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Ruwenzori, am Vormittag des 14. Juni

Die Luft in der Bujuku-Hütte am frühen Morgen war kalt und frisch. Tom roch den Wald und spürte die hohe Luftfeuchtigkeit, die durch alle Ritzen bis in seinen Daunenschlafsack drang. Er fröstelte, schälte sich aus dem klammen Schlafsack und zwängte sich umständlich in den kleinen Freiraum zwischen den Etagenbetten. Dabei streifte er Andreas Arm mit der Hand.

Sie öffnete ihre Augen zu schmalen Schlitzen, tastete nach seiner Hand, hielt sie einen Moment lang fest und glitt zurück in den Schlaf. Tom durchfuhr ein Gefühl der Nähe.

Die Aussicht, die sich ihm draußen bot, war gigantisch: Nebel zog wie zäher Brei vom Bujuku-See kommend durch das weite Tal, ohne die Sicht darauf völlig zu verhängen. In allen Richtungen konnte er Berge erahnen. Eisiger Wind fuhr ihm durch die Haare. Die Landschaft war trotz der Höhenlage unfassbar dicht bewachsen.

Beim Frühstück diskutierten die Wanderer gemeinsam darüber, ob sie den Abzweig zu den höchsten Gipfeln des Gebirges wagen sollten. Doch lediglich Kai konnte sich für diese Idee begeistern. Als Peter in aller Deutlichkeit auf die Gefahren dieses Trips und ein sich näherndes Unwetter hinwies, sprachen sich alle anderen dafür aus, die Gipfel rechter Hand liegen zu lassen und direkt den Weg über den Scott-Elliot-Pass zu den Kitandara-Seen in Angriff zu nehmen.

Selbst Peter hatte an diesem kalten Morgen seine dicke Jacke angezogen. Kathrin leuchtete in der ansonsten eher einheitlichen Umgebung wie ein schriller Vogel auf: Sie trug eine brandneue kanarienvogelgelbe Outdoor-Jacke. Michael und Martin wirkten wie eineiige Zwillinge, denn sie hatten dunkelbraune Trekking-Hosen und dazu passende Jacken der gleichen Marke an. Der einzige Unterschied lag in der Wahl der Farbe: Michaels Jacke war rot, Martins blau.

»Ich werde heute mit Peter sprechen«, sagte Andrea zu Birgit, als sie aufbrachen. Sie sah sich suchend um. »Ich will endlich wissen, ob er überhaupt eine Ahnung hat, wo seine Wurzeln sind.«

»Warum hast du das nicht längst getan?«, fragte ihre Freundin mürrisch.

Andrea beobachtete die Guides, die den Trägern Anweisungen für den Tag gaben. »Nach der Überquerung des Passes haben wir die Hälfte der Tour hinter uns, und es geht zurück zum Basiscamp. Die Strecke wird sicher leichter sein als die erste Hälfte.«

»Das glaubst auch nur du«, rief Birgit höhnisch aus. »Dieses Gebirge nervt mich nur noch. Ich will duschen, ich will mir die Haare waschen und trockene Klamotten anziehen.«

Starker Regen begleitete die Gruppe während der ersten Etappe dieser Tagestour. Der Weg wurde immer steiler, bis sie schließlich eine glitschige Leiter an einem beinahe senkrechten Felsen erklimmen mussten. Oben angekommen wurde der Regen von scharfem Wind vertrieben, und die Schönheit der Landschaft breitete sich vor ihnen aus. Sie konnten etwa vierhundert Meter tiefer den Bujuku-See sehen, an dessen Ufer sie tags zuvor entlanggegangen waren. Von oben wirkte er unheimlich und grundlos wie der Krater eines Vulkans.

Als sie den Weg fortsetzten, erstreckte sich vor ihnen ein riesiges Areal schwarzer Felsen ähnlich einer Mondlandschaft – auf den ersten Blick abweisend, gespenstisch, atemberaubend. Sie überquerten den 4.372 Meter hohen Scott-Elliot-Pass.

Tom hatte die Kapuze seiner Jacke fest um den Kopf geschlossen. Seine Kamera hatte er mit Plastikfolie umwickelt. Immer wieder blieb er kurz stehen, um Fotos von dieser irritierenden Ödnis zu machen. Es regnete nicht mehr, dicke Schneeflocken sanken auf die Wanderer herab. Der Boden des Weges, der nur wenige Kilometer nördlich des Äquators verlief, war weiß gesprenkelt.

Nach etwa einer halben Stunde ließen sie die durch den Schnee rutschig gewordenen schwarzen Felsen hinter sich. Es hatte aufgehört zu schneien. Ein schmaler, leicht abwärts führender Weg zeichnete sich vor ihnen ab.

Aus dem Tal vor ihnen schob sich eine Nebelbank herauf und umfloss – erst nur dicht am Boden – die Pflanzen und Felsen, die auf ihrem Weg lagen. Die Luft stand still. Über den Wanderern verdunkelten aufziehende Wolken die Sonne. Tom hörte keinen Laut außer dem schmatzenden Geräusch, das seine Stiefel verursachten, wenn er sie aus dem Matsch zog und das Wasser mit einem leichten Gluckern in das getretene Loch einströmte. Sein Atem ging flach. In den letzten Tagen war es ihm immer schwerer gefallen, Luft zu holen. Er spürte die Ermattung in allen Muskeln seines Körpers.

Tom blickte sich um. 30 Meter weit konnte man sehen, weiter nicht. Direkt hinter ihm gingen Peter und Andrea, die in ein Gespräch vertieft schienen. Tom wandte den Kopf nach vorne und blieb stehen. Andrea rannte fast in ihn hinein. Sie trug eine kurz geschnittene schwarze sportliche Daunenjacke.

»He, was machst du?«, schimpfte sie. Doch Tom reagierte nicht. Er starrte auf einen Punkt oberhalb am Hang. »Was ist?«

Er drehte sich langsam zu ihr herum.

»Hast du ihn nicht gesehen?«, flüsterte Tom.

»Wen?« Andrea lächelte etwas hilflos.

»Den Mann.« Er blickte sie an und schrak vor der Angst in ihren Augen zurück.

Peter trat zu den beiden. Als Tom ihm von seiner Beobachtung berichtete, sah sich Peter erschrocken um.

»Was ist?«, wollte Andrea wissen.

»Nichts«, antwortete Peter nervös. »Gleich wird der Weg besser. Lasst uns diese unheimliche Gegend hinter uns bringen.« Er schob sich an den beiden vorbei, denn hinter ihm trafen nun auch Kai und Kathrin auf die Gruppe, die den schmalen Weg versperrte.

»Peter, da war jemand!«, sagte Tom. Seine Stimme war nachdrücklich. Er wies mit dem rechten Arm den Hang hinauf. Die Sicht war auf zwanzig Meter gesunken.

»Sobald wir das obere Kitandara-Tal hinter uns gebracht haben, geht es wieder bergab. Auf der anderen Seite des Bergrückens ist das Wetter auch meistens besser.« Peter ging weiter.

»PETER!« Tom eilte hinter dem Guide her, hielt ihn am Ärmel der Jacke fest. »Da! War! Jemand!« Peter wandte sich zu Tom um, blickte ihn sorgenvoll an, bevor er vorsichtig dessen Finger von seinem Arm löste.

»Tom. Da war niemand. Glaub mir.« Er begutachtete Andrea und die anderen und wollte weitergehen, doch Tom hielt ihn erneut zurück.

»Ich weiß, dass ich in den letzten Tagen Dinge gesehen habe, die es nicht gibt. Doch diesmal war das anders!«

Peter reagierte nicht.

»Ein Mann«, sagte Tom leise zu sich selbst. »Mit einem Gewehr.« Als er realisierte, was er gerade sagte, lief es ihm eiskalt den Rücken herunter.

»Tom, lass uns weitergehen.« Andrea legte ihm sachte die Hand auf den Arm.

»Du glaubst mir auch nicht, oder?« Niedergeschlagenheit lag plötzlich in seiner Stimme. Er wandte sich nach vorne, doch Andrea hielt ihn zurück.

»Tom. Was auch immer du gesehen hast – wir ändern nichts daran, wenn wir hier stehen bleiben und darauf warten, dass etwas passiert. Wir müssen weiter. Raus aus diesem gottverdammten Nebel.«

Tom nickte.

Sie tasteten sich über den glitschigen Untergrund, halfen sich an Engstellen gegenseitig und hangelten sich an den hohen Stämmen der Senezien vorbei, die wie stumme Gespenster aus der Erde ragten. Schweigend liefen sie eine Weile hintereinander her. Die Gruppe zog sich durch das unterschiedliche Tempo weit auseinander. Tom vermutete, dass er sich irgendwo in der Mitte befand. Nach und nach verlor er die Orientierung, wusste nicht mehr, wer von den anderen vor ihm lief und wer zurückgefallen war. Da trat er auf einen mit Eis überzogenen Stein und glitt aus. Im letzten Moment gelang es ihm, seinen Bambusstock sicher aufzusetzen und sich abzufangen. Schwer atmend stand Tom am Rand des Weges. Links neben ihm ging die Böschung steil hinab. Wie tief konnte er nicht erkennen. Er ging langsam weiter, achtete nun mit aller Konzentration auf jeden Schritt.

Ein schriller Schrei ließ ihn aufschrecken. Tom blieb stehen und starrte in den Nebel. Der Schrei war von vorne gekommen. Er spürte seinen Puls bis in den Hals. Andrea stand direkt hinter ihm, blickte ebenfalls gegen die weiße Wand.

Der Schrei ertönte erneut. Alle Haare seines Körpers stellten sich auf. War das ein Mensch? Oder ein Tier? Hans hatte von den Ruwenzori-Leoparden erzählt, die seit Jahrzehnten niemand mehr gesehen hatte. Ein drittes Mal erscholl ein Schrei, diesmal viel weiter weg. Dann war es still. Totenstill. Toms Herz raste. Er stand dicht neben Andrea. Ängstlich ergriff sie seine Hand, die er unwillkürlich nach ihr ausgestreckt hatte. Sie war kalt.

»Etwas ist anders.« Tom machte einen Schritt zur Seite und sackte bis zum Knie in den Schlamm, der sofort von oben in den Stiefel eindrang. Andrea packte ihn am Arm. Kai kam ihnen zur Hilfe, ergriff Toms anderen Arm, bevor er auch noch mit dem zweiten Fuß versinken konnte. Gemeinsam zogen sie ihn aus dem Morast.

»Irgendetwas passiert hier«, flüsterte Tom atemlos, als er versuchte, den größten Schmutz aus dem Stiefel herauszubekommen. Ihm war schwindelig.

»Tom!« Andrea schaute ihm geradewegs in die Augen. »Wir gehen jetzt weiter.«

Tom straffte sich, sog die kühle Luft tief in seine Lungen. Als er sich umwandte, sah er Kathrin, die ihn angsterfüllt beobachtete. Sie war so weiß wie der sie umgebende Nebel, ihre Zähne klapperten. Es war das einzige Geräusch, bis hinter ihnen weitere Gestalten auftauchten. Nzanzu und Birgit. Kai gab Kathrin die Hand, zog sie wortlos zu sich heran und ging mit schnellen Schritten weiter.

Nzanzu betrachtete Tom, sagte aber nichts. Das allgegenwärtige Schweigen machte Tom fast noch mehr Angst als die Schreie, für die er keine Erklärung fand.

Gespenstische Schatten. Feuchtigkeit und Kälte drangen durch Hose und Jacke. Tom war schweißgebadet. Er bekam kaum Luft. Schweigend marschierten sie hintereinander den schlammigen Weg entlang. Tom spürte die Anspannung in jeder Pore seines Körpers. Immer wieder meinte er, Gestalten im Nebel zu erkennen. Für einen Moment flammte in ihm der Gedanke auf, wie dumm es gewesen war, genau jetzt diese Reise anzutreten, doch dann wurde ihm schlagartig klar, dass er seinem Ziel näher war als je zuvor. Jetzt musste er die Zähne zusammenbeißen. Dies war nicht der Ort, an dem er Schwäche zeigen durfte. Er hatte die anderen vor sich aus den Augen verloren, wurde immer langsamer.

Schotter knirschte unter seinen Füßen. Der Bewuchs ging zurück, die Kälte war schneidend. Der Weg führte nun gefährlich steil abwärts. Immer wieder musste Tom seine Hände zur Hilfe nehmen, um nicht abzurutschen. Bald waren um ihn herum nur noch Steine, Felsen und Schnee. Er keuchte. Obwohl er Handschuhe angezogen hatte, spürte er seine Fingerspitzen nicht mehr. Ständig rutschte er weg.

Schließlich hatte er das schlimmste Stück hinter sich gebracht. Die ersten höheren Senezien traten wieder in Toms Sichtfeld. Und wieder meinte er neben sich Gestalten zu sehen. Die Schemen verschwommen vor seinen Augen. Auch beim Aufstieg hatte er diese Pflanzen gesehen, erinnerte er sich. Das war also ein gutes Zeichen, bald würden sie aus dieser abweisenden Hölle rauskommen. Stumm standen die gespenstisch verhangenen Stämme an beiden Seiten des Weges. Sie bewegten sich nicht. Sie blickten ihn nur an. Mit weißen Augen im schwarzen Stamm und Ästen, die wie Arme an ihnen herabhingen.

Tom wischte sich den Schweiß von der Stirn. Andrea musste unmittelbar vor ihm sein. Stimmen wisperten in einer Sprache, die er nicht verstand. Er hatte den Eindruck, dass die Sicht sich allmählich verbesserte. In lockerem Abstand reihten sich nun Pflanzen rechts und links auf. Wenn er eine von ihnen passierte, trat bereits die nächste aus dem Nebel hervor. Er blieb stehen, um sie sich genauer anzusehen. Sie waren mit grün-braunen Tarnuniformen umhüllt. Was ging hier vor? Tom ging der Schreck bis ins Mark. Er sah in Augen, menschliche Augen. Eine weiße Zahnreihe entblößte sich. Vor ihm stand ein uniformierter Junge, die Kalaschnikow locker über die Schulter geworfen und grinste. Tom drehte sich um. Auf der anderen Seite des Weges das gleiche Bild. Freundliche, wenn auch etwas hämisch wirkende Augen und ein strahlend weißes Lächeln in einem schwarzen Gesicht. In einer wie betäubten Ruhe ging er weiter. Nach hundert Metern tauchten Menschen vor ihm aus dem Nebel auf, die auf einem kleinen Plateau warteten.

Alle waren da. Die Träger, die sich ängstlich an einen Felsen kauerten; Steve, der nervös auf seiner Unterlippe kaute; Hans, der irritiert von einem zum anderen sah; Michael, der erschöpft auf einem Stein saß; Martin, der immer wieder Steves Blick suchte, um zu verstehen, was geschah; Peter, etwas abseits, nervös mit seinem Trekkinghut spielend; Kai und Kathrin, die sich gegenseitig im Arm hielten; Manfred, der sich verzweifelt die Haare raufte. Und Soldaten. Fünfzehn oder zwanzig. Tom konnte sie nicht zählen, weil seine Gedanken durcheinander rasten. Er trat zu seiner Gruppe, sah einen nach dem anderen an, ging zu Andrea und griff nach Ihrer Hand. Nzanzu und Birgit tauchten noch nach ihm aus dem Nebel auf, stockten, als sie die anderen bemerkten, und traten dann ebenfalls auf das Plateau.

Peters Stimme klang entfernt: »Sie sagen, wir sind entführt.«

Stille.