte jemand die Hilfsgüter stehlen und verkaufen?«, vermutete Andrea.
»Nein, als das Rescue-Team hier ankam, war alles noch da.«
»Vielleicht ist noch etwas anderes in dem Flieger gewesen, was nicht über die Grenze gelangen sollte.«
Tom sah den Guide an.
»Was sollte das sein?«
»Informationen. Schmuggelware. Menschen. Waffen. Es gibt viele Möglichkeiten.«
»Darüber sollten wir uns jetzt keine Gedanken machen. Wir müssen weiter. Lasst uns nachsehen, ob wir in den Trümmern noch irgendetwas finden, was uns hilft, und dann los. Im Schnee hinterlassen wir mehr als deutliche Spuren.«
Sie verteilten sich, um die Wrackteile zu untersuchen. Tom konnte sich kaum noch auf den Beinen halten und hatte auch nicht viel Hoffnung, dass sie in irgendeiner Form fündig werden könnten. Aber die Überraschung über den Flugzeugfund hatte seine schwindenden Kräfte noch einmal aufgeputscht. Nun traten dafür die mittlerweile vertrauten Symptome umso deutlicher zutage. Pochende Kopfschmerzen. Gallige Übelkeit. Schwindel und Atemnot. Sein Puls raste. Wie sollte er das hier überstehen? Peter hatte ihm geraten, seinen Vater anzusprechen. Das war absurd. Aber was konnte er schon verlieren? Also konzentrierte er sich auf das Bild seines jugendlichen Vaters, das er im Kopf hatte. In Gedanken rief er ihn leise beim Namen. Doch nichts geschah. Wütend trat Tom gegen eines der Trümmerteile, wofür sich sein großer Zeh mit einem tumben Schmerz bedankte. Das alles war absurd und lächerlich.
Unter dem Wrackteil, das er mit dem Fuß weggestoßen hatte, kam eine zerbrochene Holzfigur zum Vorschein. Ein kleiner geschnitzter Gorilla. Ächzend beugte er sich hinunter und hob sie auf. Er hatte diese Figur schon einmal gesehen. Aber wo? Als er sich aufrichtete, hämmerten die Kopfschmerzen urplötzlich mit doppelter Macht. Er stöhnte auf. Andrea trat auf ihn zu.
»Hast du etwas gefunden?«
Auch die anderen kamen näher. Tom hielt Andrea gerade die halbe Figur entgegen, als Hans neben ihr erschien. Er zog mit einem deutlich vernehmbaren Zischen die Luft zwischen den Zähnen ein. Augenblicklich wurde er von einem keuchenden Husten geschüttelt.
»Was ist? Kennst du diese Figur?«, fragte Tom.
Doch Hans starrte nur wie gebannt auf Toms ausgestreckte Hand, während er seinen Atem allmählich wieder unter Kontrolle brachte. Dann nahm er die kaputte Figur und drehte sie hin und her.
»Das kann nicht wahr sein«, keuchte er.
Erstaunt wandte Tom sich ihm zu: »Weißt du, was das ist?«
»Das ist ein Talisman. Also eigentlich ist es ein billiges Touristen-Souvenir.« Tom beäugte ihn kritisch.
Hans schien ernsthaft verwirrt und überrascht zu sein.
»Woher weißt du das?«, wollte Tom wissen.
»Weil er selber eine solche Figur hatte«, mischte sich Andrea ein, nahm die Figur in die Hand, steckte ihre andere Hand in die Hosentasche und beförderte einen Gegenstand hervor, den sie neben die halbe Figur auf ihrer Handfläche legte. Die kleine Figur, die sie Tage zuvor in Kilembe vor ihrem Zimmer gefunden hatte. Die beiden Gorillas glichen sich wie eineiige Zwillinge. Abgesehen davon, dass die jetzt gefundene Figur in der Mitte zerbrochen war.
»Oh!«, entfuhr es Tom. »Ist das also deine?«, fragte er Hans sofort.
»Nein. Von diesen Gorillas gibt es Tausende. Das ist reiner Zufall.«
Hans wandte sich um. Er setzte den Weg den Hang hinauf fort. Imarika folgte ihm.
»Stopp!«, rief Tom ihm nach, obwohl sich in diesem Moment erneut alles zu drehen begann. »Du musst uns das erklären!« Aber Hans ließ sich nicht aufhalten. Er reagierte nicht und ging weiter.
»Lass ihn. Er wird es schon noch erzählen«, sagte Andrea sanft.
Tom war wütend, ihm war schlecht und er war vollkommen entnervt. Beim nächsten Schritt trat er in eine Pfütze, glitt aus und stürzte vom Schnee gedämpft auf die harte Eisfläche. Als er versuchte, sich aufzurichten rutschte er wieder ab und schlitterte auf dem Eis des Gletschers den Hang hinab erst langsam, dann immer schneller. Er taumelte, drehte sich um sich selbst, schob den frischen Schnee vor sich her wie ein Schneepflug. Er prallte an der Eiskante auf Steine, die sich wie stumpfe Speere in seinen Körper bohrten. Verzweifelt versuchte er, irgendwo Halt zu finden, doch es war aussichtslos. In diesem Moment traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitz: die Gestalt, der Junge.
Es war nicht sein Vater.
Das war sein Bruder.
»Jens!« Er schrie den Namen gellend, während er weiterhin mit den Händen nach einem Halt tastete. »Jens!« Er landete hart an einem großen Felsen, der seine Talfahrt abrupt stoppte. »Jens«, wimmerte er nun noch einmal, leiser. Liebevoller. Wie hatte er das übersehen können?
Alles tat ihm weh, jede Stelle seines Körpers fühlte sich geschunden an. Eine gährende Übelkeit und das Hämmern in seinem Kopf schienen sein Hirn zum Bersten zu bringen. Tom legte die Hände vor sein Gesicht. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so verzweifelt gefühlt.
Doch. Ein einziges Mal. Damals, als er pitschnass am Ufer des schwedischen Flusses gesessen hatte, der kurz zuvor seinen Bruder mitgerissen hatte. Auch da hatte er sich gefühlt, als würde er sterben.
»Tom, ist alles in Ordnung?« Peter sprang mit großen Schritten auf ihn zu. »Hast du dich verletzt?«
Mühsam nahm Tom die Hände vom Gesicht und hob den Kopf, um Peter anzusehen. Was hatte Peter gefragt?
»Tom!« Peter hockte sich neben ihn. »Bist du verletzt?«
Nur ganz langsam sickerte die Frage in Toms Bewusstsein. War er verletzt? Er wusste keine Antwort auf diese Frage. Nicht nur, weil er seinen Körper kaum noch spürte, sondern auch, weil er einfach nicht wusste, welche Antworten in Frage kamen. Er versuchte Peter zu fixieren, doch immer wieder verschwamm dessen Gesicht vor seinen Augen. Die Welt um ihn herum schien zusammenzustürzen. In seinem rechten Arm begann es zu kribbeln. Langsam wanderte dieses Gefühl von seinen Fingern kommend über das Handgelenk in den Unterarm. Er wollte es stoppen, konnte jedoch kaum noch mit der linken Hand nach der rechten greifen. Erschöpft ließ er sich zurückfallen.
Durch den Schleier, der ihn umgab, nahm er vage das Gesicht von Andrea wahr, das mit ängstlichen Augen über ihm auftauchte. Peter sagte etwas, das Tom nicht verstand. Alles wurde dumpf, er verlor jedes Gefühl auf seiner Haut. Er hörte die anderen miteinander sprechen, konnte sich den Sinn ihrer Worte allerdings nicht mehr erschließen. Auch ihre Gesichter konnte er nicht mehr auseinanderhalten.
Er spürte, dass ihn jemand hochzog. Er strengte sich an, die Bewegung zu unterstützen. Übelkeit raste ihm aus dem Magen die Speiseröhre hinauf. Er erbrach sich. Für einen Moment nahm er seine Umwelt etwas klarer wahr.
»Was hast du vorhin gerufen?«, fragte Peter ihn jetzt. »Das klang wie ein Name.«
Obwohl Toms Mund völlig ausgetrocknet war, bemühte er sich, ein paar Worte zu formulieren:
»Der Junge«, stammelte er. »Ich habe die ganze Zeit meinen Bruder gesehen.«
»Du hast nach ihm gerufen?«
»Ja.«
»Dann wird er dir helfen. Wir müssen sofort weiter. Die Rebellen wissen jetzt sicher genau, wo wir sind.«
Gemeinsam halfen sie Tom auf die Füße. Peter war bei ihm. Und Andrea auch. Er lächelte. »Andrea.« Seine Stimme war matt.
»Ja?«, antwortete sie ihm. »Tom, was ist? Kann ich irgendetwas für dich tun?« Ihr Gesicht erschien vor seinen Augen. »Tom, hörst du mich?«
»Ja.«
»Was soll ich tun?«
»Da sein.« Er spürte, wie sich ein warmes Gefühl in seinem Bauch ausbreitete. Er lächelte. Und das Gesicht vor ihm lächelte auch für einen kurzen Moment.
Gestützt von Peter kletterte er an der Kante des Gletschers hinauf. Nach einigen unendlich erscheinenden Minuten erreichten sie Hans und Imarika, die wegen des schlechten Wetters nicht gesehen hatten, was geschehen war. Schritt für Schritt schleppten sie sich den Berg weiter hinauf. Peter trug Tom beinahe, schleifte ihn hinter sich her und trotzte des eisigen Windes. Ständig in der Furcht, hinter sich die Rebellen auftauchen zu hören. Der Boden wurde glatter und steiler.
Toms Muskeln gaben ihren letzten Widerstand auf. Er sackte in den tiefen Schnee. Wo war sein Bruder? Was wollte er? Wie hatte Tom ihn nur vergessen können? Tränen drangen aus seinen Augen, liefen in seinen Bart, erstarrten zu Eis.
Der Geist seines Bruders war nicht zurückgekehrt. Je länger die Begegnung hinter ihm lag, desto mehr zweifelte er daran, dass sie überhaupt geschehen war. Peter packte ihn fester und schleppte ihn den Berg hinauf. Peter war real. Auf ihn konnte Tom sich verlassen.
»Warum tust du das?«, murmelte Tom.
Peter hielt für einen Moment erschrocken inne. Tom rang nach Luft. »Du könntest jetzt bei deiner Familie sein. Von dir wollen die doch nichts.« Er versuchte, das Gesicht seines Guides zu sehen, er hatte große Schwierigkeiten, den Kopf zu heben. Peter ging wieder los, jeder Schritt tastend nach Halt.
»Das ist meine Aufgabe. Ihr habt mich angeheuert. Ich habe versprochen, euch sicher wieder nach unten zu bringen. Und das werde ich auch tun.« Auch er keuchte inzwischen.
»Das ehrt dich .... dass du dich an dein Versprechen hältst.« Die Welt verschwand wieder in einem Taumel aus Schnee und schummrigem Licht. Tom spürte die Kälte nicht mehr. Die Schmerzen in seinem Kopf wichen dem Gefühl, alles sei aus Watte.
Er musste eine Weile warten, bis Peter mit leiser Stimme zu sprechen begann. Der Wind trug viele seiner Worte mit sich fort, Worte, die Tom an der Realität der ihn umgebenden Welt zweifeln ließen.
»Ich bin bei meiner Tante aufgewachsen. Meine Tante hat alles dafür getan, dass ich eine gute Ausbildung erhalte, doch das Geld hat nie gereicht. Die Menschen sind hier sehr arm. Die meisten leben von der Hand in den Mund. Da bleibt nicht viel Geld übrig, um die Kinder auf eine gute Schule zu schicken.«
Er machte eine Pause. Tom gab ihm durch ein leises Murmeln zu verstehen, dass er ihn gehört hatte.
»Ich möchte meinem Sohn eine andere Perspektive geben. Er soll die beste Ausbildung bekommen, die bei uns möglich ist. Er soll studieren können. Er soll die Möglichkeit erhalten, die Welt kennen zu lernen. Er soll all das tun können, was mir verwehrt blieb.« Wieder hörte Tom eine Weile lang nur seinen keuchenden Atem, das Heulen des Windes und die matten Schritte unter sich. »Dafür brauche ich Geld, viel Geld. Ich konnte es nicht ablehnen, als mich ein Mann ansprach, ob ich mir bei einer besonderen Aufgabe etwas dazuverdienen wolle.«
Andrea erstarrte mit versteinertem Gesicht. »Du warst es? Du hast uns in die Falle gelockt?«
»Ich habe dafür gesorgt, dass wir zum richtigen Zeitpunkt am verabredeten Ort waren.«
Tom spürte Entsetzen in sich hoch steigen. Und Galle. Der Mann, dem sie am meisten vertrauten, dem sie schon mehrfach ihr Überleben verdankten und von dem es noch immer abhing, dieser Mann sollte an der Entführung beteiligt sein?
»Du hast unser Leben verkauft?«, wisperte er.
»Ich wollte in die Zukunft meines Sohnes investieren. Sie haben mir gesagt, es würde keine Verletzten geben. Auch mich haben sie betrogen. Ich habe kein Geld bekommen.«
Tom war fassungslos. Ein Schwall wässrigen Mageninhalts schoss aus seinem Mund. Er verlor für einen Moment das Bewusstsein, erbrach sich ein weiteres Mal, bevor er wieder zu sich fand und sich an der Jacke seines Retters und Verräters festkrallte.
»Du bist zurückgekommen ... Warum?«
»Die Geister der Mondberge haben mich zu euch geschickt.«
»Führst du uns jetzt in die nächste Falle?«, fragte Andrea zynisch.
»Nein, ich bringe euch hier raus. Versprochen.«
»Warum?«, fragte Tom.
»Die alte Frau. Sie hat dir von dem Tal erzählt.« Peter setzte Tom für eine kurze Pause im Schnee ab. Dann reichte er ihm eine kleine Wasserflasche. »Sie ist eine alte Bayira. Ich habe sie getroffen. Sie hat mir von dir erzählt.« Erstaunt sah Tom ihn an. Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. Mit großer Mühe konnte er die Flasche an seinen Mund führen, brachte aber nicht mehr als ein paar Tropfen den Hals hinunter. Er blickte schwerfällig zur Seite, sah schemenhaft Andrea. Auch sie schien einem Zusammenbruch nicht mehr fern. Er hätte ihr so gerne geholfen. Sie griff nach seiner Hand. Ihre Haut war kalt, sie zitterte.
»Sie hat von mir gesprochen?«, brachte Tom mühsam hervor.
»Sie kannte deinen Namen nicht, aber als ich dich das erste Mal gesehen habe, wusste ich sofort, dass sie nur dich meinen konnte. Du hast mir das ja kurz darauf auch bestätigt.«
»Was hat sie dir gesagt?«
»Sie hat tief in deine Seele geschaut. Und sie hat den Schmerz gesehen. Sie hat mir gesagt, dass dieser weiße Mann zurückkehren wird.«
Tom lachte säuerlich und erbrach sich beinahe wieder. »Das ist absurd. Kein Mensch kann einem anderen in die Seele schauen ...« Er machte eine Pause, um Luft zu schöpfen. »Jetzt bin ich irgendwo im größten Gebirge Afrikas«, japste er. »Zwischen Leben und Tod. Verraten. Fast erfroren. Zu Tode erschöpft. Und hier wollte ich um jeden Preis sein. Haben das die großen Entdecker auch so erlebt?« Er lachte bitter, verzweifelt, hoffnungslos. Er schaute Peter an. Die Welt wurde leer. Unendlich leer.
»Tom, die Geister der Mondberge lenken uns. Seit dem ersten Schritt, den wir in ihre Berge gesetzt haben. Wir alle werden geprüft, jeden Tag aufs Neue. Wir wissen nicht wofür. Aber ich vertraue den Geistern. Am Ende werden wir belohnt werden.«
Andrea übernahm nun für Tom das Sprechen: »Also bist du nur zurückgekehrt, weil du dir selbst etwas davon versprichst?«, fragte sie Peter wütend.
»Nein, ich bin zurückgekehrt, weil ich nicht wusste, dass es Tote geben würde. Ich bin zu euch zurückgekommen, weil ich euch nicht allein lassen wollte. Mir ist klar geworden, dass ich meinem Sohn nie wieder in die Augen schauen könnte, ohne daran zu denken, welchen Preis ihr für seine Ausbildung zahlen musstet. Darum bin ich umgekehrt.«
Die beiden Männer fixierten sich eine Weile, ohne ein Wort zu sprechen. Dann nickte Tom. Andrea blickte zwischen den beiden hin und her.
»Okay«, sagte sie schließlich hart. »Dann lasst uns jetzt diesen Gletscher hinter uns bringen, damit du deinem Sohn bald wieder mit gutem Gewissen gegenübertreten kannst.« Sie wandte sich um und setzte ihren Weg fort. Peter griff Tom unter die Arme, der sich nur ein paar Schritte bewegen konnte, bevor er wieder in den Schnee sank. Andrea war sofort bei ihm, zog ihn gemeinsam mit Peter hoch.
»Ihr müsst miteinander reden«, flehte Tom unter größten Mühen.
Andrea starrte ihn an.
Schweiß rann ihm jetzt die Schläfen herab. Er war weiß wie der ihn umgebende Schnee. Seine Hände zitterten. »Sprich mit deinem Bruder!« Er sackte erneut in die Knie.
Peter sah Andrea skeptisch an. »Was soll das heißen?«, fragte er.
Bevor Andrea etwas antworten konnte, wirbelte er plötzlich herum und lauschte. »Sie kommen«, rief er leise aus. »Wir müssen sofort weiter.«
Sie begannen, die rutschige Fläche hinaufzuhasten, so gut es noch ging. Peter schleppte Tom Meter für Meter hinter sich her. Schon nach zwanzig Schritten hatte Tom das Gefühl, seine Lunge würde zerplatzen. Aber er musste sich zwingen. Er durfte den anderen nicht noch mehr zur Last werden. Andrea griff nach seiner Hand.
»Tom! Schneller!«, rief sie ihm zu. Sie erreichten Hans und Imarika, die stehen geblieben waren und sie fragend ansahen.
»Lauft!«, rief Peter ihnen zu. »Wir nehmen den Weg quer über den Gletscher!« Mit dieser Anweisung wich er von der bisherigen Route, die steil bergauf führte, ab. »Vielleicht können wir uns da irgendwo verstecken. Das ist unsere einzige Chance!«
Die Stimmen hinter ihnen wurden lauter. Plötzlich hallte ein Schuss über den Berg. Eine Kugel zischte an Tom vorbei und bohrte sich ein paar Meter vor ihm in den Schnee, der zu allen Seiten wegspritzte. Peter packte Tom fester am Arm, zog ihn noch energischer hinter sich her. Der pulvrige Schnee wurde immer tiefer, bald war es nicht mehr möglich, zu laufen. Bis an die Waden reichte er, kurz darauf schon bis zu den Knien. Jeder Schritt wurde zu einer Qual. Tom stürzte, rutschte, röchelte. Er bekam keine Luft mehr. Seine Beine gaben immer wieder nach. Hinter ihm sackte auch Hans in den Schnee. Peter blieb stehen.
»Steh auf« wies er Tom an. »Du kannst hier nicht liegen bleiben.«
»Lasst mich hier«, japste Tom.
Andrea war ebenfalls stehen geblieben. Sie kam zurück.
»Wir müssen sie irgendwie aufhalten«, sagte sie zu Peter. Der wandte sich suchend um. Dann schien er eine Idee zu haben.
»Wir klettern die Schneewehe dort vorne hoch.« Er packte Tom und hievte ihn sich auf die Schultern.
»Der Schnee ist zu locker«, rief Andrea. »Wenn wir nicht aufpassen, treten wir eine Lawine los.«
»Genau das ist der Plan. Los jetzt!«
Auch Hans kam wieder auf die Beine, doch er schien große Probleme zu haben, das Gleichgewicht zu halten. Imarika stützte ihn. Peter, Tom und Andrea kletterten die steile Stelle mitten auf dem Gletscher hoch. Die anderen beiden folgten ihnen mit langsam wachsendem Abstand. Andrea erreichte den höchsten Punkt als Erste. Peter war mit Tom im Schlepptau etwas langsamer. Sie rutschten immer wieder weg, erklommen dann jedoch die Steigung und traten dabei auf ein locker sitzendes Schneebrett, das sofort ins Rutschen geriet. Erst war es nur eine kleine Stelle, dann ein paar Quadratmeter. Peter griff im letzten Moment nach einer Felskante zu Andreas Füßen. Der Gletscher schien sich zu bewegen. Tom spürte den Halt unter seinen Füßen schwinden. Aber Peter umklammerte seine Hand eisern. Er zog ihn zu sich heran, bis er ihn in Sicherheit gebracht hatte. Tom blickte den Schneemassen nach, die sich von ihm weg bewegten. Innerhalb von Sekunden waren Hans und Imarika aus seinem Blickfeld verschwunden. Die Lawine riss sie gnadenlos mit sich in den Abgrund. Ein dumpfes Grollen erfüllte die Luft, wurde von nahen Felsen zurückgeworfen und tauchte die Welt in eine schauerliche Geräuschkulisse. Weiter unten gellten Schreie. Die Lawine stürzte ins Tal, riss dabei alles mit sich, was nicht seit Ewigkeiten fest mit dem Berg verwurzelt war.
Die drei Zurückgebliebenen starrten entsetzt in den Schnee. Der Wind heulte und pfiff an ihnen vorbei. Keiner sprach ein Wort, bis das Grollen weit unter ihnen verstummte. Tom spürte nichts mehr. Die Welt um ihn herum verschwamm vollends.
»Jens«, murmelte er leise. Dann wurde alles schwarz, und er verlor das Bewusstsein.
Der gnadenlose Sturm erreichte seinen Höhepunkt.