Die Waldhütte

«Mathias.»

Erschreck. Was will Oma Emmi denn schon wieder?! Ausgerechnet jetzt, wo ich gerade damit beschäftigt bin, das Diebesgut zu sortieren. Obwohl sie die Garage so gut wie nie betritt, heißt es Safety first.

«Was ist denn?»

«Deine Mutti ist am Apparat. Sie möchte dich sprechen.»

Hä? Die ruft doch sonst nie an. Bestimmt irgendwas Schlimmes, es kann nur was Schlimmes sein. Alles krampft sich schon wieder in mir zusammen. Ich laufe zum Telefon. Ohne Umschweife kommt sie zur Sache:

«Mathias, halt dich fest.»

«Was ist?»

«Wir ziehen um!»

«Was? Wohin? Wieso das denn?»

«Ich habe eine Wohnung für uns gefunden, gleich um die Ecke, in Hanhoopsfeld im mittleren Hochhaus.»

«Und warum?»

«Warum, warum, stell doch nicht immer so dusselige Fragen. Wir können doch nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag bei Oma und Opa wohnen. Die wollen schließlich auch mal ihren Ruhestand genießen.»

Das wüsste ich aber! So ein Quatsch. Dann darf sich Oma nur noch den ganzen Tag mit Opa und Frau Klippstein rumplagen und sich von Frau Marek tyrannisieren lassen. Mutter spürt, dass ich überhaupt nicht begeistert bin.

«Es war doch ausgemachte Sache, dass wir als kleine Familie zusammenwohnen wollen», sagt sie beleidigt.

Ausgemachte Sache ist was anderes. Dann hätte sie ihren «Bundesgenossen» ja vorher mal informieren können. Und kleine Familie? Wie das schon wieder klingt. Bescheuert.

«Du hättest ja wenigstens mal fragen können.»

«Sag mal, Mathias, was ist denn los mit dir. Freust du dich denn gar nicht?»

«Doch. In welchen Stock denn?»

«Im zwölften. Was hätte ich dich denn großartig fragen sollen. Das hat sich kurzfristig ergeben, und da musste ich zugreifen.»

«Wann geht’s denn los?»

«Der Umzug ist heute in einer Woche.»

«WAAAS? Ich dachte, nächstes Jahr.»

«So, jetzt reicht’s aber. Sonntag spätestens bist du bitte wieder zu Hause, besser wäre Samstag. Du musst schließlich deinen Kram noch packen, oder glaubst du, ich mache das? Ein bisschen muss mein Herr Sohn schon auch mithelfen.»

«Ja, ist gut. Bis Sonntag dann. Tschüs, Mutti.»

«Auf Wiederhören, Mathias.»

Oje! Und dann? Zwölfter Stock. Das ist schwindelerregend hoch. Allein beim Gedanken daran zieht’s mir in den Beinen. Mit Mutter auf engstem Raum, dann gibt es ja überhaupt keinen Puffer mehr zwischen uns. Und die Woche drauf ist auch noch Schulanfang. Trübe Aussichten.

Mit Martin treffe ich mich seit dem missglückten Überfall kaum noch, und unsere Kindergang gehört endgültig der Vergangenheit an, noch nicht mal mehr Heike kommt nachmittags raus. Die hat sich sowieso total verändert, von der wilden Hummel zum stillen Schwan. Rasant schnell ging das, wenn man bedenkt, dass ihre Eltern sie noch vor einem halben Jahr zur Abreibung in ein Erziehungsheim gesteckt haben, weil die Pferde mit ihr durchzugehen drohten. Dauernd war schon was mit Jungen, und die Schule hat sie auch geschwänzt, und als sie dann noch in der PRO beim Klauen erwischt wurde, war endgültig Feierabend.

Während ihres Heimaufenthalts hat sie wohl einen Volker kennengelernt, der ist aber ein anderes Kaliber als die Jungen hier! Er wohnt in Hamburg-Wandsbek, und einmal, als er Heike nach Hause brachte, hatte Axel sie, neugierig wie ein Fisch, alles Mögliche gefragt. Als ob er es geahnt hätte, ist Volker noch mal zurückgekommen, von wegen, was Axel von Heike wollte. Sagt die doofe Kuh doch glatt, er hätte sie «ausgefragt». Ausgefragt! So ein Schwachsinn. Daraufhin hat Volker Axel aufgefordert, den «ersten Schlag» zu setzen. Axel wusste natürlich wieder nicht, was los ist, und Volker hat ihm ansatzlos aufs Maul gehauen, mit der Faust direkt ins Gesicht, das hat geblutet wie Schwein. Ein Wunder, dass Axel keinen Zahn verloren hat oder Nasenbeinbruch oder so was. Ich war starr vor Schreck, weil ich dachte, dass ich als Nächster dran wäre, aber der wollte nur ein Exempel statuieren und ist dann abgeschoben. Und was sagt Heike?

«Kannst von Glück sagen, dass er keinen Schlagring draufgehabt hat.»

Das war vor einem halben Jahr. Und jetzt ist es so, als hätte man ihr die Luft rausgelassen. Sie ist praktisch genauso geworden wie ihr Bruder Jochen, der, obwohl bereits einundzwanzig, den ganzen Tag auf seinem Zimmer gluckt und darauf wartet, zur Bundeswehr eingezogen zu werden. Jochen bei der Bundeswehr, ausgerechnet. Dort wird er garantiert zerquetscht wie eine Fliege. Rätselhaft, dass es bei Heike jetzt genauso ist. Beide hat es mit dreizehn erwischt. Ich kann’s zwar nicht beweisen, aber ich vermute, dass die Mutter Schuld hat. Irgendetwas Unheimliches geht von ihr aus, denn auch ihr Mann ist nur noch ein Schatten seiner selbst.

Uwe musste, wie nicht anders zu erwarten war, auf die Hauptschule, und Axel ist mit seinen Eltern nach Harburg-Heimfeld gezogen, mit dem Bus zweimal umsteigen, da hat keiner Bock drauf, aus den Augen, aus dem Sinn, so traurig das ist. Norbert schließlich hat sich total abgekapselt, er hält sich jetzt endgültig für was Besseres und träumt von einer Karriere als Berufsfußballer. Träum weiter, Junge.


Oma Emmi und ich sitzen beim Essen, als Manfred ohne zu klingeln reinkommt und sich einfach zu uns gesellt. Es gibt mal wieder Kotelett mit Mischgemüse und Salzkartoffeln. Er beäugt mich misstrauisch, als wollte er in meinem Gesicht ablesen, ob ich den Vormittag dazu genutzt habe, Teile des Diebesguts beiseitezuschaffen. Während Emmi abwäscht, geht’s in die Garage zur Bestandsaufnahme: 45 Schachteln Zigaretten, sieben Flaschen Wein und Sekt und 11 Flaschen Spirituosen und Liköre. Manfreds Misstrauen versiegt trotzdem nicht.

«Ist das wirklich alles?»

«Was glaubst du denn? Wie viel soll das denn sonst sein? Glaubst du etwa, ich bescheiß dich?»

«Würde ich dir auch nicht raten.»

Ein Glück geht es Sonntag nach Hause, Manfreds ganze Art wächst mir langsam über den Kopf. Ich bin mir sicher, dass er nur noch nach einer Gelegenheit sucht, mir eine reinzuhauen. Über kurz oder lang wird er mich zwingen, in der Scharfen Ecke Alkohol zu trinken und vielleicht noch mehr Einbrüche zu verüben. Und wer weiß, was er sonst noch so im Schilde führt. Als ich erzähle, dass ich wegen des Umzugs schon Sonntag losmuss, guckt er dumm aus der Wäsche:

«Und was wird aus der Waldhütte? Dann hat das ja gar nicht gelohnt.»

«Kann ich ja nix dafür. Was soll ich denn machen?»

«Pass auf, du Eddel, wir übernachten da in der Nacht von Samstag auf Sonntag. Wir nehmen richtig was zu rauchen und zu saufen mit, sollst mal sehen, wie geil das wird. Maik kommt auch mit.»

Maik?

«Wer ist denn Maik?»

«Der wohnt in Tostedt. Kollege von mir.»

Kollege. Was für ein Kollege denn? Manfred arbeitet doch noch gar nicht! Und wann hat er den überhaupt kennengelernt? Mir schwant nichts Gutes. Manfred plant unverdrossen weiter:

«Wir machen Lagerfeuer und kochen uns Nudeln. Und Kassettenrecorder nehmen wir auch mit. Ich hab schon ein paar Mischkassetten fertig.»

«Da muss ich erst mal Oma Emmi fragen.»

Ich werde ihm einfach sagen, dass sie es verbietet.

«Die können wir ja jetzt gleich fragen.»

«Nee, das geht jetzt nicht, die ist am Abwaschen.»

Bescheuerte Ausrede. Manfred riecht Lunte mit seiner Bauernschläue. In der Küche sieht es furchtbar aus, der Schmutz hat sich regelrecht eingefräst, und das Geschirr räumt Oma Emmi auch nicht mehr richtig weg. Ihr wachsen die Dinge langsam über den Kopf. Sie schaut aus der Küche heraus wie ein Insekt, das nach einem heißen Sommer in den letzten Zügen liegt. Ihre Augen haben die Farbe verloren und sich in flache graue Kiesel verwandelt. Und hier bereitet sie nun jeden Tag unser Essen zu. Furchtbar. Selbst vor Manfred ist mir das peinlich, obwohl der von zu Hause sicher einiges gewohnt ist.

«Frau Beuger, kann Mathias am Samstag mit in der Waldhütte übernachten?»

Oma Emmi guckt erschöpft aus der Wäsche und nickt.

«Aber nicht so spät ins Bett gehen. Wie macht ihr das denn mit dem Schlafen?»

«Luftmatratzen.»

«Na denn mal to.»

So eine Scheiße. Ich hab ein ganz schlechtes Gefühl.


In den kommenden Tagen sehe ich Manfred kaum. Angeblich muss er seinem Vater bei der Ernte helfen. Warum fragt er mich nicht, ob ich mithelfen kann, ich habe das doch immer gerne gemacht und bin zudem eine billige Arbeitskraft. Außerdem ist noch gar keine Erntezeit, das stimmt doch alles vorn und hinten nicht. Wenn ich diesen Maik vorher wenigstens einmal kennenlernen könnte! Ich habe jetzt schon Angst vor ihm. Wenn er so ein Kaliber ist wie Manfred, dann gute Nacht. Ich befürchte, dass sie vorhaben, mich zu ihrem Sklaven zu machen. Ich gehe viel mit Dachsi spazieren und überlege, wie ich zur Not aus der Waldhütte entkommen könnte. Freitagnachmittag kommt überraschend Manfred vorbei, aber nur, um an die Verabredung zu erinnern:

«Morgen Nachmittag um vier bei mir.»

«Um vier schon? Ich dachte, erst abends.»

«Wir müssen noch alles vorbereiten. Um vier bist du da.»

Und haut wieder ab. Was gibt’s da denn vorzubereiten? Der spinnt doch. Bestimmt ist das schon wieder irgendein Trick.


Ich bin so aufgeregt, dass Samstag die Nacht für mich bereits um sechs Uhr vorbei ist. Tagesanbruch – Stunde der Hinrichtungen, denke ich noch.

Maik sieht noch fieser aus, als ich ihn mir vorgestellt habe. Ein rotfleckiger Fettklops mit Schweinsohren, die Ränder haben, als hätte sich mal jemand darin verbissen. Er trägt eine Hochwasser-Manchesterhose, mit einem langen Riss am Arsch, weil er so fett ist. Eine Witzfigur, aber gefährlich. Zur Begrüßung tut er so, als ob ich Luft wäre, er gibt mir noch nicht mal die Hand. Das kann ja heiter werden. Manfred hat einen Bollerwagen organisiert, auf dem unser Proviant und die Luftmatratzen Platz finden. Außerdem hat er zwei Töpfe und eine Pfanne eingepackt.

«Wofür brauchen wir denn das ganze Kochzeug?»

«Wegen der Nudeln, du Eumel.»

Maik sagt den ganzen Weg über keinen Ton. Auf der Eisenbahnbrücke eiert uns ein nasser Hund entgegen. Wo kommt der denn her? Nie gesehen. Ich trotte mit hängenden Armen wie ein Roboter hinter ihnen her, mit jedem Schritt verstärken sich meine düsteren Vorahnungen. Warum habe ich nicht einfach eine Krankheit vorgeschoben? Dann hätte ich mich den Rest der Zeit in Oma Emmis Bett verschanzt, und zum Bahnhof wäre ich den Umweg über Todtglüsingen gegangen, damit ich keine Gefahr laufe, dass Manfred mir auflauert. Stattdessen heißt es jetzt beten.

Auspacken dauert ewig. Stabtaschenlampen, Bücher, Taschenmesser, Hängematte und anderer unnötiger Kram.

«Ich hab tierisch Hunger, lass mal was kochen.»

Maiks allererster Satz. Er hat eine hohe, sägende Schwuchtelstimme. Kein Wunder, dass er lieber das Maul hält bei dem Organ. Als Manfred fragt, wer kocht, melde ich mich. Wenn ich fürs leibliche Wohl sorge, so mein Kalkül, gerate ich erst mal aus der Schusslinie. Weil das Holz so nass ist, dauert es ewig, bis das Feuer brennt. Manfred hilft mit Unmengen Spiritus nach, bald stinkt die ganze Hütte danach. Dann schichtet er zwei Stapel Mauersteine auf und tut den Topf darauf. Während wir warten, dass das Wasser heiß wird, rauchen wir wie die Weltmeister. Dazu schenkt Manfred den ersten Scharlachberg-Cola aus. Wie wollen die denn durchhalten, wenn sie jetzt schon mit Alkohol anfangen? Und dann gleich Weinbrand. «In Scharlachberg Meisterbrand ist der Geist des Weines», fällt mir ein. Das Nudelwasser will und will nicht kochen.

«Was ist denn das für eine Scheiße hier. Ich hab voll Hunger», sagt Maik. Dabei könnte es ihm echt nicht schaden, wenn er mal eine Mahlzeit auslassen würde. Wie lange der wohl nicht essen dürfte, bis er wieder halbwegs normal aussieht? Ich schätze Minimum zwei Monate. Und zwar keinen einzigen Bissen. Als Beilage gibt’s Ketchup, und Manfred hat von zu Hause noch gekochten Schinken organisiert. Maik ist von dem einen Glas schon angetüddert:

«Los, gib mal was von dem Schinken.»

«Wir haben aber nicht so viel davon. Den brauchen wir für die Nudeln.»

«Los, gib her jetzt.»

Widerwillig händigt Manfred ihm den Schinken aus. Das ist ja interessant. Maik ist also der Oberchef hier, weil er offenbar noch stärker ist als Manfred. Die beiden haben sich bestimmt schon gebeult, denn einfach nur aus Nettigkeit gibt Manfred seine Lebensmittel sicher nicht her. Maik verschmiert Ketchup auf den Schinkenscheiben, rollt sie auf und vertilgt eine Rolle nach der andern. Da hat uns Manfred ja den Richtigen ins Nest gesetzt. Endlich, endlich, endlich, der Topf ist schon schwarz vom Ruß, kocht das Wasser. Ich tu zwei Pakete Nudeln hinein.

«Wie lange muss das denn überhaupt kochen?», frage ich.

«Halbe Stunde.»

«So lange? Ich dachte, Nudeln gehen schneller.»

«Logisch brauchen die so lange.»

Nach einer halben Stunde ist das Wasser vollständig verkocht, und die Spaghetti sind zu einer Art Brei geworden.

«Wie sieht das denn aus? Voll ätzend.»

«Das ess ich nicht.»

«Logisch isst du das, ich schwör’s dir. Der Hunger treibt’s rein.»

Wir füllen die Pampe auf die Teller, dann Ketchup drauf, und Manfred bröselt noch den Rest des Schinkens darüber. Nach dem ersten Bissen verzieht er angeekelt das Gesicht.

«Äh, wie schmeckt das denn?»

«Da ist ja voll kein Salz dran», fistelt Maik.

Stimmt. Salz hab ich vor lauter Aufregung ganz vergessen. Wenigstens ist die Pampe heiß, und mit so viel Hunger kann es einem fast schon egal sein, ob es gewürzt ist oder nicht. Mein erstes selbst zubereitetes Essen, aber das sag ich lieber nicht so laut, sonst gibt’s was. Maik verzieht zwar ununterbrochen das Gesicht, aber seinen Teller macht er trotzdem brav leer. Manfred entkorkt eine Flasche Weißwein:

«Hier. Zum Essen trinkt man Wein.»

Der Wein ist total sauer und schmeckt ekelhaft. Trotzdem stürzen die beiden das Zeug in sich hinein, als ob’s Wasser wäre. Ich trinke wieder nur winzige Alibischlucke. Gleich, stelle ich mir vor, hält mir Manfred mit Gewalt den Mund auf, und Maik schüttet die ganze Flasche in mich rein. Aber die haben schon derart einen im Tee, dass sie nicht mehr richtig kontrollieren können, ob ich austrinke. Wenn die nachher vollkommen breit sind, hab ich noch meine sieben Sinne zusammen und kann fliehen, falls das nötig ist.

«Nach dem Essen sollst du rauchen oder eine Frau gebrauchen. Kannst du beides nicht ergattern, lass die Handmaschine rattern.»

Handmaschine? Ich brauche ein Weilchen, bis ich begreife, was gemeint ist. Maik lacht wie eine Schrottpresse. Der wichst bestimmt schon. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich weiß nicht, was erlaubt ist und wann ich lachen darf und wann lieber nicht.

«Wer wäscht ab? Freiwillige vor!»

«Wieso denn Freiwillige? Dafür haben wir doch unseren Sklaven.»

Ich hab’s gewusst! Maik, die fiese Sau. Genau so hatte ich’s mir vorgestellt. Was soll ich jetzt bloß machen? Erst mal weg.

«O.K. Ich geh dann mal zum Bach, abwaschen.»

«Nix! Hiergeblieben, Sklave. Das kannst du auch morgen erledigen oder nachher, wenn’s richtig dunkel ist. Oder willst du dich etwa aus dem Staub machen?»

«Wie kommst du denn darauf?»

Statt einer Antwort verabreicht mir Maik einen Monkey. So nennen sie bei uns einen Pferdekuss. Es tut tierisch weh. Manfred versucht zu schlichten.

«Lass unseren Sklaven erst mal in Ruhe. Den brauchen wir noch. Komm, gib dem Sklaven was zu saufen, damit er sich erholt.»

Doch Maik hat Blut geleckt. Er hat das Kommando übernommen, und Manfred traut sich nicht zu widersprechen. Ich versteh das nicht. Ein Schlag von Manfred, und Maik ist platt. So seh ich das jedenfalls. Manfred macht den Kassettenrecorder an. «Easy Livin’» von Uriah Heep.

«Jetzt noch ein paar Weiber wär geil.»

«Wozu denn? Wir haben doch unseren Sklaven.»

Maik nimmt mich in den Schwitzkasten und zählt bis sechzig. Mir wird schwarz vor Augen, und ich seh Glühwürmchen.

«Lass den mal jetzt in Ruhe, der hat genug. Alter, du bringst den doch um.»

Maik wäre das völlig egal. Er würde mich, ohne mit der Wimper zu zucken, abschlachten und dann hier verscharren. Zum Glück hat er auf einmal keinen Bock mehr und lässt los.

«Hast recht, wir wollen ja noch was von ihm haben. Schenk noch mal einen ein hier.»

Er hält Manfred seinen Becher hin, der ihn diesmal randvoll mit Jägermeister macht.

«Ich trinke Jägermeister, weil ich endlich die Wüste Gabi hinter mich gebracht habe.»

«Hast du eine Schwester, dürr und mager, bekommst du niemals einen Schwager.»

«Wer nicht röhren will, muss fühlen.»

Die beiden quatschen sich in Rage.

«Jeder Mensch hat seinen Glauben. Ich glaube, ich trinke noch einen.»

«Ist die Birne erst mal hohl, ist mehr Platz für Alkohol.»

«Alkohol ist nicht die Antwort, aber man vergisst die Frage.»

«Ich bin so glücklich wie ein Schwuli im U-Boot.»

Nur noch Sprüche in der Richtung. Ich weiß schon, worauf das hinausläuft! Man sieht richtig, wie es in Maiks Bakterienhirn arbeitet. Der brütet was aus. Plötzlich springt er wie von der Tarantel gestochen auf.

«Halt mal den Sklaven fest.»

«Was ist denn nun schon wieder? Lass ihn leben, Alter.»

«Festhalten, hab ich gesagt. Und runterdrücken.»

Manfred drückt mich zu Boden, und Maik setzt sich mit seinem Glibberarsch voll auf mein Gesicht. Dann lässt er einen ziehen. So was Ekliges hab ich überhaupt noch nie gerochen, voll verwest. Der ist so besoffen, dass er echt nicht mehr weiß, wo die Grenze ist. Mich überfällt Todesangst. Mit der Kraft der Verzweiflung gelingt es mir, ihn abzuwerfen. Ich stürze aus dem Zelt und übergebe mich. Drinnen schütten sich die beiden Schweine vor Lachen aus.

«Sollen wir ihn holen?»

«Ach was, der kommt schon wieder, wenn ihm kalt wird. Lass ihn ruhig mal abkühlen, das hat er sich verdient.»

«Hahahaha.»

Es ist mittlerweile so duster, dass man kaum mehr die Hand vor Augen sieht. Unter diesen Umständen zu fliehen, hat keinen Sinn. Ich wüsste auch gar nicht, in welche Richtung ich laufen sollte. Ich blicke zum Himmel auf, zu den klaren Sternbildern, sehr schön, nützt mir im Moment leider nichts. Langsam wird’s tatsächlich ziemlich kühl. Ich fange an zu zittern. Aber wenn ich reingehe, gibt’s wieder Folter. Eine ausweglose Situation. Dann höre ich ein Scharren und Schaben und Schnüffeln. Langsam, aber sicher kommt es näher. Ich bin starr vor Schreck. Was ist das denn nun schon wieder für eine Scheiße? Aus der Dunkelheit schälen sich Umrisse, bis ich schließlich ein Wildschwein mit seinen Jungen erkenne. Dass Wildschweine sehr ungemütlich werden können, wenn man ihrer Brut zu nahe kommt, weiß jeder.

«HILFE!»

«Hörst du auch, was ich höre? Der Sklave hat Probleme.»

Ich löse mich aus meiner Erstarrung, fliehe in die Hütte und halte hinter mir die Tür zu.

«Kannst du nicht anklopfen, Sklave? Das wird leider nicht ungestraft bleiben.»

«Dadraußen sind Wildschweine!»

«Ach, du bist doch nicht ganz dicht. Jetzt lügt er auch noch. Ich geh nachgucken, aber wehe, du hast gelogen.»

Maik geht nach draußen. Eine Minute verstreicht. Er ruft:

«Der Sklave hat voll gelogen. Da ist überhaupt nichts.»

Dann hören wir Rascheln, Quieken und einen markerschütternden Schrei:

«HILFE, HILFE, WARUM HILFT MIR DENN NIEMAND?»

Manfred erstarrt zur Salzsäule. Maik schreit und schreit immer lauter. Die Wildsau nimmt ihn offenbar richtig ran. Was die wohl alles mit ihm veranstaltet? Mitleid hab ich keins. Der Typ wird in seinem ganzen Leben nichts weiter hinkriegen, als Schrecken zu verbreiten. Es gibt Menschen, ohne die die Welt einfach besser dran ist.

Schließlich kehrt Ruhe ein, nur noch leises Stöhnen ist zu hören. Nachdem wir noch eine Ewigkeit mit angehaltenem Atem ausgeharrt haben, wagen wir uns raus. Der Fettklops liegt verdreht wie eine Unfallleiche auf dem Boden und wimmert leise vor sich hin. Wir ziehen ihn mit vereinten Kräften in die Hütte.

«Ich kann nichts mehr sehen», winselt er mit seiner hohen tuntigen Stimme. «Ich kann nichts mehr sehen!»

Selbst bei Kerzenlicht ist zu erkennen, dass sein eines Auge Matsch ist. Manfreds Stimme zittert.

«Der muss sofort ins Krankenhaus.»

«Aber wenn das Wildschwein noch da ist? Vielleicht sind das auch mehrere.»

«Wenn Maik stirbt, sind wir schuld.»

«Meinst du?»

«Los jetzt, wir bringen ihn weg. Die Sachen holen wir morgen nach.»

Halb kann Maik gehen, halb ziehen wir ihn hinter uns her. Sein Atem geht hastig und stoßweise, zwischendurch sackt er zusammen, und es dauert immer ewig, bis wir ihn wieder auf die Beine gestellt haben. Vielleicht macht er sich auch nur schwer, weil er mit dem Leben abgeschlossen hat. Total zerschunden und zerschreddert.

«Lasst mich einfach liegen.»

Heul doch. Endlich kann ich meinen Frust ablassen.

«Ja, komm, lass liegen, tritt sich fest. Das gibt ’nen schönen Fettfleck.»

Jetzt hat Manfred auf einmal keinen Humor mehr.

«Sag mal, bist du nicht ganz dicht?»

«Stimmt, geht nicht. Das ist nämlich Umweltverschmutzung, wenn der Fettkloß ausläuft und die giftige Schmiere dann im Erdboden versickert. Also lass weiter.»

Was soll Manfred schon machen? Mich zusammenschlagen? Eben. Morgen bin ich weg, und zwar auf Nimmerwiedersehen. Dann können die sich von mir aus gegenseitig versklaven oder sonst wen. Endlich erreichen wir den Holzapfelhof. Manfred klingelt Sturm. Herr Holzapfel ruft sofort den Notarzt. Zeit, mich vom Acker zu machen.

«Ich geh dann mal.»

Keine Reaktion.

«Ich muss los.»

Nichts.

«Also dann.»

Wieder nichts.

«Ich geh zu Oma Emmi rüber.»

Ich hab mal gehört, dass man dreimal was sagen muss, und wenn dann noch keine Reaktion kommt, kann man gehen, zum Beispiel im Restaurant, ohne zu zahlen.

Einen Schlüssel hab ich nicht dabei, und ich muss die arme Oma Emmi wach klingeln. Dachsi benimmt sich, als wäre ich der Leibhaftige. Ich rieche derart nach Kotze, dass Emmi von meiner Fahne nichts mitbekommt, schätze ich. Sie meckert auch nicht großartig, es ist, als hätte sie mit so was gerechnet.


Sonntag verschanze ich mich bis zum Nachmittag im Haus und gehe wie geplant über den Ortskern zum Bahnhof. Die ganze Zeit habe ich Angst, dass mir Manfred und der Einäugige auflauern, aber ich begegne auf dem lieben langen Weg keiner Menschenseele. Wo sind die bloß immer alle? Ein erbärmlicher Abschied ist das, ohne «Die Leute von der Shiloh Ranch». Ich beschließe, nie wieder nach Todtglüsingen zurückzukehren.