Das Mondauto

Jetzt schneit es schon seit einer Woche. Schnee ist fast noch gemütlicher als Regen oder mindestens so gut. Wenn es schneit, ist alles so still, dass man nur noch flüstern mag, und die Erde ist zugedeckt und friedlich. Nur hört man leider nichts, wenn es schneit, da ist dann wieder Regen besser.

Von der französischen Kinderschule hat mich Mutter endgültig runtergenommen. Als sie mich einmal unangemeldet abholen wollte, hat sie schon von weitem gehört, wie Monsieur Durand uns Kinder zusammengebrüllt hat. Dann hat sie sich auf die Lauer gelegt und sich selbst ein Bild gemacht und hat eingesehen, dass ich recht hatte und nichts erfunden habe von Monsieur Durands Missetaten. Sie hat ihn zusammengestaucht, dass er am Ende weder piep noch papp sagen konnte. Obwohl sie klein und dünn ist, hat sie Bärenkräfte, und später hat sie zu Oma gesagt, dass sie gekämpft hat wie eine Löwenmutter! Sie hat auch bei den anderen Eltern angerufen und sie informiert, und alle außer den Eltern von Karsten Sunkel haben ihre Kinder runtergenommen. Jetzt soll Monsieur Durand mal sehen, wo er bleibt. Seine Kinderschule kann er am besten gleich dichtmachen, weil er spätestens nächsten Monat pleite ist. Das gönne ich ihm, denn Monsieur Durand ist ein böser Mann, und jeder weiß es jetzt, und er bekommt seine gerechte Strafe. Ich war sehr stolz auf meine Mutter und außerdem heilfroh, dass der Spuk endlich ein Ende hat und ich das halbe Jahr bis zur Schulzeit freihabe, weil, jetzt noch in den richtigen Kindergarten zu gehen lohnt nicht mehr.


Jetzt habe ich den ganzen Tag frei und kann schon vormittags rodeln gehen. Direkt beim Wald ist ein Hügel, der von allen Willkommberg genannt wird, nach unserem Hausarzt Doktor Willkomm, der ganz in der Nähe wohnt. Von da aus geht die Abfahrt am Sägewerk vorbei bis nach unten zur Winsener Straße, das ist bestimmt ein Kilometer. Leider kommt vorher ein Kartoffelacker, und damit man da drüberrodeln kann, müsste es noch viel mehr schneien, jetzt ist es noch viel zu hubbelig. Aber wenn es weiter so schneit, dann ist es bestimmt bald so weit, und man kommt bis zur Straße runter.

Gestern war der zweite Advent, ich kann es kaum noch erwarten, bis endlich Weihnachten ist. Ich finde Weihnachten besser als Geburtstag. Wie schön der Geburtstag wird, hängt davon ab, wie weit weg der von Weihnachten ist. Ich habe Glück, weil ich im Mai Geburtstag habe und zwischen den Festen sehr viel Zeit liegt. Martin hat am 22. Dezember Geburtstag, deshalb bekommt er viel weniger Geschenke als ich. Pech gehabt. Und jetzt holt mich Martin immer schon um neun Uhr morgens zum Rodeln ab. Wir haben den Willkommberg ganz für uns alleine, und unsere Spuren sind die einzigen weit und breit im frisch gefallenen Schnee, der ohne Pause fällt. Bis zum Mittag schaffen wir zehn Abfahrten, dann müssen wir zum Mittagessen und uns erst mal wieder aufwärmen. Zweimal in der Woche darf Martin bei uns essen. Oma sagt, dass sie einen Esser mehr auch noch satt kriegt. Heute gibt es Birnen, Bohnen und Speck. Das Geheimnis vom Bohneneintopf ist das Bohnenkraut und dass die Birnen schön durch sind. Wir haben nach dem Rodeln Riesenhunger und essen wie die Weltmeister. Oma nimmt die Speckschwarte ganz in den Mund und lutscht sie aus. Das ist für sie der größte Genuss, sagt sie, genau wie sie ja auch stundenlang an den Hähnchenflügeln knabbert. Nach dem Mittagessen kommen auch Norbert, Axel, Uwe, Heike und Sabine mit zum Willkommberg. Wolfgang darf noch nicht rodeln, weil er angeblich zu klein ist. Eigentlich könnte er ja bei seinem Bruder hinten mitfahren, aber der will das nicht, weil Wolfgang ein Klotz am Bein ist und außerdem ganz empfindlich mit seiner Brille. Wir müssen uns beeilen, um vier wird es schon dunkel, und von einer Minute zur anderen sieht man die Hand vor Augen nicht mehr. Martin schafft insgesamt siebzehn Abfahrten und hat gewonnen, weil ich getrödelt und nur fünfzehn Abfahrten geschafft habe. Mir ist das egal, aber Martin ist es sehr wichtig. Er ruft die ganze Zeit «Siebzehn» und hört gar nicht mehr auf und fühlt sich dabei wie King Louie mit Schlappohren.

Auf dem Rückweg passiert ein Unglück. Norbert hat einen großen Stock vom Boden aufgelesen und wirft ihn in Axels Richtung, wie im Sommer auf dem Weg zur Außenmühle mit den Steinen, und trifft ihn volle Wucht am Kopf. Axel fällt auf den Boden wie ein Sack. Zuerst dachten alle, er wäre tot. Aber dann hat er mit einem Mal geschrien wie von der Tarantel gestochen. Er hatte ein Loch im Kopf, das mit vier Stichen genäht werden musste. Ein Loch im Kopf hatte ich auch schon mal vom Rollerfahren, als ich mich an den Lenker geduckt hatte, und dann kam ein Huckel. Da habe ich jetzt eine Narbe, und Doktor Willkomm sagt, das bleibt. Norbert hat es mit der Angst zu tun bekommen und ist abgehauen. Wahrscheinlich hat er sich gleich zu Hause verkrochen und die Decke über den Kopf gezogen. Als ob das jetzt noch was nützen würde! Der ist aus Schaden jedenfalls nicht klug geworden. Uwe und ich haben Axel bei sich zu Hause am Gartenzaun abgeliefert. Ganz reinbringen wollten wir ihn lieber nicht, weil wir Angst hatten, von seinem Vater gleich eine gewischt zu bekommen, der ist nämlich Schwerarbeiter, mit dem ist nicht gut Kirschen essen, und wenn er sieht, wie ramponiert sein Sohn ist, bekommt er sicher einen Wutanfall und haut uns windelweich.


Ich hab trotz des Unglücks einen Bärenhunger.

«Apfelkuchen, Apfelkuchen!»

Heute hat Oma tatsächlich Apfelkuchen gemacht, wie immer mit einem Gitter aus Hefeteig obendrauf. Ich schaffe vier Stücke, und Oma hält mir ihre warmen Hände ans Gesicht, bis es glüht.

Noch zwei Tage bis zum Heiligen Abend, heute ist Martins Geburtstag! Ich gucke immer, wenn Mutter von ihren Besorgungen nach Hause kommt, wie groß die Pakete sind und was da wohl für mich drin ist. Für sie und die Großeltern sind die Geschenke nicht mehr wichtig, aber irgendwas muss ich ihnen basteln oder malen, was von Herzen kommt. Noch habe ich nichts. Draußen hat es sich wieder mal eingeschneit, es wird immer doller mit dem Schnee. Die Großeltern sagen, dass es so einen Winter seit neunzehnhundertsiebenundvierzig nicht mehr gegeben hat, und Großvater kommt gar nicht nach mit dem Schneeschippen. Mareks gucken alle paar Stunden, ob die Wege auch frei sind, und wenn nur eine dünne Schicht Schnee liegt, gucken sie schon böse. Frau Marek sagt, dass jeder für seine Wege selbst verantwortlich ist, und wenn sich jemand etwas bricht, wird’s teuer. Oma hat Angst vor ihr und muss sehr vorsichtig gehen. Wenn sie sich in ihrem Alter etwas bricht, kann es brenzlig werden. Opa hat schon einen ganz roten Kopf vom Schneeschippen, Schneepflüge kommen hier nicht her, weil die Straßen zu klein sind und zu wenig Verkehr herrscht. Die Autos sind alle eingeschneit und können erst wieder im Frühjahr gefahren werden. Mir gefällt es so ohne Motorenlärm gut, von mir aus könnte es noch bis in den April so bleiben, und auf Herrn Marek mit seinem Käfer bin ich ja nun Gott sei Dank nicht mehr angewiesen.


Am Nachmittag bin ich bei Martin eingeladen. Seine ganze Familie außer seinem Vater ist da und noch zwei Freunde, die ich nicht kenne, Bernd und Thomas. Bernd ist groß und dick und Thomas das genaue Gegenteil, schmal wie eine Maus mit pechschwarzen Haaren. Bernd sieht man schon von weitem an, dass er fies ist. Wenn man mit dem alleine ist, quält und foltert er einen bestimmt. Er sitzt direkt neben Thomas und kneift ihn dauernd mit voller Wucht in den Rücken. Thomas traut sich aber nicht zu mucken, denn sonst gibt es hinterher oder morgen richtig was. Frau Schipanski hat Buttercremetorte gebacken, die habe ich noch nie gegessen, und sie schmeckt mir auch nicht, weil kein Obst drin ist. Oma bereitet Kuchen und Torten immer mit Obst zu, Apfel, Johannisbeer, Kirsch, Brombeer, Birne. Ich esse mein Stück aus Höflichkeit trotzdem ganz auf. Man hört die Wohnungstür aufgehen, und Herr Schipanski kommt von der Arbeit. Gleich gibt es richtiges Abendbrot, und die Geburtstagstafel wird aufgehoben. Übermorgen ist Weihnachten, und ich kriege schon ganz feuchte Hände bei dem Gedanken daran.


Heiligabend am Mittag trudeln Onkel Otto und Tante Mariechen ein. Tante Mariechen ist Omas Schwester, Oma hätte es nur zu gern, wenn sie auch in den Westen ziehen würden, aber die fühlen sich im Harz wohl, und es stört sie auch nicht, dass es in der DDR nichts Richtiges gibt. Oma hat schon tagelang im Voraus gebacken und gekocht. Weihnachten kann ich mich nach Herzenslust satt essen, wie zuletzt auf der goldenen Hochzeit. Bei den meisten gibt es Heiligabend Kartoffelsalat mit Würstchen, aber bei uns gibt es heute schon Gans mit Rotkohl und Salzkartoffeln. Otto und Mariechen sind so alt wie die Großeltern. Tante Mariechen ist schwerhörig, und man muss sehr laut sprechen, und Onkel Otto ist schon ganz schön tatterig, er kann nur noch in kleinen Schritten tippeln. Aber sie haben riesige Pakete mit, wer weiß, wie die die überhaupt in die Eisenbahn gekriegt haben. Die sind bestimmt für mich, denn die Erwachsenen bedenken sich untereinander nur mit Kleinigkeiten. Oma und Mariechen bereiten in der Küche alles für den Abend vor, während Opa und Onkel Otto im Wohnzimmer bleiben. Ich sehe es Opa genau an, dass er lieber wieder in den Keller runter würde, aber er kann Otto ja nicht alleine sitzen lassen.

«Na, Otto, wie geht es euch denn?», fragt Opa.

Onkel Otto winkt ab und sagt: «Der Lack ist ab.»

Darauf weiß Opa nichts Rechtes zu sagen, und ich bin froh, dass Mutter reinkommt und wir langsam mal losmüssen. Vor der Bescherung fahren wir nämlich in das Altersheim Maria-Kroos-Stift, um den alten Leuten dort etwas vorzuflöten. Angelika und Ines, Mutters beste Blockflötenschülerinnen, kommen ebenfalls mit. Wir müssen den Bus um 14 Uhr 17 bekommen, um 14 Uhr 19 steigen die beiden Mädchen eine Station weiter in Hanhoopsfeld dazu. Ich spiele erst nächstes Jahr mit, in diesem Jahr soll ich mir erst mal alles angucken.

Die alten Leute warten schon ganz gespannt, und um Punkt drei geht es los. Mutter hat mit den Mädchen Weihnachtslieder einstudiert. Mein Lieblingsweihnachtsstück heißt «Es ist ein Ros entsprungen». Die alten Menschen sind zu Tränen gerührt und wir auch, weil wir ihnen mit unserem Konzert so eine große Freude machen. Ich denke daran, dass viele von ihnen mutterseelenallein sind, sonst wären sie ja nicht hier. Ein paar von den alten Damen singen lauthals mit, und eine Frau im Rollstuhl singt schneller, als Mutter das Tempo angegeben hat, und alle müssen sich mächtig bemühen, damit sie nicht durch den Tüddel kommen. Zum Glück bemerkt eine Krankenschwester das Malheur und flüstert der alten Dame freundlich etwas ins Ohr, wahrscheinlich, dass sie etwas leiser singen soll. Am Ende des Konzerts gibt es für Mutter einen Blumenstrauß und für uns Kinder Süßigkeiten. Jetzt müssen wir uns aber beeilen, damit wir rechtzeitig in die Kirche kommen.

Daheim warten die alten Leute schon ganz ungeduldig, gestiefelt und gespornt.

«Mensch, Gretchen, wo bleibt ihr denn so lange?»

Die Sinstorfer Kirche ist proppenvoll, wir bekommen kaum noch einen Platz und müssen ganz hinten stehen. Vor zweitausend Jahren wurde Herr Jesu geboren! Das Vaterunser kann ich auswendig, und damit es jeder mitbekommt, spreche ich so laut, dass mich Mutter anstupst. Nach dem Gottesdienst wartet der Pastor am Ausgang. Er drückt allen die Hand und gibt ihnen noch ein paar gute Worte mit auf den Weg. Als der Pastor meine Oma sieht, freut er sich besonders und drückt ihr extra herzlich die Hand, Oma geht nämlich fast jeden Sonntag zum Gottesdienst, und nicht nur Weihnachten oder an anderen Feiertagen. Auf dem Nachhauseweg halte ich es vor Aufregung nicht mehr aus. Kaum haben wir es uns im Wohnzimmer gemütlich gemacht, klingelt es auch schon. Ich weiß natürlich, wer es ist, der Weihnachtsmann. Als Weihnachtsmann sieht Opa noch mal kleiner aus, er hat einen Sack und eine Rute und fragt, wer Mathias ist und ob ich auch immer schön artig war. Natürlich sage ich ja, ein Gedicht oder einen Spruch muss ich nicht aufsagen, dann stülpt Opa den Sack um, und endlich darf ich auspacken: jede Menge Anziehsachen, Spiele und eine Rakete mit Batteriebetrieb, aber das Dollste ist ein Mondauto! Es sieht genauso aus wie das Auto, mit dem die Astronauten auf dem Mond gelandet sind. Es ist das schönste Geschenk, das man sich ausmalen kann. Nach der Bescherung gibt es den Festtagsschmaus, und dann geht Mutter an den Flügel, und wir singen gemeinsam Weihnachtslieder, und ich darf bis halb zehn aufbleiben. In der Nacht kriege ich kein Auge zu. Ich kann es kaum abwarten, am nächsten Tag mit dem Mondauto weiterzuspielen.