Tonkuhle
Ich wache davon auf, dass Lexi jaulend und winselnd auf das Bett springt. Oma Emmi hat ihn hereingelassen, als Weckkommando. Sofort renne ich zum Fenster und reiße die schweren, grünen Vorhänge auf: herrlichster Sonnenschein! Oma Emmi hat schon Frühstück vorbereitet, das ist ein Service! Es gibt getoastetes Roggenbrot mit selbstgemachter Erdbeermarmelade und dazu einen grünen Apfel. Ausgerechnet Apfel, und dann noch grün! Ich mag rohes Obst genauso wenig wie Tee und Äpfel schon gar nicht, höchstens mal Erdbeeren. Oma Emmi besteht jedoch darauf, dass ich den Apfel ganz esse. Ich sage ihr, dass ich das Geräusch beim Reinbeißen nicht abkann, alles krampft sich dann in mir zusammen, und ich könnte mich schütteln. Doch so einfach komme ich nicht davon: Sie schält den Apfel und schneidet ihn in kleine Stücke. Wie ein alter Opi, denke ich, fehlen nur noch Haferflocken. Na ja, ich tu ihr den Gefallen; man merkt ja, dass sie beim Essen überhaupt keinen Spaß verträgt.
Nach dem Frühstück gilt es, die Lage auf dem Holzapfelhof zu erkunden. Ich pirsche vorsichtig die Schulstraße hoch. Gähnende Leere, kein Mensch weit und breit. Verborgen hinter den schützenden Eichen, werde ich Zeuge eines denkwürdigen Schauspiels: Manfred und Wilfried junior kommen in knallgelben, nagelneuen Nylon-Windjacken aus dem Haus und schuppern sich damit an einer riesigen Eiche, so als wollten sie sich den Rücken kratzen. Ich verstehe beim besten Willen nicht, warum die sich die Jacken gleich ruinieren, und kann meinen Blick nicht abwenden, bis wie aus dem Nichts Hummel vor mir auftaucht. In diesem Moment bin ich kein Freund der Familie, sondern ein Eindringling. Vor Panik spüre ich schon fast, wie mich das mehr als fünfzig Kilo schwere Tier in die Wade beißt. Doch in allerletzter Sekunde sieht Manfred mich und gibt Entwarnung. «Hummel, ruhig, ganz ruhig!» Daraufhin scharwenzelt der Hund um mich rum und bewegt dabei hektisch sein Hinterteil. Ob so ein Tier nicht merkt, dass es keinen Schwanz hat? Mir fällt erst mal ein Stein vom Herzen. Manfred winkt mich auf den Hof. Er scheint guter Dinge zu sein. Dann kann die gestrige Bestrafung ja doch nicht so hart ausgefallen sein. Ich frage ihn, was das soll mit dem Reiben. Manfred erklärt, dass ihre Mutter ihnen gestern die Jacken bei Kaufhaus Bader in Tostedt gekauft hat und dass sie das mit allen neuen Kleidungsstücken machen, weil sie es nicht abkönnen, wenn die neu aussehen, darum sauen sie die als Erstes immer ein. Wenn mir so was mal einfallen würde! Ich halte jedoch besser den Mund und tu so, als wäre das die normalste Sache der Welt. Ich bin schließlich neu und muss mich anpassen und mich Schritt für Schritt mit den Gepflogenheiten vertraut machen. Plötzlich ertönt ein Pfiff. Wilfried junior zuckt zusammen, stellt sofort die Schupperei ein und rennt zu den Stallungen. Wie in Stein gemeißelt steht Herr Holzapfel im Türrahmen und erwartet seinen Erstgeborenen. Sein Gesicht ist schon wieder rot wie eine Rübe. Manfred ist ebenfalls starr vor Schreck, rührt sich aber nicht vom Fleck, der Pfiff galt wohl Wilfried. Vielleicht ist für Wilfried ein Pfiff das Signal und für Manfred zwei, das lässt sich sicher bald herausfinden. Alles zu seiner Zeit. Nachdem Wilfried senior und Wilfried junior von der Bildfläche verschwunden sind, setzt Manfred unverdrossen die Schupperei fort. Die Jacke ist mittlerweile graugrün, und von der Ursprungsfarbe kann man kaum noch etwas erkennen. Bei uns zu Hause käme eine Jacke in so einem Zustand höchstens noch in die Kleidersammlung. Erneut ertönen zwei schrille Pfiffe. Manfred macht sich sprungbereit. Clever kombiniert!
«Nach dem Mittag wieder hier», sagt er. «Nimm dein Fahrrad mit und Badesachen und was zu lesen.»
Dann stratzt er weg.
Schwer zu sagen, was das genau von der Uhrzeit her heißt, wahrscheinlich eins, halb zwei. Ich beschließe, vor dem Mittagessen die weitere Umgebung zu erkunden. Geht man die Schulstraße ins Dorf hinein, kommt rechter Hand zuerst die Schule, im Dorf selber gibt es dann einen kleinen Edekamarkt, den Schlachter Lohmann, die Bäckerei Weiss und die Kneipe «Zur scharfen Ecke», die aber um diese Zeit natürlich noch geschlossen hat. Beim Schlachter hingegen herrscht reger Betrieb. Hier kauft Oma Emmi also unsere Koteletts. Beim Gedanken daran bekomme ich Appetit, und ich frage mich, ob es heute wohl wieder Fleisch gibt.
Lexi lässt vor Freude Wasser und winselt, dass es einem durch Mark und Bein geht. Irgendwas stimmt mit dem Hund nicht, wie er verzweifelt an mir hochspringt, wirkt es so, als wäre er mit seinem Hundeleben ganz und gar nicht zufrieden. Vielleicht, denke ich, ist er kein Hund, sondern ein Mensch, den es von einem Moment zum nächsten in einen Dackelkörper verschlagen hat. Und jetzt kann er sich nicht verständlich machen und ist bis zum Lebensende dazu verdammt, als Hund durch die Gegend zu rennen.
Schon als ich die Auffahrt hochgehe, riecht es nach Kotelett. Von mir aus bräuchte sich das nie zu ändern, ich könnte jeden Tag Kotelett essen, nur die Beilagen müssten ab und an ausgetauscht werden.
«In zehn Minuten gibt es Essen. Wasch dir die Hände und setz dich schon mal auf deine vier Buchstaben.»
Als ich ins Wohnzimmer gehe, trifft mich ein Schock: Im Fernsehsessel sitzt eine steinalte, kleine Frau mit einer viel zu großen Brille. Sie hat einen winzigen Mund und trägt dicke Strümpfe, ich weiß zufällig, dass es medizinische Strümpfe gegen Krampfadern sind. Vom Alter schätze ich sie auf achtzig bis neunzig. Wie sie so stumm und reglos dasitzt, könnte man meinen, es mit einem Gespenst zu tun zu haben. Kaum habe ich mich vom ersten Schrecken erholt, kommt Oma Emmi schon mit einer dampfenden Schale Petersilienkartoffeln herein.
«Das ist Frau Donath, Mathias, die Mutter von Herrn Donath. Sie kommt manchmal vorbei.» Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, und gebe Frau Donath die Hand. Ihre ist winzig, die Haut gefleckt. Frau Donath hat überhaupt keinen Händedruck, und man hat Angst, ihre Knöchelchen zu brechen. Ich kenne Herrn Donath nur vom Hörensagen, die Donaths sind eine der neu hinzugezogenen Familien aus den Fertighäusern. Komischer Name, Donath. Ich stelle mir vor, dass er eigentlich Donald heißt und auch so aussieht wie Donald Duck. Wenn man die alte Frau Donath genauer unter die Lupe nimmt, sieht sie eigentlich auch aus wie eine Ente. Mir ist es überhaupt nicht recht, dass während des Mittagessens eine fremde Frau an unserer Tafel sitzt, bei den Mahlzeiten sollten eigentlich nur Familienmitglieder am Tisch Platz finden. In der Küche stelle ich Oma Emmi deswegen zur Rede. Sie sagt, dass Frau Donath fast jeden Tag außer am Wochenende kommt und dann einfach nur ein paar Stunden im Sessel sitzt. Sie stört nicht weiter, und irgendwann geht sie von selber wieder. Zu essen und zu trinken möchte sie auch nichts. Frau Donath ist schwerhörig und daheim den ganzen Tag allein, weil Herr und Frau Donath berufstätig sind. Da ist es ein Gebot der Mitmenschlichkeit, sie gewähren zu lassen. Ich vermute, dass Oma Emmi von ihrem seltsamen Gast genauso profitiert, denn obwohl Gespräche mit Frau Donath kaum möglich sind, ist sie doch immerhin ein menschliches Wesen, das man betüddern kann. Frau Donath ist für Oma Emmi so etwas wie Frau Klippstein für meine richtige Oma, nur dass man Frau Klippstein nicht sieht, während man Frau Donath sieht, aber nicht hört. Als Nächstes stellt Oma Emmi eine Schüssel mit Mohrrüben auf den Tisch. Die sehen aber auch nicht mehr gut aus. Ich ekle mich zwar, muss aber wenigstens ein klein wenig davon essen, damit Oma Emmi nicht beleidigt ist. Unauffällig spucke ich den Speisebrei in meine Hand und halte sie dann unter den Tisch, wie gestern Oma Emmi mit dem Kotelett. Sofort spüre ich Lexis gierige Hundeschnauze, er kann ja nicht ahnen, was ich ihm da hinhalte. Nach wenigen Augenblicken fängt er an zu würgen, dann wieselt er in den Flur, und man vernimmt Kotzgeräusche.
«Wollen Sie nicht doch eine Kleinigkeit essen, Frau Donath, ich habe wieder mal viel zu viel gemacht.»
Das stimmt natürlich nicht, man wird gerade eben so satt, für Frau Donath reicht es nie und nimmer, aber die zuckt sowieso nur mit den Schultern und hält eine Hand ans Ohr, weil sie nichts verstanden hat. Oma Emmi wiederholt den Satz in doppelter Lautstärke, doch Frau Donath winkt ab und nuschelt irgendetwas Unverständliches vor sich hin. Man hört nur «Frau Beuger» raus. Die könnten sich auch sechzig Jahre kennen und würden sich immer noch siezen. Plötzlich und unerwartet springt Lexi Frau Donath auf den Schoß, die sofort panisch um sich schlägt und hohe, fieselige Töne von sich gibt. Oma Emmi schimpft: «Lexi, pfui, lässt du das wohl bleiben.»
Höchste Zeit, dieses Irrenhaus zu verlassen.
«Ich geh dann mal wieder zu Holzapfels rüber.»
«Was wollt ihr denn machen?»
«Weiß ich nicht. Mal Manfred fragen.»
In der Garage steht neben Onkel Horsts Kadett ein altes, rostiges Hollandrad. Oma Emmi benutzt es sicher nicht, bestimmt hat es auch Onkel Horst gehört. Wieso verkauft sie das Auto eigentlich nicht, wenn sie nur so wenig Rente bekommt? Wahrscheinlich will sie es als Andenken behalten. Ich nehme mir das Rad. Manfred wartet auf der Straße.
«Da bist du ja endlich! Lass mal los. Wir fahren zur Tonkuhle.»
Ich habe nicht den geringsten Schimmer, was das sein soll, aber ich bin auch nicht in der Position, dumme Fragen zu stellen, also radele ich hinter ihm her. Es geht dorfauswärts über die Eisenbahnbrücke, kurz dahinter mündet die Straße in einen Trampelpfad, den nur mehr Trecker, Mähdrescher und andere landwirtschaftliche Fahrzeuge passieren können. Wir fahren bestimmt zwei Kilometer durch den Wald, bis Manfred anhält und sein Fahrrad in die Büsche pfeffert. Mir ist zunächst völlig schleierhaft, was das alles mit einer Tonkuhle zu tun haben soll, aber nach ein paar Schritten tut sich vor uns ein mit dichten Hecken und Büschen umgebenes Gelände auf, das von einem mannshohen Zaun umgeben ist. Wir tasten uns durchs Gestrüpp, bis wir zu einem Loch kommen, das jemand in den Zaun geschnitten hat, wahrscheinlich Manfred. Er macht das Psssst-Zeichen, dann klettern wir durch das Loch auf das Grundstück und erreichen nach wenigen Metern ein Holzhaus. Von hier aus kann man mühelos auch den Rest der Anlage überblicken: Linker Hand befinden sich drei kleine Teiche und rechts ein großer, an dessen Ende ein von Menschenhand aufgeschütteter Sandstrand ist, von dem aus ein Steg zu einem Mini-Badehäuschen mit Sprungbrett führt.
«Niemand da», sagt Manfred und grinst.
«Ich versteh nur Bahnhof.»
Er klärt mich auf: «Das Grundstück hier gehört den Kempermanns, so heißen die, die wohnen in Hamburg und sind meist nicht da. In den kleinen Teichen züchten sie Zierfische, und im großen wurde früher Ton abgebaut, und später ist die Kuhle irgendwann vollgelaufen wie bei so ’nem Bergwerk. Wenn Kempermanns nicht da sind, kann man hier heimlich schwimmen. Man darf sich nur nicht erwischen lassen, und die dürfen das Loch im Zaun nicht entdecken. Wenn die am Wochenende kommen, haben die nämlich zwei Schäferhunde, und die sind mannscharf.»
Immer diese Hunde. Mir wird mulmig. «Und was ist, wenn die plötzlich doch auftauchen?»
«Hörst du nicht zu, du Eddel? Die kommen nur am Wochenende. Außerdem hört man rechtzeitig das Auto, und bis die uns dann entdeckt haben, sind wir längst über alle Berge. Wir müssen nur unsere Sachen zusammenhalten.»
Ich hab trotzdem Schiss, es sind schließlich Ferien. Was ist, wenn Kempermanns auf die Idee kommen, bei dem herrlichen Wetter mal außer der Reihe einen Ausflug zu unternehmen? Aber ich sag lieber nichts. Wir legen uns in Badehose an den Strand und genießen die Sonne, also ich in Unterhose, ich wusste ja nicht, wo es hingeht. Eine Hand habe ich immer bei den Klamotten, falls es plötzlich schnell gehen muss. Doch es ist gleich vier, so spät kommen die Kempermanns sicher nicht, beruhige ich mich, und bald schon lässt die Anspannung nach. Herrlich ist es hier, tausendmal besser als im Freibad Außenmühle. Kein Chlor, keine Umkleiden, keine Überfüllung, kein Bademeister, kein nix. Und vor allem kein Eintritt. Wir legen uns an den Strand und lesen. Manfred hat Asterix-Hefte mitgenommen, ich lese Vampir-Horror-Hefte, die ich mal im Altpapier gefunden habe. Das waren ungefähr zwanzig Stück, die ich immer wieder rauf und runter durchschmökere. Heute habe ich «Das Archiv der schwarzen Särge» am Wickel. Manfred liest «Asterix bei den Briten». Nach einer halben Stunde wird ihm langweilig, und er kramt eine Packung Lux-Zigaretten aus seinem Beutel.
«Rauchst du?»
Ach du Scheiße, Manfred ist bestimmt nicht viel älter als ich! In dem Alter kann man doch nicht schon rauchen, im Wachstum sind Zigaretten noch viel schädlicher als ohnehin schon. Aber vielleicht fangen die hier auf dem Land früher an und nicht erst mit vierzehn, fünfzehn.
«Ja, logisch.»
Manfred reicht mir eine Kippe, lässt ein Streichholz aufflammen und hält es in die Kuhle seiner Handfläche. Ich beuge mich rüber, es knistert leise, als der Tabak Feuer fängt. Ich halte den Rauch so lange im Mund, wie ich kann, damit er denkt, ich rauche auf Lunge. Aber so leicht lässt er sich nicht veräppeln.
«Du paffst ja bloß!»
Jetzt hat er mich erwischt, und ich muss in den sauren Apfel beißen. Ich versuche, den Rauch nicht in die Lunge, sondern nur in den Hals zu ziehen, aber es zwiebelt trotzdem wie sonst was, und mir wird schwindelig. Obwohl mir ganz übel ist, rauche ich weiter bis zur Schrift, dann will ich die Kippe endlich ausmachen, aber Manfred protestiert.
«Erst mal richtig aufrauchen.»
Er weiß ganz genau, was los ist. Ich kann wirklich nicht mehr. Einen Zug noch, und ich kotze den ganzen Strand voll.
«Nee, keine Lust mehr.»
Bevor er etwas sagen kann, renne ich zum Sprungbrett und jumpe mit Köpper in die Tonkuhle. Ich glaube, das sah ganz gut aus. Ich tauche unter und spüle heimlich meinen Mund mit Wasser, um den widerlichen Geschmack loszuwerden. Manfred springt hinterher, und gemeinsam schwimmen wir zum anderen Ende und wieder zurück, mindestens hundert Meter die Strecke sind das. Über uns der wolkenlose, glänzende Himmel und um uns das kühle Nass. Ein Vogelschwarm erhebt sich wie in Zeitlupe und explodiert am Himmel, so sieht es jedenfalls aus. Ist das schön hier! Wie im Paradies. Vielleicht fahren wir ab jetzt jeden Tag hierher, sechs Wochen am Stück! Ich frage Manfred das aus Angst vor einer Enttäuschung nicht, aber die Chancen stehen gut, glaube ich. Nach dem Schwimmen steckt er sich die nächste Kippe an. Ich winke ab. Zum Glück lässt er mich, er weiß ja sowieso, was los ist. Mit geschlossenen Augen raucht er die Zigarette bis zum Filter runter. Er macht das nicht, um zu schocken, ihm schmeckt es wirklich. Manfred sieht aus, als ob er schwere Knochen hätte, und die einzelnen Teile seines Körpers passen nicht richtig zueinander, Beine und Kopf sind zu groß für den Rest. Ich glaube, dass er unwahrscheinliche Kraft hat, das liegt bestimmt in der Familie. Man sieht das auch bei Wilfried junior. In ein paar Jahren werden es die Söhne sein, die ihrem Vater eine Abreibung erteilen, und nicht umgekehrt.
Viel sprechen wir nicht, er fragt mich nur einmal, auf welche Schule ich gehe. «Hauptschule», antworte ich, weil ich nicht als Streber gelten will. Glück gehabt, Manfred geht auch auf die Hauptschule. Wenn er fertig ist, will er eine Ausbildung auf dem Lernhof machen und Bauer werden. Allerdings muss er einen eigenen Hof aufmachen, weil Wilfried junior als Erstgeborener den Holzapfelhof übernehmen soll.
Plötzlich fängt er laut an zu fluchen und schlägt sich volle Kanne auf den Oberschenkel.
«Scheiße, Stechmücken.»
Diese eine Sorte Mücken gibt es nur hier, behauptet er, und ihr Stich ist fast so schmerzhaft wie der von Wespen oder Bienen. Eins zu eine Million, schießt es mir wieder durch den Kopf. Wenn nun alle Insekten, die für einen vorgesehen sind, auf einmal auftauchen? Dann hätte man keine Chance! Stechmücken haben als einzigsten Vorteil, dass sie erst am späten Nachmittag kommen, sagt Manfred. Wenn also die Stechmücken über einen herfallen, ist der richtige Zeitpunkt gekommen, um hier zu verschwinden, weil wir dann ja sowieso nach Hause müssen. Gesagt, getan. Wir packen unsere Sachen und fahren zurück.
Vor dem Holzapfelhof verabschieden wir uns.
«Morgen fahren wir wieder. Dann aber um eins.»
Juhu, morgen wieder, meine Hoffnung hat sich also erfüllt!
Oma Emmi ist ganz fahrig, weil es schon nach sechs ist. Obwohl ich extra drauf achte, ihr nicht zu nahe zu kommen, riecht sie es:
«Sag mal, Mathias, hast du etwa geraucht?»
«Wie kommst du denn darauf? Ich muss mal.»
Ich stürze ins Bad und putze mir wie ein Verrückter die Zähne. Oma Emmi benutzt Lacalut-Zahncreme, die schmeckt wie Knüppel auf den Kopp. Danach betätige ich die Spülung. Oma Emmi ist weiter misstrauisch.
«Hauch mich mal an.»
Was bleibt mir anderes übrig.
«Du riechst nach Zahnpasta. Du hast doch geraucht.»
«Stimmt nicht. Ich hatte so einen schlechten Geschmack im Mund, da darf man sich ja wohl die Zähne putzen.»
«Ach, Mathias, versprich mir, dass du mir keinen Kummer bereitest. Was soll ich denn erzählen, wenn es nachher heißt, dass du bei mir mit dem Zigarettenrauchen angefangen hast?»
«Ich hab ehrlich nicht.»
Während Oma Emmi das Abendbrot vorbereitet, durchsuche ich wie ein Verrückter das Haus nach Munition. Lexi schleicht die ganze Zeit neben mir her und winselt, wenn ich ihn mal länger als ein paar Sekunden nicht beachte. Beim Abendessen fragt Oma Emmi, was wir überhaupt gemacht haben. Da ich mir sicher bin, dass sie etwas dagegen hätte, wenn ich in einem ungesicherten Teich bade, erzähle ich nur, dass ich Anschluss gefunden habe bei der Holzapfelfamilie. Das stimmt ja sogar, und Oma Emmi gibt sich zufrieden.
Um 19 Uhr 30 läuft «Drei mal Neun» mit Wim Thoelke. Da keine Gewalt darin vorkommt, darf ich die Sendung schauen. Also sitze ich wie gestern im Fernsehsessel, und Lexi macht es sich bei mir bequem, während Oma Emmi wieder mit dem Sofa vorliebnimmt. Heute ist Rex Gildo mit «Fiesta Mexicana» zu Gast. Oma Emmi hört eigentlich nur Oper und Operettenmusik, ihr Lieblingssänger ist Hermann Prey mit seinem Lied «Figaro». Bei Rex Gildo hält sie sich demonstrativ die Ohren zu und sagt «Katzenmusik». Dann spielt das Orchester Max Greger die Titelmelodie, und Oma Emmi summt mit. Erwischt!
«Das Glücksrad dreht sich, das Glücksrad dreht sich,
für Sie ist heute alles drin.
Das Glücksrad dreht sich, das Glücksrad dreht sich,
es wartet heute auf Sie der Hauptgewinn.
Spiel mit, das Glück macht heute eine Show,
spiel mit, heute sagt Fortuna nicht No,
ihr 1 × 1 heißt 3 × 9,
man darf sich aufs Ergebnis freun.
Das Glück überzeugt heute Abend auch Sie von unserem Spiel.»
Am Ende setzt sich Wim Thoelke noch für die «Aktion Sorgenkind» ein. Heute wird aus einer Werkstatt mit geistig Behinderten berichtet, denen von den Erlösen der Lotterie ein Behindertentransporter gekauft wurde. Ich muss gleich an Tobias Schulz denken. Wie es dem wohl gerade so geht? Danach heißt es sofort ab ins Bett. Ich gehe wie immer als Erster, draußen lässt es Oma Emmi krachen, und als sie schließlich neben mir im Bett liegt und schnarcht, lausche ich noch den Zügen und den Grillen, bis ich eingeschlafen bin.