Morbus Schlatter
Während Oma Emmi noch das Abendbrot vorbereitet, gehe ich Fußball spielen. Ich trete den Ball gegen die Garage, wie früher am Garagenplatz, nur dass ich hier so lange daddeln kann, wie es mir beliebt, und ich mich nicht mit einem Herrn Hübner oder sonst wem rumscheren muss. Kick – bum, kick – bum, kick – bum. Ich nehme den Ball volley, ich schaffe bis zu achtmal hintereinander. Kick – bum. Mein linkes Knie schmerzt. Seitdem ich beim FSV trainiere, habe ich trotz meiner jungen Jahre Beschwerden. Unterhalb der Kniescheibe hat sich eine Beule gebildet, so groß wie ein kleiner Apfel. Diagnose: Morbus Schlatter. Ursache: «trainingsbedingte Überlastung oder Mikroverletzungen». Typisches Alter dafür bei Jungen: dreizehn bis vierzehn Jahre. Der Arzt hat mir Ruhe und Kühlung verordnet, aber auch gemeint, die Beschwerden würden sich nie mehr zu einhundert Prozent geben, sodass meine Mutter schon erwogen hat, mich aus dem Verein zu nehmen. Aber so schnell gebe ich nicht auf. Außerdem bin ich Torwart, und zwar ein sehr guter. Nur darf ich beim Abschlag den Ball nicht so fest treten, oder ich muss einen Feldspieler schießen lassen. Der Kack Morbus Schlatter geht mir natürlich trotzdem auf den Senkel. Aber vielleicht hat sich der Arzt auch geirrt, und die Beschwerden verschwinden, wie sie gekommen sind.
Hoffentlich. Kick – bum. In einem der alten Geräteschuppen hinter der Garage hat sich ein Hornissenschwarm eingenistet. Die Dinger schwirren bedrohlich nahe um meinen Kopf herum. Interessiert mich nicht. Kick – bum. Oma Emmi hat gesagt, dass sieben Hornissenstiche ein ausgewachsenes Pferd töten können, was ich allerdings für ein Märchen halte und ihre spezielle Methode, mich vom Fußballspielen abzuhalten, weil das Gekicke sie so nervt. Kick – bum. Je länger ich den Ball gegen das Garagentor trete, desto nervöser werden die Insekten. Man kann’s am Brummen hören, das immer höher und rasender wird.
Angst macht mir das trotzdem nicht, denn ich bin seit ungefähr einer Million Jahren nicht mehr gestochen worden, selbst die Stechmücken an der Tonkuhle machen einen Riesenbogen um mich. Vielleicht bin ich immun gegen Insektenstiche geworden. Ich habe gerade neulich erst in der Hörzu gelesen, dass es Menschen gibt, deren körpereigener Geruch die Viecher abschreckt. Und da sich in der Pubertät der gesamte Stoffwechsel umstellt, könnte man sich das durchaus vorstellen. Kick – bum. Langsam bekomme ich Hunger. Oma Emmi hat ihren Haushalt immer weniger im Griff. In den Kühlschrank kann man als normaler Mensch nicht mehr reingucken, so eklig ist sein Innenleben. Entweder sieht sie es nicht mehr, oder sie ist zu erschöpft, oder es interessiert sie schlichtweg nicht. Wenn ich zu Besuch komme, ist meine erste Mission immer, die Hälfte wegzuschmeißen. Einmal habe ich Oma Emmi dabei beobachtet, wie sie von vergammelter Wurst und Käse die Schimmelplacken runtergepult hat. Fehlt nur noch, dass sie verdorbenes Brot serviert. Das wäre dann nämlich lebensgefährlich! Kick – bum. Das Knie zwiebelt wie Hulle, ich kann gleich nicht mehr.
Plötzlich durchfährt mich ein unwahrscheinlicher Schmerz. Es tut so weh, dass ich ihn noch nicht mal lokalisieren kann. Ich schreie los wie eine gesengte Sau. Das ist etwas Ernstes, so was merkt man sofort. Oma Emmi kommt herausgestürzt und zerrt mich ins Haus. Sie scheint genau zu wissen, was los ist, denn ohne groß zu fragen nimmt sie mein Ohr in ihren Mund und beginnt, heftig daran zu saugen. Saug, saug. Zwischendurch spuckt sie immer wieder einen Schwall Speichel auf den nackten Fußboden. Ich heule und heule. Selbst der hartgesottene Dachsi verkriecht sich winselnd in die hinterste Ecke. Ich weiß immer noch nicht, wie mir geschieht und was das alles soll. Aber ich spüre, dass Oma Emmi die Sache im Griff hat. Saug, saug. Dann zähle ich eins und eins zusammen: Der Stich ging ins Ohr! Wenn das Viech mich in Mund oder Hals gestochen hätte, müsste ich jetzt elendiglich ersticken, da könnte auch Emmi nichts mehr ausrichten mit ihrer Saugerei.
Sieben Hornissenstiche können ein Pferd töten! Ich versuche auszurechnen, wie oft ich wohl in ein Pferd ginge. Sicher mehr als siebenmal, in die Jugo-Klepper von Holzapfels vielleicht gerade eben so. Emmi hört gar nicht mehr auf zu saugen. Sie riecht aus dem Mund, und ihre Lippen fühlen sich ganz schön lapperig an. Immer wieder spuckt sie aus und setzt neu an. Wahnsinn, wie sie trotz ihrer achtzig Jahre die Situation unter Kontrolle hat. Dachsi hat sich jetzt aus seiner Ecke getraut und macht Männchen. So kennt man ihn gar nicht. Dann endlich stellt Emmi völlig erschöpft die Saugerei ein. Mein Ohr ist kochend heiß, es pocht wie sonst was und tut immer noch so weh, dass mir die Tränen runterlaufen, das hatte ich schon ewig nicht mehr. Oma Emmi holt einen kalten Lappen aus der Küche und drückt ihn mir ans Ohr, um die Schwellung zu kühlen. Er stinkt total vergammelt und ist auch nicht richtig kalt. Wahrscheinlich hat der Lappen schon Stunden im Geschirrspülwasser gelegen. Ekelhafte Vorstellung. Jetzt klingelt auch noch das Telefon. Emmi geht ran, es ist Frau Holzapfel wegen irgendeiner Kleinigkeit, auf dem Land kennt jeder jeden. Emmi erzählt ihr, was passiert ist. Pause. Pause. Pause. Dann hängt sie den Hörer ein.
«Frau Holzapfel kommt gleich vorbei. Sie bringt Schmerztropfen mit.»
Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass hier irgendwelche Tropfen helfen, aber egal, schlimmer kann’s ja nicht werden. Keine fünf Minuten später klingelt es. Oma Emmi sperrt den rasenden Dachsi ins Schlafzimmer und öffnet. Frau Holzapfel trägt eine schmutzige, hellblaue Schürze, die Haare hängen ihr wirr ins Gesicht.
«Das ist sehr lieb von Ihnen, Frau Holzapfel.»
«Aber das ist doch selbstverständlich, Frau Beuger. Sie müssen bloß aufpassen, die Tropfen sind sehr stark, also vorher unbedingt auf den Beipackzettel gucken. Die hat Frau Schlummbohm zum Ende hin bekommen, gegen ihre Krebsschmerzen.»
Jetzt wird Oma Emmi doch etwas misstrauisch, und sie presst ihre sowieso schon schmalen Lippen zu einem winzigen Strich zusammen. Frau Holzapfel rafft ihre Haare zusammen und verabschiedet sich mit guten Genesungswünschen. Meine Güte, tut das weh, ich weiß beim besten Willen nicht, wie ich das noch länger aushalten soll. Emmi studiert mit ihren miserablen Augen den Zettel und kann doch kaum etwas erkennen. Ein schöner Lebensabend ist das! Schließlich tröpfelt sie zwanzig abgezählte Tropfen auf einen Teelöffel. Nachdem ich die Ration runtergewürgt habe, führt Emmi mich wie einen Behinderten zum Fernsehsessel. Zur Ablenkung.
Punkt acht, Tagesschau. Das Ohr ist zwar immer noch heiß und puckert, aber bis zum Wetterbericht ist der Schmerz so gut wie weg. Um 20 Uhr 15 folgt «Ein Platz für Tiere». Ein Bericht über die Löwen im Serengeti-Nationalpark in Tansania. Bernhard Grzimek hat ein ganz liebes Gesicht und bringt uns Fernsehzuschauern auf seine unnachahmliche Art die Geheimnisse der Tierwelt näher. Je länger ich dem Bericht folge, desto mehr werde ich ins Geschehen gesogen, es ist noch viel intensiver als bei «Die Leute von der Shiloh Ranch», wo man beim Vorspann denkt, von einer Büffelherde überrannt zu werden. Ich wünschte, die Sendung würde ewig gehen. Ich bin so glücklich wie in meinem ganzen Leben noch nicht, so kommt’s mir jedenfalls vor. Als dann noch Dachsi auf meinen Schoß springt, kennt meine Seligkeit keine Grenzen. Das hier gerade ist das Wunderbarste, was ich je erlebt habe. Obwohl ich sitze, werde ich fast ohnmächtig vor Entzücken. Rätselhaft, warum «Ein Platz für Tiere» diese Wirkung auf mich hat, ich habe die Sendung doch schon so oft gesehen und fand sie immer ziemlich langweilig. Vielleicht hat der liebe Gott seine Hände im Spiel. Als Oma Emmi was sagt, höre ich nur irgendein verquollenes Gewabbel. Das Reden alter Leute heißt ab heute Brockeln, fällt mir ein, Brockeln, tolles Wort. Ich glaube, ich werde später doch Tarzan. Früher war ich davon überzeugt, Tarzan sei eine Art Beruf, den man übernehmen könnte, wenn man mit der Schule fertig ist. Dann wurde mir klar, dass dem nicht so ist, aber jetzt bin ich mir plötzlich wieder nicht so sicher. Mal abwarten. Ich merke, wie lieb ich Oma Emmi habe. Wieder laufen mir die Tränen übers Gesicht. Emmi denkt, die sind immer noch wegen der Schmerzen. Ich versuche, sie zu beruhigen:
«Lege deinen Kopf in meinen Schoß.»
Sie guckt komisch und geht in die Küche. Gute Gelegenheit, noch was zu lesen. Ich bin den Vampir-Horror-Romanen treu geblieben, mittlerweile umfasst meine Sammlung bestimmt fünfzig Hefte. Heute: «Die Stunde der Raupen». Passt ja irgendwie.
Am nächsten Tag schmerzt das Ohr zwar immer noch, aber es ist echt zum Aushalten. Ich belausche ein Telefonat zwischen Oma Emmi und Frau Holzapfel:
«Ich habe heute Morgen bei gutem Licht noch mal den Beipackzettel studiert. Wissen Sie überhaupt, was das für Tropfen sind, Frau Holzapfel?»
Lange Pause.
«Das ist ja alles schön und gut, und es war sehr nett. Aber Sie wissen wirklich nicht, dass da Morphium drin ist?»
Wieder lange Pause.
«… Ja, sicher haben Sie es nur gut gemeint … nein, nein, ich werfe die Tropfen gleich weg … wünsche ich Ihnen auch, und nichts für ungut, Frau Holzapfel, auf Wiederhören.»
Klick. Oma Emmi geht in die Küche und wirft etwas in den Mülleimer. Man muss kein Prophet sein, um zu wissen, was. Später wühle ich in einem unbeobachteten Moment den Müll durch und werde fündig. Hol raus. Das kleine braune Fläschchen ist noch zu zwei Dritteln voll.
Das Wetter wird und wird nicht besser. Fast jeden Tag Regen und immer nur um die 16, 17 Grad. Todtglüsingen bei Regen ist der vielleicht trostloseste Platz auf der großen, weiten Welt. Überhaupt ist die Luft irgendwie raus, warum, weiß ich auch nicht. Mit Manfred verstehe ich mich immer weniger, es ist, als würden die Unterschiede zwischen uns deutlicher denn je zutage treten. Ich von meiner Warte aus finde, dass er mit seiner Gurkennase und den verhedderten Augenbrauen ein richtiges Pferdegesicht bekommen hat und einem dummen August ähnelt. Krumm und schief in sich. Verübeln tu ich ihm außerdem, dass er mir die Doppel-Live-LP «Made in Japan» von Deep Purple vorenthält. Im Gegensatz zu ihm kann ich mir die Platte nicht leisten, weil fast mein gesamtes Taschengeld für Tabak draufgeht. Wie oft bin ich schon auf Knien angekrochen mit der Bitte, er soll sie mir doch leihen oder auf Kassette überspielen. Oder mich wenigstens einfach so hören lassen auf seinem Zimmer. Nichts. Er macht sich einen Riesenspaß daraus, mich immer wieder nach allen Regeln der Kunst auf die Folter zu spannen und so zu tun, als wäre es jetzt endlich so weit, dann am Ende aber doch wieder nicht. Mal heißt es «morgen Nachmittag», dann wieder «nächsten Sonntag». Doch klappen tut es nie.
Einmal habe ich zufällig vor seinem Fenster gestanden, als er seine Stereoanlage aufgedreht hatte, es kam gerade die Stelle, wo Ritchie Blackmore bei «Strange Kind of Woman» Sologitarre spielt und Ian Gillan die Gitarrenlinien nachsingt. Es wurde mir abwechselnd heiß und kalt, ich hatte überhaupt noch nie von Musik ein derartiges Gefühl, ganz anders als bei herkömmlicher Rockmusik, klassische Musik kann da sowieso nicht mithalten. Wie elektrisiert habe ich dagestanden und gebetet, dass es niemals aufhört. Danach erklang «The Mule». Dieses Stück ist das einzige neue auf dem Album, es wurde nur wegen des Schlagzeugsolos komponiert, das zu den besten weltweit zählt, vielleicht ist es sogar das beste überhaupt. Ian Paice ist aus meiner Sicht überhaupt der führende Rockschlagzeuger, der teilweise schon in den Strophen Wirbel macht und nicht erst beim Übergang zum Refrain. Die Band ist geprägt von einem ewigen Battle zwischen Organist Jon Lord und Gitarrist Ritchie Blackmore, der aber im Zweikampf zwischen den beiden die Nase vorn behält. Das sieht dann so aus, dass erst Jon Lord sein Solo hat und danach das eigentliche Hauptsolo von Ritchie Blackmore kommt. Ich warte immer ganz ungeduldig darauf, dass Jon Lord endlich ausgeschrubbt hat, damit das Gitarrensolo beginnt. Gniedel. Obwohl man zugeben muss, dass auch Jon Lord total was draufhat. Was der aus der Hammondorgel rausholt! Das macht ihm so schnell keiner nach, das sind Klänge, die mit einer normalen Hammondorgel nur noch wenig gemein haben. Er jagt die Sounds durch die riesigen Marshallverstärker und verschiedenen Effektgeräte und Leslies und tritt auf der Bühne manchmal wutentbrannt mit voller Wucht gegen den klobigen Kasten, bis er umfällt. Gerade live lässt sich hören, dass die fünf Musiker ihre Instrumente bis zur absoluten Perfektion beherrschen. Sänger Ian Gillan, der gelegentlich auch zur Mundharmonika greift, hat es besonders seinen weiblichen Fans angetan. Kann ich auch irgendwie verstehen.
Geizknochen Manfred muss einen siebten Sinn haben, denn plötzlich geht die Musik aus, und er streckt seinen Pferdeschädel aus dem Fenster: «Ah, Matten, gefällt’s dir? Das hättest du wohl gern!» Er gönnt es mir einfach nicht! Was hat er bloß davon? Gar nichts, es ist die reine Bosheit. Langsam werde ich echt sauer. «Deep Purple in Rock», «Fireball» und «Machine Head» habe ich schon, nur «Made in Japan» und «Who Do We Think We Are» fehlen mir in meiner Sammlung. Deep Purple heißt übersetzt übrigens «tiefer Purpur». Ich habe ein paarmal versucht, auch Mutter die Musik nahezubringen, doch bin ich regelmäßig auf Granit gestoßen. Es liegt daran, dass sie es einfach nicht gut finden will, da kann Ritchie Blackmore Vierundsechzigstel spielen, bis er schwarz wird. Für Mutter ist das nur ein einziger Brei und Krach, bei dem sich noch dazu alles endlos wiederholt. Selbst Jon Lord ist für sie kalter Kaffee. Dabei kommt der von der Klassik und kann Bach mindestens so gut spielen wie Hard Rock. Ich verstehe partout nicht, wie man sich so wenig für seinen einzigen Sohn interessieren kann.
Manfred ist enorm in die Höhe geschossen, er überragt mich um Haupteslänge. Ich habe das Gefühl, dass er ebenso wenig mit mir anfangen kann wie ich mit ihm, was aber keiner von uns zugibt. Vielleicht handelt es sich aber auch nur um eine Übergangszeit, und in ein paar Wochen verstehen wir uns wieder blendend. Glaube ich zwar nicht, aber wer weiß. Wenn es weiter abwärtsgeht mit unserer Freundschaft, dann werde ich von einem Tag auf den anderen wegbleiben, ohne ein Wort zu sagen, und wenn er bei mir zu Hause in Harburg anruft, lege ich auf. Soll er mal sehen, wo er bleibt, einen anderen Freund hat er offenbar nicht, es ist mir überhaupt schleierhaft, wie und mit wem er sich außerhalb der Ferien und der Wochenenden beschäftigt.
Ich habe es aufgegeben, ihn nach «Made in Japan» zu fragen. Und siehe da, plötzlich fängt er mit dem Thema an. Es wurmt ihn wohl, dass es mir nichts mehr auszumachen scheint. Heute kommt er zur Abwechslung mal mit einer ganz guten Idee: Es gibt in der Nähe der Tonkuhle ein abgelegenes Waldstück, in das sich praktisch nie jemand verirrt. Manfred schlägt vor, dort eine Hütte zu erbauen. Gesagt, getan. Mit Äxten und allem möglichen Werkzeug bewaffnet stiefeln wir fortan jeden Tag dorthin und schuften von morgens bis abends. Viel mehr als Holz hauen, schleppen und sonstige Hilfsarbeitertätigkeiten kann ich nicht, aber Manfred hat den Überblick, und nach einer Woche steht die Hütte.
«Zur Feier des Tages gehen wir in die Scharfe Ecke. Da kannst du dich stundenlang an einer Cola hochziehen.»
«Oma Emmi lässt mich niemals in eine Kneipe. Außerdem darf man da sowieso erst ab achtzehn hin.»
«Mir doch egal. Ich komm überall rein.»
Das glaub ich ihm sogar, hier kennt jeder jeden, und wenn Manfred in die Scharfe Ecke geht, glaubt der Wirt, sein Vater habe es ihm erlaubt, und wenn er ihn rausschmeißt, gibt’s Ärger. Und Polypen, die das kontrollieren, gibt’s höchstens in Tostedt. Die rücken nur bei einer Anzeige an.
«Du kommst da vielleicht rein, aber ich nicht. Wenn Oma Emmi das rauskriegt, erzählt sie es meiner Mutter, und dann war’s das.»
«Mann, du Eddel, wir müssen das doch feiern. Du musst dir was Vernünftiges einfallen lassen. Kannst dich doch einfach wegschleichen, wenn die Alte eingeschlafen ist.»
Ich kann es nicht leiden, wenn er so über Oma Emmi redet, aber ich will auch keinen Streit. Manchmal kommt es mir so vor, als warte er nur auf eine Gelegenheit, mir endlich eine zu wischen. Außerdem weiß er bis heute nicht, dass ich mit Oma Emmi in einem Bett schlafe und es mir praktisch nicht möglich ist, mich unbemerkt zu entfernen. Aber dann habe ich eine Idee:
«Wenn du mir ‹Made in Japan› leihst, komme ich mit. Sonst nicht.»
Da habe ich den Bauernlümmel kalt erwischt. Er guckt wie ein Pinscher und überlegt ewig. Dann sagt er: «Ey, wenn da auch nur ein Kratzer drin ist, weißt du, was los ist. Um neun steh ich vor eurer Haustür.»
«Nee, halb zehn ist sicherer.»
«Aber pünktlich, ich schwör dir das!»
Ich sag besser nichts.
Der 7. 7. 1974 ist ein historisches Datum, denn heute ist das Finale der Fußballweltmeisterschaft, in München, auf deutschem Boden. Ich habe das Wohnzimmer zum Glück ganz für mich alleine, weil Oma Emmi und Frau Donath auf die Terrasse gegangen sind und versprochen haben, in den kommenden neunzig Minuten zur Abwechslung mal nicht zu stören. Gestern haben die Brasilianer das Spiel um Platz drei vergeigt, gegen Polen, muss man sich mal vorstellen! Da können sie von ihrem hohen Ross mal absteigen, von wegen, die spielen, dass einem schwindlig wird. Zumindest ich habe davon nichts mitgekriegt! Nun geht’s also gegen Holland, die wie wir alle Gruppenspiele gewonnen haben und mit 6:0 Punkten an der Spitze stehen. Erstaunlich, dass ein so kleines Land wie Holland immer wieder regelmäßig ganz vorne mitmischt. Aber nur beim Fußball, sonst wüsste ich von keiner anderen Sportart. Ich bin mir trotzdem sicher, dass am Ende wir die Nase vorn haben, schon wegen Gerd Müller. Der bessere Torwart ist Wolfgang Kleff, der aber wie immer keine Chance bekommt. Schon seit einer halben Stunde sitze ich schweißgebadet vor dem Fernseher, wer weiß, vielleicht pfeift der Schiedsrichter das Spiel ja aus einer Laune heraus früher an. So was ist natürlich noch nie vorgekommen, aber einmal ist immer das erste Mal. Ich bin so durch den Wind, dass ich wünschte, die Begegnung wäre längst vorbei und die Deutschen Weltmeister. Mein Tipp lautet 4:1 für uns.
Punkt drei erfolgt der Anstoß. Und gleich der erste Schock: Ohne dass auch nur ein einziger deutscher Spieler Ballkontakt gehabt hätte, dribbelt sich Johann Cruyff in den deutschen Strafraum, und Hoeneß grätscht ihm volles Brett rein. Umgesäbelt. Das sah schlimmer aus, als es war, und ist nie im Leben ein Elfer, aber der Schiedsrichter entscheidet trotzdem auf Strafstoß. Ohnmächtige Wut überfällt mich. Schiebung! Wenn Deutschland deshalb das Spiel verliert, wird der Schiri seines Lebens nicht mehr froh, so viel steht fest. Als der Kommentator meldet, dass das ein Engländer ist, wird schlagartig alles klar. Die Engländer waren bei dieser WM nämlich so schlecht, dass sie sich noch nicht mal fürs Hauptfeld qualifiziert hatten, sondern schon in der Quali ausgeschieden sind. Und gegen wen wohl? Gegen Polen! Und das will er rächen. Jetzt wundert mich gar nichts mehr. Neeskens tritt an und hält voll in die Mitte, Sepp Maier catcht sich natürlich nach rechts. 1:0 für Holland.
Das darf doch wohl nicht wahr sein! Ich bin mir tausendprozentig sicher, dass Kleff den Ball gehalten hätte, wegen der besseren Reflexe. Kleff hat die besten Reflexe von allen, da kommt selbst Rudi Kargus nicht mit. Sepp Maier ist wie die meisten Torhüter auf Verdacht in eine Ecke gejumpt, bei einer Chance von eins zu drei. Hätte ja klappen können! Kleff hätte garantiert bis zuletzt gewartet. Maier ist meiner Meinung nach nur die Nummer eins, weil er der bessere Showmann ist. Ein Blender, wie er im Buche steht, er versucht sich als «Spaßvogel» mit seiner bayrischen Art beliebt zu machen und tritt häufiger im Fernsehen auf als im Tor. Zu allem Überfluss hat er eine schlechte Haltung.
Tja, jetzt wird’s eng. Die Deutschen stehen voll unter Schock, und auch ich habe meine Zweifel, ob sich die Giftzwerge aus den Niederlanden noch die Butter vom Brot nehmen lassen. Der Kommentator sagt, dass es der erste Strafstoß in der Geschichte der WM-Finales ist. Meiner Meinung nach ist das illegal. Was ist, wenn es bei dem Spielstand bleibt? Fußballweltmeister durch Strafstoß, ich kann nicht mehr. Jetzt fängt auch noch Dachsi an zu kläffen, das Mistvieh. Ich stürze nach draußen und haue dem Hund eine mit der flachen Hand. Oma Emmi schaut mich völlig entgeistert an, aber traut sich nichts zu sagen. So hat sie mich garantiert noch nicht erlebt. Mich würde Dachsi nie beißen, weil ich sein Herrchen bin.
Das Spiel geht verbissen hin und her. Ich habe das ungute Gefühl, dass die Holländer Oberwasser behalten, aber der Kommentator behauptet das Gegenteil. Dann die fünfundzwanzigste Minute: Overath auf Hölzenbein, der dringt in den Strafraum und wird böse gefoult. Da kann der Schiri parteiisch sein, wie er will, er muss pfeifen. Tja, Pech gehabt! Elfer! Normalerweise müsste Müller schießen, der hat noch nie einen Elfer versemmelt. Aber was passiert? Paul Breitner tritt an. Helmut Schön tickt ja wohl nicht mehr ganz richtig! Der sieht sowieso schon aus wie ein Rentner, der hat doch als Fußballnationaltrainer nichts mehr zu melden. Das ist garantiert seine letzte WM. Breitner wird das Ding verhauen, so viel ist schon mal klar. Allein schon, wie er anläuft. Schön in die Mitte halten, weil er sich für besonders clever hält, weil Neeskens auch in die Mitte gehalten hat, von wegen, so was passiert kein zweites Mal. Aber eben gerade deshalb! Der holländische Torhüter ist den einen entscheidenden Schritt weiter und wird, gerade weil es so unwahrscheinlich ist, stehen bleiben wie eine Mumie. Ich kann das Elend nicht mit ansehen und halte mir die Hand vor die Augen. Doch dann bricht ein unbeschreiblicher Jubel aus: Breitner hat ihn ins linke Eck gezwiebelt, und der Torhüter ist in der Mitte stehen geblieben. Ich hatte also recht! Und Breitner hab ich unrecht getan. Schäm.
«Toooor, Toooor, Tooooor!»
Ich stürze auf die Terrasse und reiße die Arme nach oben.
«TOR FÜR DEUTSCHLAND!»
«Na, ist ja gut, Mathias. Beruhige dich doch.»
Von wegen beruhigen. Frau Donath sitzt steif da wie ein Stock, ihre Augen sind schwarz und klein wie Obstkerne. Seit neuestem reibt sie nicht nur die Hände aneinander, sondern saugt noch dazu pausenlos ihr Wangenfleisch nach innen und bläst dann ihre Backen auf wie ein Frosch. Sie scheint überhaupt nicht zu begreifen, was hier gerade vor sich geht. Ich frage mich wieder, woran die überhaupt noch Freude im Leben hat. Irgendetwas muss es doch geben.
Egal, schnell wieder rein. Jetzt haben die Deutschen Oberwasser, endlich! Selbst Beckenbauer schaltet sich in den Angriff ein und wagt einen Torschuss, den der Torhüter aber ohne Mühe pariert. Beckenbauer schießt einfach nicht hart genug! Pässe kann er schlagen wie ein Weltmeister, aber für direkte Torschüsse ist er zu schwach. Trotzdem liegt die Führung in der Luft. Ich weiß, dass jetzt die Stunde von Gerd Müller geschlagen hat, ich weiß es einfach. Und dann: Bonhof auf Müller, der schon im Strafraum bereitsteht, sich beinahe mit Lichtgeschwindigkeit um die eigene Achse dreht und das Ding flach ins linke Eck knallt. Keine Chance.
«TOOOOR, TOOOR, TOOOOOR, TOOOOOR.»
Jetzt haben wir sie! Und von wegen, Müller ist ein Abstauber. Solche Tore schießt auf der Welt nur einer, und zwar Gerd Müller. Und außerdem war das sein vierzehntes WM-Tor, damit ist er ab jetzt der ewige Torschützenkönig!
Halbzeit. Endlich. Das ist ganz wichtig für die Deutschen, sie müssen innehalten und für die zweiten fünfundvierzig Minuten eine Strategie abstimmen. Ich überlege schon, ob ich mich auf die Terrasse setzen und die zweite Hälfte auslassen soll, weil ich die Spannung nicht mehr aushalte, aber als die Mannschaften aus der Kabine kommen, bleibe ich gebannt sitzen. Nach dem Wiederanpfiff bekommen die Holländer noch einmal Luft, und es sieht eine Zeitlang nicht gut aus. Aber Sepp Maier wächst über sich hinaus, das muss selbst ich zugeben. Er hält echt alles. Dann trifft Gerd Müller erneut: 3:1!
«TOOR, TOOR, TOOR!»
Doch was ist denn jetzt schon wieder kaputt? Der Schiedsrichter entscheidet auf Abseits! Schon wieder Schiebung! Ich habe selten jemanden gehasst wie diesen verdammten Zirkusclown. 85. Minute. Eisenhartes Foul an Hölzenbein. Was macht der Schiri? Einfach nicht hingucken, lass liegen, tritt sich fest. Wenn den hinterher einer in die Finger kriegt, dann gnade ihm Gott. Und wenn die Holländer jetzt den Ausgleich erzielen? Der Countdown läuft. Drei Minuten noch. Zwei. Eine. Nun pfeif doch endlich ab! Pass auf, der lässt so lange spielen, bis die Holländer einen reinmachen. TRIIIIILLLLLLLL! Endlich. Ruhe im Puff, Deutschland ist Weltmeister! Und wenn alles mit rechten Dingen zugegangen wäre, sogar mit 4:1. Ist ja auch egal jetzt, wir sind Weltmeister!