Herr Dierks

Jetzt bin ich tatsächlich Gymnasiast. Eigentlich könnte ich stolz sein, aber ich fühle mich ganz elendiglich. Obwohl das Alexander-von-Humboldt-Gymnasium auf demselben Gelände wie die Volks- und Realschule Hanhoopsfeld liegt, weht hier ein ganz anderer Wind, das merkt man gleich. Unser Klassenzimmer liegt im Barackentrakt, der nach dem Krieg errichtet worden ist, als die ganze Schule in Schutt und Asche lag. Meine Mitschüler und ich warten vor der Baracke, bis unser neuer Klassenlehrer aufschließt. Niemand traut sich, eine Schwäche zu zeigen, alle benehmen sich künstlich erwachsen und tun viel älter, als sie sind. Dabei liegen zwischen Grundschule und Gymnasium gerade mal eben sechs Wochen! Ich werde bei diesem Unsinn jedenfalls nicht mitmachen. Einigen Strebern merkt man an, dass sie gar nicht abwarten können, zu zeigen, was in ihnen steckt, aber der Mehrheit geht es wie mir, schätze ich. Wie es wohl gerade in Todtglüsingen ist? Es herrscht immer noch herrlichstes Sommerwetter, man könnte so schön zur Tonkuhle gehen.

Um kurz vor acht kommt ein großer, hagerer Mann angeschlurft. Er sieht mit seinem Riesenkopf und der King-Kong-Schuhgröße so ähnlich aus wie Herr Siegbert, der Klavierstimmer. Unser neuer Klassenlehrer, schätze ich. Als er die Tür aufschließt, setzt ein Riesengedrängel um die besten Plätze ein, weil die Jungs natürlich alle hinten sitzen wollen. Ich auch, aber ich stolpere über meine Schnürsenkel und verliere wertvolle Zeit. So verschlägt es mich in Reihe eins. Ausgerechnet Reihe eins! Unser neuer Klassenlehrer hat ein Dauergrinsen aufgesetzt und nimmt seine neuen Schutzbefohlenen erst mal ganz genau unter die Lupe. Es dauert ewig, bis Ruhe einkehrt. Er lässt die Zügel schleifen, weil heute der erste Tag ist, schätze ich. Je länger er guckt, desto klarer wird, dass er in Wahrheit gar nicht grinst, sondern dass das sein stinknormaler Gesichtsausdruck ist. Andere Leute sehen aus, als würden sie von einem Magengeschwür geplagt, und der guckt ständig aus der Wäsche, als hätte gerade jemand einen mordsmäßig guten Witz gerissen. Als endlich auch der Letzte verstummt ist, steht er auf und stellt sich vor.

Und jetzt kommt’s: Er heißt Herr LÄCHEL! Das gibt’s doch nicht. Das ist schon so bescheuert, das kann man sich gar nicht ausdenken. Herr Lächel erklärt etwas zur Geschichte des Gymnasiums und dass im nächsten Jahr der Kreuzbau renoviert werden soll und der Direx Herr Trinks heißt. Auch schon wieder so ein seltsamer Name. Und dass er, also Herr Lächel, uns in insgesamt drei Fächern unterrichtet, nämlich Erdkunde, Deutsch und Englisch. Sein Kehlkopf bewegt sich beim Sprechen rhythmisch auf und ab. Ich frage mich, ob das schon ein Kropf ist oder ob er dafür noch größer sein müsste. Danach soll sich jeder Einzelne von uns kurz vorstellen, Name, Alter, Hobbys. Ich gebe Musik und Fußball an. So vergeht die erste Stunde mit Geplauder. In der kleinen Pause bleiben alle sitzen, danach folgt die erste richtige Unterrichtsstunde, Erdkunde. Man muss zwar höllisch aufpassen, aber es ist auf jeden Fall verständlich und keine böhmischen Dörfer.


In der großen Pause geht’s auf den Schulhof. Ich weiß nicht, wem ich mich anschließen soll, und stehe herum wie bestellt und nicht abgeholt. Die Pause ist gleich zur Hälfte vorbei, und mir sinkt das Herz in die Hose. Ich bin der Einzigste weit und breit, der alleine rumsteht. Als meine Stimmung auf dem Tiefpunkt angelangt ist, tippt mir jemand von hinten auf die Schulter: «Dich erkennt man doch auf hundert Meter schon am Gang. Du hast echt einen Gang wie ein Mülleimer.» Martin! Ich mache drei Kreuze. Er ist in meine Parallelklasse gekommen, die 5c. Was für ein Glück! Weil ich ihn während der gesamten großen Ferien nicht gesehen habe, hatte ich glatt vergessen, dass er ja auch aufs Gymnasium kommt. So ist es häufig, wenn man schon alles verloren glaubt, ist die Rettung ganz nah.

Martin berichtet von seinen Ferienerlebnissen: Schipanskis waren zum ersten und wohl auch letzten Mal in Spanien, denn dort herrschte Tag und Nacht eine solche Gluthitze, dass man es kaum aushalten konnte. Temperaturen bis 50 Grad im Schatten, auch nachts keine Abkühlung und, als ob das nicht schon gereicht hätte, eine Quallenplage, wie sie nur alle 70 Jahre einmal vorkommt. Man konnte überhaupt kein einziges Mal ins Wasser, weil alles mit Quallen verseucht war, die auf den merkwürdigen Namen «Portugiesische Galeere» hören. Bei dieser seltenen Gattung kann schon eine kleine Berührung tödlich ausgehen, sie sind hundertmal giftiger als Feuerquallen, wie man sie aus hiesigen Gewässern kennt. Martins Mutter hatte wegen der widrigen Umstände mehrere Schwächeanfälle und Herr Schipanski seine liebe Mühe, einigermaßen beruhigend auf die Familie einzuwirken. Nachdem Spanien überstanden war, ist Martin zu seinen Großeltern, die seit Jahr und Tag in Essen im Ruhrpott leben. Vom Regen in die Traufe. Denn die Großeltern mussten vor kurzem aus ihrem schönen Häuschen in eine Zweizimmerwohnung ziehen, umgeben von Schloten und Schornsteinen. Wenn Martin das vorher gewusst hätte, hätte er sich nie im Leben darauf eingelassen. Ich erzähle ihm besser nicht, wie toll es in Todtglüsingen war, sondern tu so, als wäre ich die ganze Zeit zu Hause gewesen und hätte mich zu Tode gelangweilt. Ich war ja zwischendurch auch ein paar Tage zu Hause, und dort war es wirklich langweilig. Und es wäre sogar so langweilig gewesen, dass ich mit dem Rauchen angefangen hätte. Ziemlich clever von mir, finde ich, klingt jedenfalls logisch. Martin ist dann auch beeindruckt:

«Echt?»

«Man gewöhnt sich voll schnell daran. Ich hab schon wieder ’nen Schmachter.»

Mir fällt auf, dass ich tatsächlich einen habe.

«Wir können uns ja heute Nachmittag treffen, ich hab noch eine fast volle Schachtel Navy Cut.»

«Was hast du?»

«Navy Cut, die haben die amerikanischen Marinesoldaten im Zweiten Weltkrieg geraucht.» Martin versteht natürlich kein Wort, und ich lasse ihn extra im Unklaren, nachzufragen traut er sich nicht, weil er nicht als Idiot gelten will. Man kann richtig spüren, wie beeindruckt er ist. Jetzt habe ich zur Abwechslung mal einen Vorteil! Die Pausenklingel zwingt uns zurück ins Klassenzimmer.


Dann geschieht das, wovor ich am meisten Angst hatte: Herr Dierks betritt das Klassenzimmer. Ich kenne ihn bisher ja nur aus Erzählungen, aber genau so habe ich ihn mir vorgestellt: klein, mit Autofahrerbauch, pechschwarzen Haaren und unnatürlich starkem Bartwuchs, es kommt einem vor, als könnte man förmlich dabei zusehen, wie sich sein Gesicht im Laufe weniger Stunden eindunkelt. Morgens rasiert er sich nass und abends wieder, und zwischendurch schwingt er den Trockenrasierer, stelle ich mir vor. Er trägt eine Cordhose und den dunkelblauen Rollkragenpullover, von dem ich schon so viel gehört habe. Es heißt, er wechselt ihn nie. Keiner hat ihn jemals mit einem anderen Kleidungsstück gesehen. Seine stechenden Augen schweifen über die Klasse, bei jedem Einzelnen bleibt der Blick kurz hängen. Ich bin mir sicher, dass er sofort erkennen kann, wer gut und wer schlecht in Mathe ist. Mich guckt er an, als hätte er mich sofort durchschaut und als ob ich auf dem Gymnasium nichts, aber auch gar nichts verloren hätte. Ich weiß in diesem Moment, dass ich in Mathe versagen werde. Herr Dierks irrt sich nie. Auweia, da werde ich nichts zu lachen haben, so viel steht jetzt schon fest.

Als Erstes erzählt Herr Dierks, dass Rechnen und Mathematik nicht das mindeste miteinander zu tun hätten und dass die Schonzeit jetzt vorbei ist und sich während der kommenden beiden Jahre die Spreu vom Weizen trennt. Einige von uns würden bald merken, dass gut rechnen können nicht heißt, man ist auch gut in Mathematik. Im Gegenteil.

«Um mir ein Bild von eurem Leistungsstand zu verschaffen, stelle ich euch jetzt eine Frage. Ich bin gespannt, ob jemand die richtige Antwort parat hat. Also: Eine Reisegruppe von achtundvierzig Personen mietet einen Bus. Der Fahrpreis ist auf sieben Mark pro Person berechnet worden. Bei der Busfahrt fehlen jedoch sechs Personen. Dem Fahrer werden am Ende der Fahrt einundzwanzig Mark Trinkgeld gegeben. Wie viel hat nun jeder der Fahrgäste insgesamt bezahlt?»

Was? Wie bitte? Ich bekomme schlagartig feuchte Hände, und meine Zunge fühlt sich an wie ein Radiergummi. Im selben Augenblick, in dem ich mir die Aufgabenstellung vor Augen halten will, habe ich die Frage schon wieder vergessen. Wer waren noch mal die beteiligten Personen? Nur ruhig. Eine Reisegruppe, der Busfahrer, Fahrgäste. Was soll so eine Frage überhaupt? Damit kann doch kein Mensch etwas anfangen! Ich atme tief ein und aus und versuche, mich unauffällig in die Bank zu ducken, damit er mich übersieht, obwohl ich jetzt schon weiß, dass Herr Dierks in nichts mehr Übung hat, als Schüler zu bemerken, die übersehen werden wollen. Er weiß garantiert auch sofort, wer die Lösung hat und wer nicht. Er lässt eine Ewigkeit verstreichen. Wahrscheinlich aber nur eine Minute.

«Wer hat’s?»

Ich schaue mich um und zähle sieben Meldungen. Herr Dierks geht herum und lässt sich die Antwort von jedem Einzelnen ins Ohr flüstern. Dann baut er sich vor seinem Lehrerpult auf:

«Nur eine falsche Lösung, dafür aber sechs richtige. Was ist mit den anderen?»

Es folgt noch eine weitere Meldung. Wieder lässt sich Herr Dierks ins Ohr flüstern.

«Sehr gut, stimmt.»

Er guckt in die Runde, man spürt richtiggehend, dass er sich jemanden herauspicken möchte. Hoffentlich nicht mich! Doch zum Glück trifft es einen Jungen, den ich nicht kenne. Gott sei Dank, gerettet!

«Wie heißt du?»

«Thomas.»

«Thomas, deine Lösung.»

«Ich weiß es nicht.»

«Aber du musst doch eine Lösung haben, auch wenn sie falsch ist. Vielleicht ist sie ja sogar richtig. Also raus mit der Sprache.»

Herr Dierks weiß ganz genau, dass auch Thomas noch nicht einmal die Frage verstanden hat. Genauso gut hätte Herr Dierks Chinesisch sprechen können. Wenn er mich fragen würde, würde ich tausend sagen oder eine Million, dann hat der Spuk ein Ende, und Herr Dierks weiß so gleich, was er in Zukunft von mir zu erwarten hat.

Herr Dierks schüttelt stumm den Kopf, und ohne dass er die Lösung verrät, geht’s gleich weiter zur zweiten Aufgabe. «Für diejenigen unter euch, die sich noch etwas schwertun, werde ich die nächste Aufgabe an die Tafel schreiben, damit jeder in Ruhe drüber nachdenken kann: Ein Autofahrer will von Augsburg nach München fahren. Bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 84 km/h würde er dafür 50 Minuten brauchen. Die ersten 50 Kilometer geht es mit durchschnittlich 100 km/h flott voran. Dann allerdings steht das Auto wegen eines Unfalls auf der Autobahn 18 Minuten im Stau, bevor es mit einem Durchschnittstempo von 50 km/h weitergeht. Um wie viele Minuten kommt der Autofahrer gegenüber der Planung zu spät in München an? Ich gebe euch drei Minuten, in dieser Zeit kann ein jeder auf die Lösung kommen. Los geht’s!»

Er hält tatsächlich eine Stoppuhr in der Hand.

Ich lese die Frage wieder und wieder, bis die Buchstaben vor meinen Augen tanzen und verschwimmen. Woher soll ich das denn überhaupt wissen? Um mich herum wird fieberhaft gekritzelt. Ich kliere auch irgendwas in mein Heft, um nicht aufzufallen. «Gerade sitzen, Kopf nicht stützen, Hände falten, Schnabel halten!» Wieso können das überhaupt welche wissen? So was hatten wir doch noch nie, sind die alle verrückt geworden? Oder haben die sich in den Ferien auf Mathematik vorbereitet, während ich faul an der Tonkuhle gelegen und Vögel ermordet habe?

Herr Dierks unterbricht.

«Eine Minute ist um, es bleiben noch zwei.»

So viel kann ich auch noch rechnen! Das sagt er nur, um uns rauszubringen. Wieso überhaupt Augsburg und München? Ich weiß gar nicht genau, wo Augsburg überhaupt liegt.

Herr Dierks unterbricht erneut.

«So, noch sechzig Sekunden.»

Halt bloß die Schnauze! In meiner Verzweiflung addiere ich alle Zahlen und teile sie durch zwei. 84 + 50 + 100 + 18 + 50 = 302. Geteilt durch zwei sind 151.

«Drei Minuten sind um. Wer hat die Lösung?»

Diesmal melden sich sogar acht Schüler. Das gibt es doch gar nicht! Wieso wissen das jetzt statt sieben auf einmal sogar acht? Die Frage war doch sogar noch schwerer.

«Gegenprobe. Wer weiß es nicht?»

Kein Handzeichen.

«Also haben alle eine Lösung. Na, da bin ich mal gespannt. Hier, du, wie heißt du?» Er meint mich.

«Mathias.»

«Mathias, wie viel hast du raus?»

«151.»

Herr Dierks macht eine lange Pause. Dann sagt er:

«Erklär uns doch bitte, wie du darauf gekommen bist. Komm am besten an die Tafel und rechne uns das mal vor.»

Ich werde hier noch mein blaues Wunder erleben, so viel ist sicher.