Raucher sind alle Schweine
Am Vormittag kommt der Klavierstimmer Herr Siegbert und stimmt unseren Steinwayflügel. Herr Siegbert kommt einmal im Jahr und hockt dann stundenlang vor dem Flügel, steckt seinen Kopf hinein und haut mit einem Klöppel auf die Saiten, und kein Mensch weiß, was er da eigentlich macht, aber hinterher klingt der Flügel immer fabelhaft. Sagt meine Mutter. Ich höre keinen Unterschied, der Flügel klang vorher auch schon gut, aber Mutter und Herr Siegbert haben viel feinere Ohren. Herr Siegbert ist groß und knochig, dafür hat er wulstige Lippen, die er bei jedem Anschlag von seinem Klöppel nach vorne stülpt. Genau wie Großvater trägt Herr Siegbert immer Anzug mit Schlips und Kragen. Bevor es losgeht, legt er sein Jackett ab. Opa macht immer einen langen Spaziergang, wenn Herr Siegbert da ist, für ihn ist das Gestimme eine einzige Qual. Oma steht in der Küche und brüht frischen Bohnenkaffee auf, Herr Siegbert trinkt unwahrscheinliche Mengen davon. Mutter sagt immer, sie wundert sich, dass Herr Siegbert noch keinen Herzinfarkt bekommen hat von dem starken Kaffee. Außerdem raucht er wie ein Schlot, und obwohl Mutter Raucher hasst wie die Pest, stellt sie ihm einen Aschenbecher hin, denn wir sind sehr gastfreundlich, und Mutter sagt, wenn er sich freiwillig die Gesundheit ruinieren will, dann soll er es ruhig tun, sie kann ihn sowieso nicht davon abhalten. Wenn er wieder weg ist, wischt sie jede Taste gründlich ab, weil sich die Asche in jede einzelne Ritze verteilt. Mutter schüttelt sich und murmelt «ihgittigitt» vor sich hin und dass Raucher alle Schweine sind.
«Hörst du, Mathias, Raucher sind alles Schweine. Fang du bloß nie damit an!»
Dann zählt sie die Kippen im Aschenbecher und schüttelt ratlos den Kopf darüber, wie man in nur vier Stunden so viele Zigaretten rauchen kann. Ich habe Oma und Mutter mal im Gespräch belauscht und weiß seitdem, dass Herr Siegbert meine Mutter sehr gerne mag. Er hat sie sogar mal zum Abendessen in ein Restaurant eingeladen, aber Mutter wollte das nicht, auch wegen der Zigaretten, und Herr Siegbert hat manchmal außerdem noch eine Schnapsfahne. Aber auch wenn er nicht rauchen und trinken würde, würde meine Mutter sich nicht mit ihm treffen, denn für meine Mutter kommen nur Männer in Frage wie Herbert von Karajan oder ein Arzt oder Professor. Meinen Vater hätte sie auch genommen, aber der war schon verheiratet. Viel mehr weiß ich darüber nicht.
Obwohl Herr Siegbert so knochig ist, hat er eine ganz tiefe Stimme. Er brummelt so tief, dass man es kaum verstehen kann. Es bringt Mutter richtig zur Weißglut, wenn sie immerzu nachfragen muss. Aber ihn bitten, lauter zu sprechen, kommt nie und nimmer in Frage, dazu ist Mutter viel zu höflich. Wenn er weg ist, beschwert sie sich dafür lauthals: «Kruzitürken noch mal, dass der Siegbert die Zähne nicht auseinanderkriegt!» Herr Siegbert bringt Mutter Blumensträuße mit und mir Kinderschokolade. Ich glaube, dass er mich mag und Mutter auch mit mir zusammen nehmen würde. Aber sie würde da nie und nimmer einwilligen. Obwohl ich Herrn Siegbert ganz gut leiden mag, kann ich mir nicht vorstellen, dass er mein Vater wird. Mutter sagt manchmal, dass Opa ganz rührend den Vater für mich spielt, aber eben doch nur der Großvater ist und einen richtigen Vater nicht ersetzen kann und mir die männliche Hand fehlt. Mutter denkt, dass ich meinen Vater unbedingt kennenlernen will und dass mir auch Geschwister fehlen, aber das stimmt nicht. Ich habe mich an alles gewöhnt, so wie sie ist, und außerdem hat man als Einzelkind den Vorteil, dass man nicht teilen muss.
Wir sitzen in der Küche und hören zu, wie Herr Siegbert nebenan das Klavier stimmt, und plötzlich gibt es ein riesengroßes Geschepper. Mutter stürzt ins Wohnzimmer und ich hinterher. Herr Siegbert ist kreidebleich, weil er das Kaffeegeschirr umgeschüttet hat. Er brummelt leise «Um Gottes willen», und ich sehe, dass sich Mutter kaum noch beherrschen kann. Es ist nämlich nicht das erste Mal, dass ihm dieses Malheur passiert.
«Was haben Sie gesagt? Ich kann Sie nicht verstehen, wenn Sie immer so leise reden!»
Jetzt hat Mutter doch die Beherrschung verloren! Vielleicht lernt Herr Siegbert seine Lektion und redet in Zukunft lauter und stellt vor allem seinen Kaffee nicht immer auf dem Flügel ab, sondern auf dem Tisch, der ist schließlich dafür da.
«Das wollte ich nicht, Frau Halfpape.»
Er steht auf, als ob er helfen wollte, aber er würde natürlich alles nur noch schlimmer machen, und Mutter macht eine Handbewegung, dass er sich wieder setzen soll. Das tut er dann auch und hockt wie ein begossener Pudel auf dem Klavierbock.
«Gleich schrei ich Kakao», sagt Mutter. «Scheiße» würde sie niemals sagen und schon gar nicht vor mir. Jetzt kommt auch Oma mit Eimer und Lappen, und zusammen wischen die Frauen den Teppich, und Mutter guckt zu Herrn Siegbert, damit der ja auch sieht, was für ein Schwein er ist mit dem Kaffee und den Zigaretten. Und der will Mutter heiraten! Niemals. Jetzt bin ich auch gegen Herrn Siegbert. Was bildet der sich überhaupt ein? Das ist schon ein Schauspiel, wie die Frauen den Fleck rausmachen und Herr Siegbert aus Verlegenheit weiterstimmt. Aber einen neuen Kaffee bekommt er heute sicher nicht mehr! Er klöppelt auch nicht mehr so laut, um Mutter nicht noch mehr gegen sich aufzubringen. Schließlich ist der Fleck so gut wie raus, und wir gehen wieder nach nebenan in die Küche, und Oma fängt schon mal mit Essensvorbereitungen an. Es gibt Kasseler mit Salzkartoffeln und Blumenkohl. Ich finde, dass Blumenkohl langweilig schmeckt, außerdem stinkt die ganze Küche bis in den Abend hinein, aber Oma meint, Blumenkohl ist sehr gesund, und sie zählt auf, wie viele Vitamine drinstecken, obwohl man das von Blumenkohl gar nicht denkt, sondern in erster Linie von Obst. Es klopft an der Tür. Mutter sagt «Herein!», und Herr Siegbert kommt und stellt den vollen Aschenbecher auf den Küchentisch, auf dem Oma gerade das Essen macht. Dafür erntet er von Mutter wieder einen strafenden Blick. Herr Siegbert ist ganz durch den Wind. Dann bringt Mutter ihn noch zur Tür, wo er auch sein Geld bekommt. Ich weiß zufällig, dass es vierzig Mark sind. Ich finde das ganz schön unverschämt, Herr Siegbert nutzt aus, dass er der einzige Klavierstimmer weit und breit ist, auch wenn Mutter meint, alle Klavierstimmer nehmen so viel. Das kann ich mir kaum vorstellen. Von Rechts wegen müsste man den Teppich in die Reinigung bringen, und Herr Siegbert müsste das bezahlen von seinem königlichen Gehalt. Ich gucke aus dem Küchenfenster und sehe, wie er sich davonschleicht. «Guck mal, was für einen Buckel der macht», sagt Mutter, obwohl es gar nicht ihre Art ist, hämisch zu sein. «Der hat ja noch einen krummeren Buckel als ich», sagt Oma. Und: «Den Buckligen heilt nur der Tod.» Die beiden Frauen lachen aus allen Rohren, und ich lache mit.
Oma hat wirklich einen krummen Buckel. Opa nicht und Mutter sowieso nicht. Sie hat eine sehr gute Haltung und einen schönen Busen. Einmal hat sie sich vor mir umgezogen, und ich war ganz stolz, dass sie so ein Vertrauen zu ihrem Sohn hat, dass sie sich vor meinen Augen ausgezogen hat und sich nicht geniert. Mutter geht mit dem Lappen ins Wohnzimmer und wischt die Asche weg.
«Bevor die sich im ganzen Raum verteilt! Das kriecht sonst in alle Ritzen, und man kriegt es nie wieder sauber.»
Ich finde das übertrieben, aber sie ist nun mal allergisch gegen Raucher. Ich setze mich zu Oma und beobachte, wie sie Wasser aufsetzt und Kartoffeln schält. Meine liebe Oma. Eigentlich finde ich gar nicht, dass sie einen Buckel hat, aber wenn man genauer hinguckt, sieht man es doch. Da kommt Opa von seinem Spaziergang wieder. Er lupft den Hut und bleibt stehen. Wahrscheinlich unterhält er sich mit Frau Marek, die hat sich schon mal beschwert wegen der Klavierstimmerei, aber da kann man nichts machen, schneller geht’s nun mal nicht.
«Wann gibt es denn zu essen, Friedel?»
«Aber Walter, das weißt du doch.»
«Und was gibt es?»
«Kasseler.»
Opa zieht ein wenig ein Gesicht.
«Passt dir das etwa nicht?»
«Doch, es passt alles, was du machst, Friedel.»
Dann geht er ins Wohnzimmer und setzt sich schon mal hin und liest in der Zeitung. Wir haben zwei Zeitungen bei uns zu Hause, die «Harburger Anzeigen und Nachrichten» und die «Frankfurter Allgemeine Zeitung». Mutter sagt, dass die Harburger Anzeigen und Nachrichten ein Käseblatt sind, sie selbst liest nur die FAZ. Wir sind in unserer Familie für die CDU und ich auch. Ich weiß, dass Daubers und Griesfelds für die SPD sind, und Mareks sind auch für die CDU.
Monsieur Durand ruft an und verkündet, dass die ganze nächste Woche auch noch frei ist. Ich freue mir ein Loch in den Bauch und stelle mir vor, wie nach den Masern die Windpocken ausbrechen und dann etwas anderes Ansteckendes, und zu guter Letzt bricht sich Herr Durand das Bein, und so vergeht das Jahr wie im Flug, und ich muss nie wieder hin. Mutter hilft Oma beim Essenzubereiten. Das ganze Haus riecht nach Blumenkohl. Ich gehe noch mal kurz raus. Auf der Straße ist keine Menschenseele, bis auf Herrn Schulz, der gerade von der Arbeit kommt und noch seine Arbeitskleidung anhat. Herr Schulz ist Busfahrer, und wenn er gerade Dienst hat und ich Bus fahren muss, kommt es mir immer so vor, als wenn wir Verbündete wären und mir der Bus mitgehört und ich es mir aussuchen kann, ob ich Fahrgeld bezahle oder nicht. Herr Schulz ist noch kleiner als Opa und seine Frau noch mal kleiner, wie ein Kind, aber auch mit Buckel. Ihr Sohn Tobias ist so alt wie ich und mongoloid. Manchmal kommt er zum Spielen auf die Straße, aber er kann nichts und zieht meist nach kurzer Zeit wieder ab. Er kann auch nicht richtig sprechen, trotzdem macht sich keiner über ihn lustig, nur können wir eben nichts mit ihm anfangen. Ein Grund, ihn zu besuchen, ist aber die Modelleisenbahn von Herrn Schulz, die so groß ist, dass sie über den ganzen Dachboden geht. Herr Schulz ist jede freie Minute dort und denkt sich immer neue Strecken und Schikanen und Hindernisse aus. Er bekommt leuchtende Augen, wenn man sich für sein Hobby interessiert, und erklärt stundenlang, was er wieder alles Neues gebaut hat. Auf dem Dachboden gibt es sicher keinen freien Zentimeter mehr. Er hat vier verschiedene Trafos und kann damit die Züge steuern. Einmal wurde er von seiner Frau nach unten gerufen, und Tobias hat sofort Zusammenstoß gespielt und dabei mehrere Brücken kaputt gemacht. Als Herr Schulz wieder nach oben gekommen ist, hat er einen Schock bekommen und Tobias eine gezwiebelt, worauf der rasend wurde, weil er das nicht gewohnt ist. Wegen seiner Behinderung wird er ja sonst nie geschlagen. Wie wild hat Tobias auf die Eisenbahn eingehauen und dabei Riesenkräfte entwickelt. Herr Schulz hatte seine liebe Mühe, ihn zu bändigen. Sonst gibt es in der Siedlung keine Behinderten, außer Herrn Stöver, dem sie im Krieg ein Bein abgeschossen haben. Mutter sagt, dass Herr Stöver genau wie Herr Glotz ein schlimmer Nazi ist, obwohl er wegen Hitler das Bein verloren hat, aber das interessiert ihn nicht, er verehrt Adolf Hitler trotzdem. Oft hinkt er durch die Siedlung und schreit seine Parolen oder schimpft in seinem Garten die ganze Zeit laut vor sich hin. Manchmal ärgern wir Kinder ihn und bringen ihn zur Weißglut, bis er versucht, uns hinterherzulaufen und einen von uns zu erwischen, aber das klappt nie und nimmer mit seinem einen Bein. Nur einmal hat er Tobias erwischt, der gar nicht wusste, was los war, und einfach stehen geblieben ist. Herr Stöver hat ihn windelweich geprügelt, aber Schulzes haben ihn dafür angezeigt. Herr Stöver musste eine Strafe zahlen und ist seitdem bei allen untendurch und noch ungenießbarer. Ich glaube, wenn er jemals einen von uns in die Finger bekommen würde, würde er ihn totschlagen. Der einzige Mensch, den er nicht anbrüllt, ist wieder mal Oma. Oma ist auch die Einzige, die überhaupt noch ab und zu ein Wörtchen mit ihm spricht. Sie sagt, dass Herr Stöver gar nicht so ist, wie es scheint. Es ist jedenfalls ganz erstaunlich, wie Herr Stöver sich verwandelt, sobald Oma in der Nähe ist.
«Mathias!»
«Ja, ich komme.»
In der Blumenkohlsoße sind Mehlklümpchen. Oma sagt immer, es ist eine große Kunst, richtige Mehlschwitze zu machen, aber dann sind doch immer Klümpchen in der Schwitze. Ich krieg Schwitze mit Klumpen nicht runter und tu sie an den Rand.
Um halb zwei stehen Martin und Sigrun gleichzeitig vor unserer Tür. Martin ist ganz verlegen, und Sigrun geht gleich ins Wohnzimmer durch, sie kennt sich schon gut aus und weiß, wo alles ist. Ich stelle Martin meinen Großeltern vor. Oma bietet ihm was zu essen an, aber Martin hat keinen Hunger. Dann zeige ich ihm mein Zimmer. Er fragt mich, warum ich keine Poster an der Wand habe. Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Ich habe nur ein Bild, das Jesus mit seinen Jüngern zeigt, wie sie durch ein Kornfeld marschieren. Ganz vorne geht Jesus selber mit Johannes und erklärt ihm etwas. Johannes hört aufmerksam zu, die restlichen Jünger gehen in gehörigem Abstand hinterher. Martin sagt, dass er Poster von Rockbands hätte und eins von Frank Sinatra. Ich kenne Frank Sinatra nur vom Hörensagen. Bei uns zu Hause läuft nur klassische Musik, und eine eigene Stereoanlage bekomme ich erst in mehreren Jahren. Klassische Musik ist auch viel schöner und wertvoller, sagt meine Mutter, und ich finde es selber auch. Jetzt tue ich aber so, als würde ich Frank Sinatra auch gut finden. Nebenan erklingen die Einspielübungen von Sigrun. Es sind zwar nur Übungsstücke, die man in der Sprache der Musik Etüden nennt, aber ich finde, die hören sich fast noch schöner an als richtige Stücke. Meine Mutter hat mir erklärt, dass Etüden nur komponiert wurden, um die Finger geschmeidig zu machen, damit man später die Stücke von Bach und Beethoven und Mozart aus dem Effeff spielen kann. Sigrun spielt schon so schnell, dass sich die Töne mischen. Dann unterbricht Mutter sie und spielt ihr das noch mal vor, aber noch schneller. Ich bin stolz auf meine Mutter. Martin ist auch beeindruckt, und für Sigrun wird es bei aller Liebe echt noch ein Weilchen dauern, bis sie so schnell wie Mutter spielt.
«Was wollen wir denn jetzt machen?», fragt Martin.
«Weiß nicht. Fußi?»
«Von mir aus.»
Die Straße ist menschenleer. Ich frage mich, wo die anderen alle sind. Ich überlege, sie rauszuklingeln, aber vielleicht versteht sich jemand noch besser mit Martin, und dann wechselt Martin zu Thorsten oder Uwe oder sogar Norbert, das könnte ich mir jedenfalls gut vorstellen. Aber dann passiert etwas ganz anderes: Der Kartoffelbauer kommt! Zweimal im Jahr kommt der Kartoffelbauer in unsere Siedlung, man kann direkt bei ihm neue Kartoffeln kaufen und sie sich in den Keller bringen lassen. Und das Beste: Er fragt uns Kinder, ob wir die Kartoffeln zu den Leuten in die Keller tragen wollen, und am Ende gibt er uns fünf Mark oder sogar zehn, je nachdem. Da wir die einzigen Kinder weit und breit sind, bleibt ihm nichts anderes übrig, als uns zu fragen. Ich erkläre Martin, worum es geht, und er hat auch Lust. Fußball spielen können wir in Zukunft noch genug. Der Kartoffelbauer klingelt mit einer Glocke, die einen Lärm macht, dass man es in der ganzen Siedlung hört. Dong, dong, dong. Die Leute kommen aus ihren Häusern und kaufen fünf oder zehn oder noch mehr Kilo Kartoffeln. Dann schleppen Martin und ich die Kartoffeln zu den Leuten in den Keller. Wenn jemand gleich einen ganzen Zentner kauft, muss der Kartoffelbauer selber schleppen, weil das für uns zu schwer ist. Mutter sagt, dass mein Rücken noch nicht ausgewachsen ist und ich bleibende Schäden davontragen kann, und bei einer ungeschickten Bewegung bricht man sich was oder fällt die Kellertreppe runter. Mir ist das egal, denn so viel Geld wie beim Kartoffelbauern kann man sonst nirgends verdienen. Er hat kaum noch Zähne und eine große rote Nase mit Knorpel, Adern und Grieben. Mutter sagt, das ist eine Säufernase. Komisch, dass sie mir die Schlepperei nicht einfach verbietet, ein Glück nicht.
Der Kartoffelbauer lässt den Trecker wieder an und fährt fünfzig Meter weiter und klingelt wieder mit seiner Glocke. Dong, dong, dong. So geht das den lieben langen Tag. Wir schleppen und schleppen und haben bald hochrote Köppe und lahme Arme. Der Rücken tut mir weh. Wenn der Trecker sich wieder in Bewegung setzt und wir nur nebenherlaufen müssen, mache ich drei Kreuze wegen der Erholungspause. Aufgeben würde ich nie, außerdem hätte ich ein schlechtes Gewissen, den Kartoffelbauern im Stich zu lassen, und vor Martin darf ich mir auch nichts erlauben. Der sieht zwar auch aus, als ob er aus dem letzten Loch pfeifen würde, aber er gibt genauso wenig auf, er ist ein zäher Hund wie ich. Der Kartoffelbauer spricht die ganze Zeit kein Wort mit uns und wir aber auch nicht mit ihm oder untereinander, schließlich geht es um die Arbeit, und da spricht man nicht viel. Da kommen Norbert und Axel. Tja, viel zu spät! Man sieht ihnen förmlich ihre Enttäuschung an, die hätten sich auch gerne eine schöne Stange Geld verdient. Sie stehen rum wie bestellt und nicht abgeholt und warten darauf, dass sie vom Kartoffelbauern auch einen Auftrag erhalten. Aber der hat ja in uns schon zwei Arbeiter, und Norbert und Axel gehen leer aus. Wo waren die überhaupt den ganzen Nachmittag? Bei uns geklingelt haben sie jedenfalls nicht. So bleibt ihnen nicht viel anderes übrig, als mit hängenden Köpfen wieder abzuziehen. Da kommt Oma herbeigelaufen. Wahrscheinlich hat sie noch etwas vergessen, und jetzt hetzt sie los zu Langwerner, denn gleich ist es sechs, und dann macht Langwerner zu.
«Was machst du denn da, Mathias, ich dachte, ihr wolltet Fußball spielen!»
Mit diesen Worten schüttelt sie dem verdutzten Kartoffelbauern die Hand. Ihr macht es nichts aus, dass seine Hände schmutzig sind, aber dem Kartoffelbauern macht es was aus! Er schämt sich und würde sie am liebsten in seinen riesigen Taschen für immer verstecken, aber gegen Oma ist kein Kraut gewachsen.
«Und, helfen die Jungen schön mit?», fragt sie ihn.
Man sieht dem Kartoffelbauern an, dass er nicht weiß, was er antworten soll. Dann sagt er schließlich:
«Jo, gut machen die das.»
«Aber die dürfen nicht zu schwer tragen, die sind noch im Wachstum.»
«Nee, das ist doch nicht schwer!»
«Na!», sagt Oma und guckt den Kartoffelbauern forschend an.
«Nee, nee, wirklich nicht zu schwer.»
«Dann will ich auch mal weiter», sagt Oma und reicht dem Kartoffelbauern schon wieder die Hand, aber jetzt macht es ihm nichts mehr aus, und er freut sich, dass Oma so nett zu ihm ist. Und schon hetzt sie weiter zu Langwerner. Gleich sind wir fertig mit der Runde durch die Siedlung. Meine Arme zittern, jetzt reicht es wirklich. Der allerletzte Kunde bestellt einen ganzen Zentner, da muss der Kartoffelbauer selbst ran, ein Glück. Und nun kommt der große Moment, wo er jedem von uns einen Zehnmarkschein in die Hand drückt. Dann dürfen wir uns noch Kartoffeln für zu Hause nehmen, und am Ende fährt der Kartoffelbauer davon. In dem Moment kommt Oma wieder, sie hat noch einen Liter Milch gekauft.
«Hast du morgen wieder Zeit?», fragt Martin.
«Ja. Wieder um halb zwei?»
Wir schütteln uns die Hände, und er zieht davon, während ich mit Oma nach Hause gehe.