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Im Lager, in der Nacht des 15. Juni
Birgit und Kai waren Innocent und seinen Leuten direkt in die Arme gelaufen. Nur hundert Meter vom Lager entfernt. Die Männer waren plötzlich vor ihnen in der Dunkelheit aufgetaucht. Sie hatten die beiden Entflohenen zu Boden geworfen, sie gepackt und ins Lager zurückgeschleppt. Dort herrschte ein heilloses Durcheinander. Gerade wurden weitere Soldaten in Gruppen eingeteilt und den anderen Flüchtenden hinterhergeschickt.
Birgit war einfach nicht schnell genug gewesen, um den durchtrainierten jungen Soldaten zu entkommen. Außerdem hatte sie sich nicht orientieren können. Andrea und Tom waren sofort in der Dunkelheit verschwunden. Die anderen hatte sie ebenfalls aus den Augen verloren. Nur Kai war in ihrer Nähe geblieben.
Nun saßen die beiden mit gefesselten Armen in der Mitte des Lagers. Paul drehte nervös seine Runden über den Platz, schrie immer wieder herum, sprach mit sich selbst, trat mit Wucht gegen jeden Gegenstand, der ihm vor die Füße kam. Als einer der Kindersoldaten im Schlamm des Platzes ausrutschte, sprang Paul sofort zu ihm und schlug ihn so hart ins Gesicht, dass der Junge zwei Meter über den Boden rutschte. Birgit war bleich und zitterte. Mit weit geöffneten Augen beobachtete sie den Rebellengeneral, wie er im schwachen Schein der Petroleumlampen immer wieder die Fassung verlor.
Dann hörte sie Stimmen aus der Finsternis. Ein Trupp Soldaten kam auf den Platz marschiert. Sie hatten einige andere gefunden und brachten sie zurück. Es waren nicht alle. Birgit konnte Steve erkennen, der panisch zu Paul hinübersah. Martin war dabei, genauso wie Nzanzu. Und Chaga, der letzte der Träger, der ihnen noch geblieben war. Das waren alle. Andrea war nicht dabei. Tom nicht und Hans und Imarika auch nicht.
Die Neuankömmlinge wurden an den Händen gefesselt. Sie wurden in weitem Abstand zueinander gesetzt, jeder von einem Rebellen einzeln bewacht. Sie durften nicht sprechen, sich nicht bewegen, mussten zu Boden schauen. Jeder Kontakt untereinander war verboten. Zu Birgits Angst kam nun auch noch Wut. Wut über Andreas Naivität. Glaubte sie wirklich, sie könnte diesen Männern in der lebensfeindlichen Wildnis des Ruwenzori entkommen? Wut über sich selbst, weil sie nicht genug protestiert hatte. Wut, weil sie sich überhaupt auf diese Reise eingelassen hatte. Das alles war blanker Irrsinn.
Innocent trat mit wutverzerrtem Gesicht auf Paul zu und baute sich dicht vor ihm auf.
»Du hast die Bewachung den Kindern überlassen?«, blaffte er den General an. »Bist du vollkommen übergeschnappt?«
»Ich entscheide über die Verteilung der Aufgaben«, brüllte Paul zurück. Die lange Narbe in seinem Gesicht pulsierte. Er funkelte Innocent an. In seinen Augen stand der kalte Hass.
»Ich fasse es nicht. Du bist sogar unfähig, eine kleine Miliz zu führen«, ereiferte sich Innocent ebenso wütend, zuckte dann aber mit den Schultern und wandte sich erhobenen Hauptes ab.
»Was hast du gesagt?«, zischte Paul ihm hinterher. Er hatte Innocent mit zwei Schritten eingeholt und riss ihn herum. Die beiden standen nur wenige Zentimeter voneinander entfernt und maßen sich mit Blicken. »Ich lasse dich sofort erschießen, wenn du noch einmal meine Position untergräbst!«
Der zischende Atem des Rebellenführers war das einzige Geräusch, das in den nächsten Sekunden zu hören war. Dann breitete sich über Innocents Gesicht ein Grinsen aus. Er lachte seinem General offen ins Gesicht und wandte sich wieder ab.
Verblüfft schaute Paul ihm einen Moment lang nach. Dann bellte er zwei der älteren Soldaten einen Befehl zu. »Packt ihn. Macht kurzen Prozess mit ihm. Ich erwarte, dass ich ihn nie wieder sehen muss!«
Die beiden Männer blieben unschlüssig ein paar Meter entfernt stehen. Innocent sah sie herausfordernd an.
Dann wandte er sich an Paul: »Das wirst du nicht wagen. Du weißt genau, dass du mich brauchst. Und dass die Männer rebellieren werden, wenn du mich tötest.«
Die übrigen Soldaten kamen langsam auf die kleine Gruppe zu. Sie wirkten bedrohlich. Die eiskalte Luft schien von den Gedanken an Mord und Meuterei wie entflammt.
Birgit hatte während des Streits den Kopf gehoben und die Auseinandersetzung verfolgt. Tiefes Entsetzen stand in ihren Augen. Was würde mit ihr und den anderen Gefangenen geschehen, wenn sich die Machtverhältnisse änderten? Wusste Paul überhaupt, wer Birgit war? Drohte ihm nicht Gefahr, wenn er sie weiterhin so demütigend behandelte?
Birgit suchte den Blick der anderen, doch auch dort sah sie nur Angst. Ihr Leben war nichts mehr wert.
Paul brüllte einen Befehl in die eingetretene Stille, der die Männer zur eiligen Rückkehr in ihre Behausungen trieb, wandte sich ab und ging auf seine Hütte zu.
Mit der Ruhe, die einkehrte, brach die Kälte der Nacht wieder über die Gefangenen herein. Immerhin regnete es nicht. Birgit lag gefesselt auf der Seite und versuchte zu schlafen. Die anderen folgten ihrem Beispiel. Doch an Erholung war nicht zu denken.
Als der Morgen anbrach und die Sonne wieder ein wenig Wärme mit sich brachte, richtete Birgit sich mühsam auf. Ihr ganzer Körper war verspannt, die Beine bleiern und die Handgelenke schmerzten. Paul war schon wach und scheuchte seine Männer aus den Verschlägen. Er rief zum Aufbruch.
Die Soldaten packten beinahe alles ein, was ein deutlicher Hinweis darauf war, dass sie nicht an diesen Ort zurückzukehren planten. Um die Gefangenen scherte sich niemand. Sie wussten weder, wo die Soldaten hingehen wollten, noch, was mit ihnen geschehen sollte. Bei aller Geschäftigkeit um sie herum blieb es ihr Los, gefesselt auf dem Boden zu sitzen, ohne Essen, ohne Trinken, unfähig, irgendetwas zu tun.
Als sich der Tross langsam in Bewegung setzte, saßen sie noch immer dort. Lediglich vier Soldaten waren zu ihrer Bewachung abkommandiert und blieben im Lager zurück. Rukundo, etwa Mitte zwanzig, und drei Kindersoldaten. An einer Hand konnte Birgit nun abzählen, wie wichtig sie und die anderen Gefangenen für Paul noch waren. Diese Wachen waren nicht ernst zu nehmen. Dennoch hatte Paul ihnen eindringlich klargemacht, wie wichtig ihre Aufgabe sei. Und dass er sie eigenhändig umbringen werde, sollten sie auch nur einen der Gefangenen fliehen lassen.
Kurz bevor die Männer im Wald verschwanden, löste Hitimana sich aus seiner Reihe und schlich zu den Gefangenen zurück. Er blickte sich ständig prüfend um, ob die anderen sein Weggehen bemerkten. Er fixierte die gefesselten Geiseln, entschied sich dann für Birgit. Lautlos hockte er sich neben sie. Sie sah ihn forschend an.
»Die Mädchen ...«, sagte er vorsichtig. »Achte darauf, dass sie gut behandelt werden.«
Birgit betrachtete ihn spöttisch. »Ist dir aufgefallen, dass ich selbst gefesselt bin?«, fragte sie zynisch. Hitimana ignorierte ihre Worte.
»Sprich mit Rukundo. Er soll sie gehen lassen.«
Birgit lachte leise. »Und du glaubst wirklich, er hört auf mich, wenn Paul ihm dafür den Tod androht? Das ist doch lächerlich.«
Hitimana fixierte sie einen Moment nachdenklich. Dann sagte er: »Nein, vielleicht nicht. Aber versuch es trotzdem.«
In diesem Moment entdeckte Birgit die Hoffnung in seinen Augen. Sie bemerkte das Feuer, das in Hitimana brannte. Sie nickte stumm.
»Danke«, hauchte der Junge.
Eilig erhob er sich wieder und gesellte sich zu seinen Kameraden, ohne sich noch einmal umzusehen. Die schmutzigen Uniformen verschwanden in einer langen Reihe zwischen den Bäumen, eine Weile hörte Birgit sie noch durch das Unterholz brechen. Nach und nach wurden die Schritte und die Stimmen leiser. Dann kehrte Stille ein.