Lexi

Alles ist so gekommen, wie ich befürchtet habe, eigentlich fast noch schlimmer. Mein Notendurchschnitt hat sich im ersten Halbjahr um eine ganze Note verschlechtert. In der letzten Mathearbeit hatte ich sogar eine Sechs, so eine schlechte Note hatte ich überhaupt noch nie. Mutter will mir Nachhilfeunterricht spendieren, obwohl sie eigentlich kein Geld dafür hat, sagt sie. So ein Quatsch, das bezahlen doch sowieso die Großeltern!

Herr Dierks ist ein echter Fiesling, der immer dann zur Höchstform aufläuft, wenn er die Klassenarbeiten zurückgibt. Er macht daraus ein richtiges Schauspiel von einer vollen Schulstunde. Er zieht die Verteilung gekonnt in die Länge und weidet sich an den Qualen von uns Schülern. Zuerst gibt er immer die beste Arbeit zurück, und die stammt jedes Mal von Gundula Ortlieb. Die blöde Kuh. Dafür ist sie hässlich wie die Nacht und hat Kartoffelstampfer. Er hält sich mit den Einsern und Zweiern ewig auf, erläutert lang und breit die Lösungen und lobt die paar Musterschüler über den grünen Klee. Dann geht’s langsam abwärts. Bei den durchschnittlichen Arbeiten ist er auch noch halbwegs freundlich. Aber ab vier plus geht’s dann los. Er legt die Stirn in Falten, und seine Miene verdüstert sich. Die absolute Schallgrenze liegt bei vier minus. Alle, die danach kommen, haben absolut nichts mehr zu lachen. Schüler, die bei vier minus noch nicht aufgerufen wurden, können nur noch beten und zittern, dass sie wenigstens eine Fünf haben und keine Sechs.

«Die zweite und letzte Vier minus hat Peter. Knapp, aber ganz knapp, Freundchen!»

Eisiges Schweigen. Er schlurft erzlangsam durch die Reihen, bleibt mal bei diesem, mal bei jenem Verbliebenen stehen.

«Der Notendurchschnitt liegt bei 3,7, das ist wirklich sehr schlecht. Vier Fünfen und zwei Sechsen.»

Er setzt seinen Gang schweigend fort und teilt die erste Fünferarbeit aus, ohne ein Wort zu sagen oder den Schüler anzugucken. Die zweite Fünf geht an Sybille. Dann Stefan. Jetzt wird es ernst. Bitte, bitte, lieber Gott, lass mich die letzte Fünf haben! Doch er legt Gunters Arbeit auf den Tisch. Das war’s, Sechs. Die erste geht an Sven. Alles klar, dann habe ich die schlechteste Arbeit von allen, eigentlich eine Sechs minus. Und dann, das hat es noch nie bei einem Sechser gegeben, richtet Herr Dierks das Wort an mich.

«Wie du die Versetzung schaffen willst, ist mir rätselhaft.»

Mir auch.


Während wir uns früher meist gleich nach dem Essen zum Spielen getroffen haben, kommen jetzt immer weniger Kinder raus. Uwe und Axel haben in der Schule ebenfalls ihre liebe Not und brauchen mit den Hausaufgaben manchmal bis in den späten Nachmittag. Norbert ist bei Viktoria Harburg in der Leistungsklasse angenommen worden und trainiert seitdem wie verrückt. Er bekommt vom Verein eine Monatskarte und Fußballklamotten gestellt und ist allein schon deshalb stolz wie Bolle und hält sich für was Besonderes. Sein Trainer hat prophezeit, ihm stünde eine Karriere in der Zweiten Bundesliga bevor, wenn er weiter fleißig an seiner Technik feilt. Vielleicht sogar in der Ersten.

Wie oft habe ich mir schon vorgestellt, ich würde im WM-Endspiel den entscheidenden Treffer landen! Oder, weil ich Torwart bin, gleich zwei Elfmeter halten und meiner Mannschaft damit zum Sieg verhelfen. Spitzname: Elfmetertöter. Wie Rudi Kargus vom HSV. Daher stammt auch der Begriff Elfmetertöter, weil er über Reflexe verfügt wie kaum ein anderer Mensch. Einmal haben sie extra ein Experiment mit ihm gemacht: Im «Aktuellen Sportstudio» haben sie ihn verdrahtet, um seine Reflexe zu messen. Seltsamerweise waren die dann nur Durchschnitt.

Sabine hat von ihren Eltern ein Pferd geschenkt bekommen und verbringt fast jeden Tag draußen im Stall in Meckelfeld. Eigentlich kommt nur noch Heike regelmäßig raus. Sie ist gut in der Schule und mit den Hausaufgaben ruck, zuck fertig. Ich fühle mich immer sehr wohl in ihrer Nähe, ich habe ein regelrechtes Prickeln im Bauch. Mittlerweile glaube ich auch, dass ich in sie verliebt bin, und das schon seit Jahren!

Martin hatte Riesenglück, Herrn Meier in Mathe zu bekommen Spitzname Panzermeier. Er war im Zweiten Weltkrieg unter General Rommel in der Wüste, und wenn man geschickt genug fragt, erzählt er, statt den Stoff zu pauken, lieber Döntjes aus der damaligen Zeit. Die Geschichte, wo sich die Panzer in der Mittagssonne so erhitzt haben, dass man Spiegeleier darauf braten konnte, hat er schon unzählige Male zum Besten gegeben. Das erinnert mich dann immer an früher, als ich sonntags zu Opa ins Bett gekrochen bin. Doch ist das jetzt schon so lange her, dass es kaum noch wahr ist.

Obwohl Opa immer tüddeliger wird, schmeißt er sich jeden Morgen in seinen Anzug, und dann geht es ab in den Keller. Einmal bin ich auf leisen Sohlen hinuntergeschlichen, um zu gucken, was er da eigentlich den ganzen Tag treibt. Doch er macht gar nichts mehr, sondern sitzt vor seiner riesigen Werkbank, hinter der er fast verschwindet, und starrt ins Leere oder fummelt gedankenverloren an seinem Anzug herum. Oma ist die Entwicklung natürlich auch nicht verborgen geblieben, und sie macht sich ebenfalls große Sorgen. Was, wenn es noch schlimmer wird?

Wie nahe Glück und Unglück doch beieinanderliegen. Es war nur ein dummer Zufall, dass ich Herrn Dierks bekommen habe statt Herrn Meier. Sonst bin ich in der Schule schlechter Durchschnitt, ich halte mich gerade eben so. Sprachen liegen mir auch nicht besonders, Herr Lächel meint, ich bin nicht fleißig genug, aber das stimmt nicht, finde ich. So nett, wie er anfangs schien, ist Herr Lächel übrigens gar nicht, aber das merkt man erst nach einiger Zeit, wenn man sich nicht mehr von seiner ewigen Grinsrübe blenden lässt.


Dieses Jahr kommen uns Onkel Otto und Tante Mariechen nicht zu Weihnachten besuchen. Zum ersten Mal überhaupt, Onkel Otto ist beim Schneeschippen gestürzt und hat sich den Oberschenkelhals gebrochen. Oma ist ganz niedergeschlagen deshalb. Am besten wäre es, wenn Oma und Opa zu ihnen in die DDR fahren würden und ich zu Oma Emmi. Aber was tun mit Mutter? Ich möchte auf gar keinen Fall, dass sie nach Todtglüsingen mitkommt! Ich stelle mir vor, wie sie die ganze Zeit an meiner Seite klebt und unbedingt die Holzapfels kennenlernen möchte, und das wäre mir sehr peinlich. Wobei Herr Holzapfel ihr schön was husten würde. Und mit Rauchen wäre es auch Essig. Es kommt einem Wunder gleich, dass sie es immer noch nicht gemerkt hat, dabei bin ich jetzt schon bei fünf bis zehn Zigaretten täglich. Minimum.

Auf Todtglüsingen freue ich mich immer schon die ganze Woche. Ich war fast jedes Wochenende da und natürlich in den Herbstferien. Wenn ich am Samstag früh auf den Holzapfelhof komme, werde ich behandelt wie ein verlorener Sohn. Manchmal stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn ich von einem Tag auf den anderen nicht mehr käme und sie sich Riesensorgen um mich machen und mich vermissen würden, und dann, nach vielen Jahren, würde sich plötzlich eines Sonntagnachmittags die Tür des Wohnzimmers öffnen, und ich setze mich an die Kaffeetafel, als wäre nichts geschehen. Ich stelle mir vor, wie Frau Holzapfel Tränen vergießen würde, und selbst Frau Schlummbohm wäre gerührt, und Hummel würde sich gar nicht mehr einkriegen vor Wiedersehensfreude und die Tischdecke mitsamt Geschirr runterreißen. Na ja, Träumereien, aber es ist ein gutes Gefühl, sich das vorzustellen, oder was anderes Tolles, Elfmeter zu halten oder Leadsänger von Deep Purple zu sein.

Seit dem Kirschendiebstahl sind Ristoffs und Holzapfels ernsthaft miteinander verfeindet. Ich habe erfahren, dass sie sich schon vorher nicht grün waren. Jens wurde der Kontakt zu Manfred und Wilfried junior und sogar zu mir strengstens verboten, aber wir treffen uns trotzdem heimlich, weil wir nicht einsehen, was wir Kinder mit dem Streit der Erwachsenen zu tun haben. Ich habe einen seltsamen Traum, von dem ich regelmäßig heimgesucht werde:


Kai klammert sich in den Kirschbaum und wird von Herrn Holzapfel derart hineingeprügelt, dass er an den Zweigen festklebt. Das Leckermaul hat jetzt Gelegenheit, den Schmerz von der Pike auf kennenzulernen. Ich kann selbst spüren, wie die Schmerzen sich ausbreiten und ganz langsam wieder abebben, bevor der nächste Schlag auf einen anderen Körperteil folgt und sich die verschiedenen Schmerzbereiche überkreuzen. Am Ende der Lektion weiß man es genau zu unterscheiden: Der Schmerz kann fließen, rasseln, pochen, ziehen, brennen und reißen. Im Traum plumpst Kai aus dem Baum wie eine überreife Frucht. Herr Holzapfel hält erschöpft inne und tauft den Nachbarssohn schließlich den traurigen Kirschendieb. Dabei kann er eine Träne der Rührung nicht unterdrücken. Doch es geht noch weiter: In verkrümmter Haltung humpelt Kai Richtung Elternhaus. Er kann durch seine zugeschwollenen Augen nicht mehr richtig sehen, und so kommt es, dass er im Hof ausrutscht und in einen Trog mit frisch gemahlenem Mehl fällt. Das staubige Teufelszeug pappt an seinem blutigen Körper fest, und so kriecht er weiß ummantelt in die Wohnküche. Seine Blessuren sind durch das Mehl hindurch nicht sichtbar, darum denkt sein Bruder, dass der Junior sich einen Spaß erlaubt hat.

«Ei gucke mal, wen haben wir denn da? Ich glaub, das ist der Mehlgnom, der kommt uns besuchen.»

Brüllendes Gelächter.

Vater Ristoff schließt sich an. «Ja, gibt’s denn so was? Schnell noch einen Teller Suppe für unseren neuen Gast.»

Wieder lautes Gejohle. Mutter Ristoff setzt noch einen drauf: «Kinder, doch keine Suppe für den Mehlgnom, sonst geht er uns noch ein.»

Da liegt auch schon die ganze Ristofffamilie auf dem Boden vor Lachen.

Kai erholt sich von diesem schrecklichen Zwischenfall nie mehr und verrichtet seither auf dem Hof alle möglichen einfachen Arbeiten. Er ist meist sehr fröhlich, und man hat ihn gern um sich. Alle paar Tage ruft einer:

«Kai, mach uns doch die Freude und zeig uns dein Kunststück.»

Darauf hat der lustige Kasper schon gewartet. Er bestäubt sich aus einem Mehlbeutel und flitzt wie ein Brummkreisel durch die Gegend. Wir umarmen den kleinen Kai und putzen das famose Kerlchen fein säuberlich wieder ab. Der Traum endet immer mit dem Bild, wie er mit leuchtenden Augen auf meinem Schoß sitzt und ihm das Mehl aus den Haaren und aus allen Poren rieselt.


Lexi ist überfahren worden! Er wurde richtiggehend zermanscht, eigentlich kann es nur ein Trecker oder ein noch größeres landwirtschaftliches Gerät gewesen sein. Vielleicht sogar ein Mähdrescher oder Rübenroder. Wer es war, wird wohl für immer verborgen bleiben, denn es hat sich niemand bei Oma Emmi gemeldet. Wir hatten natürlich als Erstes Herrn Ristoff in Verdacht, aber wer will ihm das nachweisen? Oma Emmi hat die ganze Woche lang bitterlich geweint. Erst Onkel Horst, jetzt Lexi. Aber nach der Trauerzeit hat sie sich einen neuen Kurzhaardackel besorgt und auf den Namen Dachsi getauft. Das Tier ist vom Charakter her das genaue Gegenteil von Lexi: quirlig, bei jeder Kleinigkeit am Kläffen und vor allem bissig wie die Pest. Jeder Besuch wird sofort attackiert. Der Briefträger weigert sich schon, das Grundstück zu betreten, sodass der Briefkasten jetzt außen am Zaun angebracht ist, und selbst die arme Frau Donath musste die ersten Tage von Oma Emmi am Gartenzaun abgeholt werden. Seither herrscht ständig helle Aufregung. Selbst ich musste bei meinem ersten Besuch von Emmi ins Haus geleitet werden. Nachdem Oma Emmi schon Lexi nicht erziehen konnte, hat sie Dachsi natürlich überhaupt nicht mehr im Griff. Das Tier tanzt ihr auf der Nase herum und hat das Regiment bald übernommen. Für Oma Emmis Sicherheit ist es natürlich gut, dass sie von einem mannscharfen Hund bewacht wird. Jetzt könnte sie sogar ihre Gaspistole abschaffen. Ich habe mittlerweile nämlich herausgefunden, dass es sich um keine echte Waffe handelt. Am Tag, an dem ich achtzehn werde, werde ich als Allererstes einen Waffenschein beantragen, so viel steht fest. Allein die Vorstellung, wie ich harmlos in der Weltgeschichte umherschlendere und mir niemand ansieht, dass ich einen Revolver unter der Jacke trage …


Mit Mutter geht es keinen Millimeter vor und keinen zurück. Mal verkriecht sie sich wochenlang auf ihrem Zimmer und spielt Flöte, mal geht sie nach der Arbeit gleich ins Bett. Dann wieder benimmt sie sich ganz aufgedreht, isst mit großem Appetit und bleibt die halbe Nacht wach. Angeblich, weil sie so viele Dinge nachholen muss und gar nicht weiß, wo sie anfangen soll. Manchmal vergisst sie meine Schularbeiten, an anderen Tagen ziehen sich die Kontrollen in unwahrscheinliche Längen. Es ist ihr dann auch egal, ob es zehn oder elf Uhr wird oder sogar noch später. Ich muss regelrecht darum betteln, endlich ins Bett gehen zu dürfen. Nach ziemlich genau einer Woche ist diese Phase immer schlagartig vorbei, und sie sinkt zurück in ihre Versteinerung. Obwohl ich es genau beobachte, bleibt es rätselhaft, wieso und warum das so ist. Ich weiß nur eins: Verlassen kann ich mich auf sie nicht mehr. Den einen Tag bin ich ihr Bundesgenosse, und am nächsten Tag behandelt sie mich, als wäre ich ihr Gefangener. Zum Glück bemüht sich Oma immer, für heitere Stimmung in der Familie zu sorgen. Aber manchmal kommt sie ans Ende ihrer Kräfte. Der tüddelige Opa, die seltsame Tochter, die Sorge um Oma Emmi und die Verwandtschaft aus der Ostzone, und dann noch Frau Marek. Wenigstens ich bereite ihr keinen Kummer. Hoffe ich jedenfalls.