Zwölfter Stock
Nun wohnen wir also im Hochhaus, in einer Zweizimmerwohnung für 342 Mark Monatsmiete. Küche und Bad sind frisch renoviert, und mein Zimmer ist fast doppelt so groß wie das im Reihenhaus. Nur auf den Balkon traue ich mich nicht, allein schon, wenn ich in seine Nähe komme, ziehen meine Beine bis in die Magengrube, am liebsten würde ich aufs Geländer steigen und runterspringen, damit es endlich vorbei ist. Ich glaube zwar nicht, dass ich es wirklich täte, aber man weiß ja nie, deshalb bleibe ich sicherheitshalber drinnen. Nach einer Woche sind wir immer noch damit beschäftigt, die Wohnung einzurichten, das heißt, Mutter verrückt noch dauernd Möbel, obwohl die meiner Meinung nach alle schon am ersten Tag optimal standen. Das nervt, aber wenn ich was sage, gibt’s doch nur wieder Ärger. Es ist praktisch unmöglich, ihr aus dem Weg zu gehen.
Noch drei Tage bis zum Schulbeginn, ein Glück, dann hält hoffentlich der Alltag Einzug. Am Wochenende fährt Mutter ihre Freundin Tante Maria in Reinbek besuchen, das ist eine halbe Weltreise, wie sie immer sagt. Aber statt alleine in der Wohnung bleiben zu dürfen, muss ich zu den Großeltern, wie ein Kleinkind.
Obwohl Opa immer mehr abbaut, schlüpft er jeden Morgen in seinen Anzug, und der sitzt so tadellos wie früher, ohne dass Oma ihm dabei zur Hand gehen müsste. Die arme Oma, jetzt ist sie den ganzen Tag mit ihm alleine. Bald feiern sie diamantene Hochzeit, muss man sich mal vorstellen. Sonst hat Oma niemanden mehr, mit dem sie sprechen könnte, selbst Frau Klippstein nicht, die hat irgendwann auch nicht mehr angerufen. Wahrscheinlich musste sie ins Altersheim, oder sie ist gestorben. Und jetzt würde sich Oma wohl selbst über Telefonate mit Frau Klippstein freuen. Was für eine Schnapsidee von Mutter, auszuziehen und sie im Stich zu lassen. Ganz schön egoistisch. Opa ist jetzt 91, und ich kann mir nicht vorstellen, dass er 100 wird.
Seit neuestem kommen sonntags zum Mittagessen immer zwei Mormonen. Die sind von ihrer Glaubensgemeinschaft für ein Jahr nach Deutschland versetzt worden, um für ihre Überzeugungen zu werben, und waren eines schönen Tages auch in unserer Siedlung Klinken putzen. Sie sind fast überall abgewiesen worden, schließlich gelten Mormonen als Sektenangehörige, nur Oma war so freundlich, sie hereinzubitten. War ja klar. Beide Männer sind sehr groß gewachsen und dem ermordeten Präsidenten John F. Kennedy wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie haben dieses typisch amerikanische kantig-doofe Nussknackergesicht. Ansonsten sind sie nett und erleichtert darüber, einmal nicht auf Ablehnung zu stoßen. Da Oma es mit der Nächstenliebe sehr ernst nimmt, sitzen Mr. Gordon und Mr. Meyer nun jeden Sonntag Punkt eins ausgehungert an unserer Mittagstafel und freuen sich auf das Essen, das Oma ihnen serviert. Insgeheim ist Oma froh, dass jemand ihre Kochkünste zu würdigen weiß, wir Familienmitglieder schlingen unsere Mahlzeiten nämlich meist achtlos herunter, ich finde höchstens mal bei Sauerbraten ein paar lobende Worte. Die Mormonen bringen ihrer betagten Gastgeberin immer ein Sträußchen mit, allerdings nur aus Blumen, die sie am Wegesrand gepflückt haben. Das geht nun schon seit zwei Monaten, und langsam werde ich sauer, weil sie die Gutmütigkeit meiner Oma ausnutzen, ohne auf die Idee zu kommen, mal eine Gegenleistung zu erbringen. Wenn’s nach ihnen ginge, würden sie sich wahrscheinlich noch bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag beköstigen lassen. Spachtel. Opa weiß wahrscheinlich gar nicht, wer da jeden Sonntag zum Essen anrückt, und Oma hat von ihren Besuchern auch recht wenig, da sie ja praktisch kein Wort Englisch spricht. Den Übersetzer markieren mach ich schon aus Prinzip nicht, außerdem will ich in Ruhe essen. Die Mormonen grinsen wie die Honigkuchenpferde und radebrechen nur am Anfang ein paar Brocken Deutsch. Ganz schön frech, sich bei uns so einzunisten, stumm wie die Fische Rouladen oder Schmorbraten zu vertilgen und nach einer Stunde zu verschwinden, wie sie gekommen sind. Sie stammen aus dem US-Bundesstaat Wyoming, wo auch «Die Leute von der Shiloh Ranch» gedreht werden.
Von einem Tag auf den anderen war der Spuk allerdings vorbei: Mormonen sind nämlich strikte Antialkoholiker, ihr Glauben verbietet es ihnen, auch nur einen Tropfen anzurühren. An dem besagten Sonntag gab es Putengeschnetzeltes mit gedünstetem Obst und Reis und einer Zwiebelsoße, die Oma immer mit einem Schuss Weißwein veredelt. Als die Mormonen mit ihrem Riesenappetit schon fast den ganzen Teller leergeputzt hatten, rückte Oma mit der Sprache raus und erklärte mit Händen und Füßen, dass sie gerade Alkohol zu sich nehmen. Die Männer erstarrten und schoben die Teller von sich. Aus Höflichkeit sind sie noch ein paar Minuten geblieben und haben sich dann verpieselt. Auf Nimmerwiedersehen, wie sich herausstellen sollte. Hatten wohl Angst, von meiner Oma vergiftet zu werden! Kanns’ mal sehen, obwohl sie so brav und harmlos tun mit ihren Betonhaarschnitten und Anzügen, sind sie doch durch und durch fanatisch. Vielleicht glauben sie, dass sie jetzt nicht mehr ins Paradies kommen oder so was, die armen Irren.
Wir sind in unserer Klasse zweiundzwanzig Mädchen bei nur sechs Jungen. Unser Klassenlehrer Herr Klöppel trägt die Haare halblang und hat einen Spitzbart, einen typischen Lehrerbart, wie Mutter sagt. Er unterrichtet uns in Mathe und Chemie. Oft ist es ziemlich laut während des Unterrichts. Herr Klöppel schaut sich das immer eine Weile an, bevor er dann ausrastet. Er bekommt einen hochroten Kopf und brüllt, unser Betragen sei eine «Unverfrorenheit». Er ist der einzige mir bekannte Mensch, der diese Vokabel benutzt. In Mathe bin ich zwar immer noch schlecht, aber es ist nicht mehr eine solche Katastrophe wie auf dem Gymnasium. Eigentlich liegt es an mir, ob ich mitkomme oder nicht. Wenn ich mich richtig auf den Hosenboden setze, komme ich aus eigener Kraft ungefähr auf eine Vier oder Vier minus, das reicht ja.
In der großen Pause gehen wir entweder in die Pausenhalle oder ins EKZ, beim Bäcker Negerkussbrötchen besorgen. Und natürlich rauchen alle wie die Schlote. Ich bin jetzt schon so weit, dass ich in jeder kleinen Pause eine barzen geh. Ich dreh nach wie vor selber, während Heiko Voss eine Drehmaschine benutzt, aber mit der Maschine werden die Kippen viel zu fest und sind dann nicht stark genug. Mit Martin, der wie ich nach der Beobachtungsstufe auf die Realschule gekommen ist, treffe ich mich eigentlich nur während der Schulzeit. Seine Eltern haben ihm die wüstesten Strafen angedroht, falls er sich über ihr Verbot, mich zu sehen, hinwegsetzen sollte.
Zur Konfirmation habe ich endlich einen Fernseher geschenkt bekommen, da kann ich gucken, was und wie lange ich will. Meine Mutter hat mir zwar verboten, mehr als zwei Stunden täglich zu glotzen, aber sie kann es ja schlecht die ganze Zeit kontrollieren, und jetzt schaue ich mir jeden Quatsch an, von Sendebeginn bis Sendeschluss. Endlich kann ich in der Schule mitreden. Meine Lieblingsserie ist «Kung Fu» mit David Carradine als Shaolin-Mönch. Höhepunkt jeder Folge ist eine Kampfszene, in der der kleine drahtige Mönch mit bloßen Händen und Füßen eine ganze Horde Gangster umnietet. Boing. Der Rest ist meist sterbenslangweilig, aber allein für die Kämpferei am Ende lohnt es sich auszuharren. Ich würde mir drei, vier Kämpfe pro Folge wünschen, aber wahrscheinlich dosieren die das extra so sparsam, damit man am Ball bleibt. Ich würde im Kino auch gerne «Zwei wie Pech und Schwefel» sehen, aber Mutter vertritt den Standpunkt, jetzt, wo ich den Fernseher hätte, bräuchte ich nicht noch für teuer Geld ins «Lichtspieltheater». Außerdem sind Bud-Spencer-Filme zu gewalttätig. Wahnsinn! Was soll denn an diesen Kinderkloppereien bitte schön gewalttätig sein? Das sieht ja ein Blinder mit Krückstock, wie die absichtlich danebenhauen! Harmloser können Schlägereien nun wirklich nicht sein, außer vielleicht in Zeichentrickfilmen.
Ich könnte mir in den Arsch beißen, dass «Der Exorzist» erst ab achtzehn freigegeben ist, da komme ich im Leben nicht rein. Angeblich der härteste Film der Welt, die meisten Zuschauer müssen mit Schock und Nervenzusammenbruch vorzeitig die Vorstellung verlassen und sind teilweise noch Tage später nicht ansprechbar. Erst konnte ich mir das nicht vorstellen, aber dann haben sie in der Hörzu ein paar Bilder aus dem Film veröffentlicht, und da hab ich’s auch geglaubt. Ich glaube, ich würde es auch nicht aushalten. Trotzdem wünsche ich mir nichts sehnlicher. «Ein Mann sieht rot» soll auch tierisch sein. Beide Filme laufen in unserem Programmkino «Kurbel» bestimmt ewig, die guck ich mir dann an, wenn ich achtzehn bin.
Gefallen tut mir auch die neue Serie «Unser Walter». Erzählt wird das Schicksal eines mongoloiden Jungen und seiner Familie. Das Leben mit einem behinderten Kind gestaltet sich schwierig. Kindergärten und Schulen lehnen den Jungen ab, und Walter muss privat unterrichtet werden. Die Mutter kann nicht mehr im Familiengeschäft arbeiten, weil sie sich um ihren Sohn kümmern muss. Der Vater ist gezwungen, den Laden aufzugeben, die andere Tochter Sabine fühlt sich vernachlässigt usw. So was gab’s im Fernsehen noch nie zu sehen.
«Raumschiff Enterprise» und «Columbo» werden auch gern gesehen, die Renner und Hauptgesprächsthemen auf dem Schulhof sind aber «Kojak» und «Die Straßen von San Francisco». Inspektor Heller alias Michael Douglas finden eigentlich alle Mädchen süß, sie sind mehr oder weniger ausnahmslos verliebt in ihn. Aber am tierischsten sind die «Otto-Shows» im ersten Programm, die allerdings nur einmal jährlich ausgestrahlt werden. Schon Wochen vorher fiebere ich auf das Ereignis hin. Die nächste Show werde ich mit dem Kassettenrecorder mitschneiden, damit ich nicht einen Gag vergesse. Die ersten beiden Otto-Platten höre ich auch rauf und runter. Und jetzt kommt’s: Im Oktober besucht er unsere Schule! Frau Mertens, die Deutschlehrerin unserer Parallelklasse, kennt ihn angeblich und hat es arrangiert. Woher Frau Mertens jemanden wie Otto kennt, ist mir komplett schleierhaft, aber nachdem es anfangs alle für eine Ente gehalten haben, scheint es wirklich zu stimmen. Für eine ganze Schulstunde kommt Otto Waalkes nach Hanhoopsfeld!
Statt des Jesusbildes ziert jetzt das Deep-Purple-Poster aus dem Hamburger Abendblatt meine Wand. Ich hätte niemals für möglich gehalten, dass ausgerechnet das Hamburger Abendblatt ein Poster von Deep Purple rausbringen würde, und noch dazu das beste, was es gibt, finde ich. Ganz vorne steht Bassist Roger Glover, der wie Ian Paice die Arme verschränkt hält. Ian Gillan trägt nur ein blaues Unterhemd. Jon Lord hinten in zweiter Reihe sieht mit den Haaren und dem Bart selbst aus wie Jesus, während Ian Gillan, Ian Paice und Ritchie Blackmore glatt rasiert sind. Es gehen Gerüchte, dass sie nächstes Jahr in Hamburg auftreten sollen, im CCH, Saal 1.
Zu den Jungen aus meiner Klasse habe ich nur wenig Kontakt. Frank und Andreas scheiden schon mal aus, weil sie die ganze Zeit zusammenglucken, man kommt bei denen nicht dazwischen. Sie beschießen sich und andere die ganze Zeit mit Kartoffelpistolen und giggeln ohne Unterlass. Außerdem unterhalten sie sich die ganze Zeit in ihrer total behinderten Comic-Geheimsprache: «Ich so stratz weg.» – «Er so brems ab.» – «Sie so schreck auf.» Und so weiter. Sie sind fanatische HSV-Fans und besuchen jedes Heimspiel. WESTKURVE, BLOCK E prangt in riesigen Lettern auf ihren Jeansjacken.
Peter Dankwart ist die totale Nervensäge, mit seinem Holzkopf und der meckernden Lache. Ein Außenseiter aus Überzeugung, er scheint an nichts anderem interessiert zu sein als an seinem Chemiebaukasten und lebt in seiner eigenen Welt. Sein größter Wunsch ist, sich nächstes Jahr, mit fünfzehn, eine Mofa zuzulegen. Aber keine Zündapp oder Starflite, sondern eine Mars, aus dem Quellekatalog! Dauernd posaunt er herum, wie «fahrgeil» er jetzt schon ist. Wenn man ihn auf seinem Bonanzarad mit Hirschgeweihlenker und Bananensattel sieht, wie ein Behinderter ständig die Hand an der Dreigangschaltung, kann man sich schon vorstellen, was nächstes Jahr los ist.
Andreas Janischewski ist der einzige Junge, der freiwillig ganz vorn sitzt und statt Jeans immer Stoffhose und Rolli trägt. Er ist sehr drahtig und hat wulstige Lippen. Normalerweise werden alle Jungs, die Andreas heißen, Andy gerufen, er aber nicht. Andreas kommt aus asozialen Verhältnissen und gilt als Schläger. Angeblich kann er jeden umnieten, den er will. Hier in der Klasse könnte es sowieso niemand mit ihm aufnehmen. «Ich such Gegner, keine Opfer», sagt er mit mitleidigem Blick in die Runde. Ich schätze, dass er spätestens zum Ende des Schuljahrs klebenbleibt, sowieso völlig schleierhaft, wie er es bis in die Neunte geschafft hat.
Dann gibt es noch Reno Krabbendaal, der hat einen blonden Lockenkopf und bewegt sich wie ’ne Alte. Es heißt, er wäre ein Schwuli. Er behauptet zwar, er habe eine Freundin, die hat aber noch kein Mensch auf der Welt gesehen. Außerdem ist er total altklug und lässt dauernd irgendwelche Schwachsinnssprüche vom Stapel: «Der Kluge bemerkt alles, der Dumme macht über alles eine Bemerkung.» Es geht noch schlimmer: «Wer Schmetterlinge lachen hört, der weiß, wie Wolken schmecken.» Das mit dem Schwulsein kann man ihm zwar nicht beweisen, aber wir warten darauf, dass ihm auf einem Klassenfest oder der nächsten Klassenreise die Pferde durchgehen und er irgendjemanden anschwult.