Frau Klippstein

Heute fällt die französische Kinderschule zum Glück aus, weil Monsieur Durands Kinder die Masern haben. Jetzt muss ich mich alleine beschäftigen, denn die anderen Kinder sind im Kindergarten oder in der Schule, und krank ist sonst niemand. Mutter ist Besorgungen machen. Sie hat versprochen, mir etwas mitzubringen, und ich glaube, ich weiß auch schon, was: eine Puppe! Die wünsche ich mir schon seit Weihnachten, und jetzt ist es so weit, Mutter hat so Sachen gesagt und geguckt, als ob es so weit wäre. Ich kann kaum erwarten, dass sie wieder nach Hause kommt.

Bis es so weit ist, gehe ich Autos aufschreiben. Von allen Autos, die am Walsroder Ring geparkt haben, schreibe ich die Kennzeichen auf und stelle mir vor, dass die Fahrer etwas verbrochen haben, aber ihrer Strafe nicht entgehen, weil ich jetzt ja ihre Kennzeichen habe. So gut kann ich das Alphabet jetzt schon. Ich komme mir vor wie ein Gehilfe von Kommissar Keller. Einmal waren Mutter und die Großeltern drüben bei Landwedels zu Besuch, und Opa hatte vergessen, den Fernseher auszustellen, und ich habe den «Kommissar» geguckt. Der Mord kommt gleich am Anfang, und mit einem Mal erklingt die Titelmelodie, und ich hab mich verjagt wie sonst was. Ich wäre nie draufgekommen, wer der Mörder ist, und die Assistenten wussten’s auch nicht, nur der Kommissar selber, der in einer Tour Zigaretten raucht und Bier trinkt, aber trotzdem einen klaren Kopf bewahrt. Kommissar Keller ist ungefähr so klein wie Opa und sieht auch fast so aus, vielleicht etwas jünger, aber nur etwas. Die Assistenten gucken in die Akten und telefonieren und besuchen Verdächtige und schreiben Autos auf und ziehen falsche Schlüsse. Am Ende ist es immer der Kommissar, der die Fäden zusammenzieht und eins und eins zusammenzählen kann. Wenn der Mörder zum Ende gefasst ist, kommt wieder schlagartig die Titelmelodie, und plötzlich habe ich es mit der Angst zu tun bekommen und bin nach oben in mein Zimmer gerannt und habe überall Licht angelassen, aber es ist trotzdem immer schlimmer geworden, und als die Erwachsenen immer noch nicht gekommen sind, habe ich das Fenster aufgemacht und geweint und geschrien. Ich konnte mich gar nicht mehr einkriegen. Landwedels wohnen schräg gegenüber, und meine Mutter hat mich schließlich gehört und ist angerannt gekommen und hat versucht, mich zu beruhigen, und gesagt, es tut ihr leid, und sie würde mich nie mehr alleine lassen, und ich soll ihr verzeihen, und sie würde immer hören, wenn ich nach ihr rufe, egal, wo sie ist und wo ich bin. Vom Kommissar habe ich nichts erzählt, in der Aufregung hat auch keiner gemerkt, dass der Fernseher lief, auch Opa nicht. Die Großeltern sind dann auch noch nach oben gekommen, und sie haben so lange bei mir gewacht, bis ich eingeschlafen bin. Das war im April, und seitdem habe ich nie wieder den «Kommissar» gesehen. Die Erwachsenen gucken keine Krimis, aber wenn ich erwachsen bin, werde ich am Freitagabend um Viertel nach acht keine Folge verpassen, so viel steht fest.


Ich bin fast einmal um den Walsroder Ring rum, und mir fehlen nur noch drei Autos, als Frau Schwerwath mit ihren Einkäufen kommt. Ich stelle mir vor, wie ich Assistent vom Kommissar bin und Frau Schwerwath es mit der Angst zu tun bekommt.

«Was machst du denn, Mathias?»

«Autos aufschreiben.»

«Und warum machst du das? Musst du gar nicht in den Kindergarten?»

«Nein, der hat heute geschlossen.»

«Ach so. Wie geht es denn deinen Großeltern?»

«Gut.»

«Und deiner Mutti?»

«Auch gut.»

«Hat der Kindergarten nur heute geschlossen?»

Ich gucke sie an, als ob ich die Frage nicht verstanden hätte. Mir wäre es lieber, wenn Frau Schwerwath endlich weitergehen würde, und das tut sie dann auch. Ich mache mit den Autos am Bispinger Weg weiter, bis Oma laut nach mir ruft.

«Mathias.»

So, wie Oma meinen Namen ruft, ruft sonst niemand.

«Maathiiiiiiaas.»

Es klingt fast so, als ob sie meinen Namen jodeln würde. Manchmal äffen die anderen Kinder das nach, aber nett, denn es gibt wohl keinen Menschen, der Oma nicht mag. Sie hat für jeden ein gutes Wort übrig und lächelt jeden an und geht schneller als manch junge Frau. Wenn sie mit ihren Einkäufen kommt, renne ich ihr manchmal entgegen, und wenn wir dann ein Stück gemeinsam gehen, komme ich kaum mit, so schnell ist sie. Ich kann mir keinen besseren Menschen als Oma vorstellen, und selbst Herr Glotz, der unter Hitler ein großer Nazi war und der den lieben langen Tag tobt, wird ganz freundlich, sobald Oma in der Nähe ist. Man kann einfach nicht unfreundlich sein, wenn Oma in der Nähe ist! Sie ist auch immer geduldig, mit uns Familienmitgliedern sowieso, aber auch mit allen anderen Menschen. Zum Beispiel mit Frau Klippstein. Frau Klippstein lebt in Wilhelmsburg, und seitdem ihr Mann gestorben ist, ist sie einsam. Sie ruft fast jeden Tag an, und Oma telefoniert dann stundenlang mit ihr. Das ist sehr anstrengend für Oma. Wenn sie an den Apparat geht und Frau Klippstein ist dran, sagt sie immer «Ach, Frau Klippstein» und bekommt ein ganz fahles Gesicht. Aber niemals würde sie auflegen. Manchmal tut mir Oma leid, und ich gehe in den Flur, wo das Telefon steht, und versuche zu stören, damit Frau Klippstein endlich auflegt, aber Oma macht geduldig weiter, bis Frau Klippstein hungrig wird oder irgendwas anderes passiert. Das höchste der Gefühle ist, dass Oma sagt:

«So, Frau Klippstein, dann wollen wir mal.»

Manchmal sagt sie das in ihrer Not mehrmals hintereinander, aber Frau Klippstein merkt nicht, dass ihr Typ nicht gefragt ist, und hört und hört nicht auf, und ich werde wütend. Meine arme Oma! Oma sagt, dass das Nächstenliebe ist und Frau Klippstein ganz arm dran ist, und das sehe ich natürlich ein. Aber ich wünsche mir trotzdem, dass Frau Klippstein mal jemand anderes anruft.

Heute gibt es zum Mittagessen Eierpfannkuchen mit Apfelmus und Zucker. Das mag ich von allen Essen am wenigsten. Außer Matjes. Oma brät einen Eierkuchen nach dem anderen, aber erst, wenn alle anderen satt sind, isst sie selber eine Kleinigkeit. Mutter kommt erst am Abend, sie muss bestimmt in vielen Geschäften nachgucken, um mir die richtige Puppe auszusuchen. Nach dem Mittagessen gehe ich raus auf die Straße. Es ist noch keiner da. Norbert hat vielleicht Stubenarrest wegen Thorsten. Als Erste kommt Sabine. Sabine ist adoptiert worden, alle wissen das, nur Sabine selbst nicht. Ich finde, es ist egal, ob jemand adoptiert ist oder nicht. Dann kommen auch Uwe und Wolfgang Thorwardt.

«Was gab’s bei euch zu essen?»

«Kartoffeln mit Soße.»

Bei Sabine gab es falschen Hasen, ein Hackgericht. Wir klingeln bei Heike.

«Darf Heike kommen?»

«Nein, die kommt heute nicht.»

Heikes Bruder Jochen ist schon vierzehn und konfirmiert und hockt die ganze Zeit auf seinem Zimmer. Ich habe ihn schon seit Wochen nicht gesehen. Seitdem er aufs Gymnasium gekommen ist, ist er ganz still geworden. Ich grübele darüber nach, warum Heike nicht kommt. Vielleicht hat sie Stubenarrest. Ich hoffe nicht, dass sie es ihrem Bruder gleichtun will. Es ist sehr schade, dass Heike heute nicht kann. Uwe Thorwardt schickt Wolfgang wieder weg, weil er ihm lästig ist, dann gehen wir mit Sabine zu dritt ins Tannenwäldchen.

Das Tannenwäldchen ist ein winzig kleiner Wald direkt im Anschluss an die Siedlung, von dort an geht ein Kornfeld bis zum Bach herunter. Im Herbst, wenn es viel geregnet hat, läuft das Regenwasser vom Langenbeker Feld in den Bach, und an manchen Tagen stauen wir ihn. Einmal haben Norbert und ich das Flussbett mit einem Spaten aufgegraben, und dann gab es eine Überschwemmung. Oder wir spielen Klackermadatsch. Jetzt führt der Bach nur ein dünnes Rinnsal. Uwe hat ein Brennglas mit. Wir suchen so lange, bis wir eine Ameisenstraße finden, dann versengt Uwe die winzig kleinen schwarzen Viecher. Er sagt, dass Ameisen schädlich sind, aber Sabine sagt, dass es nicht stimmt, die würden tote Insekten vertilgen, und außerdem hat jedes Tier seinen Platz, und schädlich sind höchstens Maden oder Wespen. Bald wird es Uwe langweilig mit den Ameisen, also nimmt er sich einen Regenwurm vor. Als der Lichtstrahl den Wurm trifft, brutzelt es, und der Wurm zieht sich zusammen und stinkt. Sabine ruft, dass er aufhören soll, weil das Tierquälerei ist, aber Uwe behauptet, der Wurm wäre primitiv und würde das gar nicht merken. Das sieht aber nicht so aus, wie er sich krümmt und verzweifelt versucht, dem glühend heißen Strahl zu entkommen. Sabine schreit ihn an, er soll das endlich lassen, sonst petzt sie, dass Uwe ein Tierquäler ist. Uwe hört endlich auf, aber der Wurm ist verschmurgelt und kann auch nicht mehr wegkriechen und nichts. Dann steht Uwe auf und zertritt ihn. Sabine läuft davon. Uwe lässt sich zwar nichts anmerken, aber ich merke, dass er ein schlechtes Gewissen hat, glaube ich.

«Komm, wir gehen zu Langwerner», sagt er, um abzulenken. Herrn Langwerner gehört der Kaufmannsladen in der Siedlung. Einen Pro-Supermarkt, Bäckerei und Reinigung gibt es erst im neuen EKZ in Hanhoopsfeld. Bei Herrn Langwerner kriegt man aber sowieso fast alles, was das Herz begehrt, auch frisches Brot und Eier und Milch, und eine Wursttheke mit Wurst und Käse gibt es auch. Manchmal arbeitet Frau Daumann halbe Tage, Mittwoch und Samstagvormittag, aber sonst schmeißt Herr Langwerner den Laden alleine. Er arbeitet ununterbrochen, und wenn er nicht selber im Laden steht und verkauft und alles appetitlich anordnet, dann fährt er mit seinem Mercedes nach Hamburg zum Großmarkt. Er hat einen Sohn, der aber schon längst ausgezogen ist und in Hannover studiert. Herrn Langwerners Frau ist Hausfrau und kommt noch nach Ladenschluss zum Putzen. Uwe kauft sich ein Mr. Freeze und ich einen Riegel, einen Leckerschmecker, im Fernsehen läuft immer Werbung dafür: «Leckerschmecker hört nie auf.» Weil man denkt, dass der lange Riegel nie zu Ende geht und nie aufgebraucht ist. Ich lutsche erst ganz langsam die Vollmilchschokolade herunter und esse dann das Karamell in einem Rutsch. Eine Mark habe ich noch, aber die ist geklaut, und jetzt muss ich auf der Hut sein, dass die Erwachsenen es nicht bemerken, denn eigentlich habe ich ja nichts. Wir setzen uns auf den Mülleimerplatz vor den Laden und lassen die Beine baumeln, ich setze mich extra so hin, dass ich die Straße im Blick habe und den Leckerschmecker schnell verschwinden lassen kann, wenn’s drauf ankommt. Ich weiß zufällig, dass Herr Langwerner Frank Loose zur Konfirmation zehn Mark geschenkt hat, das war sehr viel, obwohl Mutter sagt, dass der kleine Laden kaum etwas abwirft und Herr Langwerner ihn von Rechts wegen zumachen müsste. Wenn im EKZ noch ein Edeka-Supermarkt aufmacht, dann kann sich Herr Langwerner nicht mehr halten, sagt Mutter. Ich bin bei dem Gedanken ganz traurig, denn wo sollen wir dann unsere Süßigkeiten herkriegen? Jedes Mal ins EKZ zu gehen, ist viel zu weit und umständlich. Aber vor allen Dingen: Was wird aus Herrn Langwerner?

Uwe schlägt vor, zum Fußballplatz zu gehen. Ich renne erst mal schnell zu Oma und frage, ob ich darf. Sie erlaubt es mir, geht aber vorher erst einmal mit dem Lappen über meinen Mund und fragt, woher ich die Schokolade habe. Ich werde rot und sage, dass uns Frau Thorwardt Schogetten gegeben hat. Oma glaubt mir. Ich könnte ihr wohl jede Lüge auftischen, sie würde mir alles glauben. Jetzt bekomme ich ein schlechtes Gewissen, weil Oma so ein guter Mensch ist und ich das auch noch ausnutze. Ich renne schnell nach oben, um meine Fußballschuhe zu holen, und als ich wieder unten bin, gibt mir Oma einen Riegel Vollmilch-Nuss-Schokolade von Sprengel. Sprengelschokolade mag ich nicht so sehr, sie ist nicht so süß wie Schogetten, aber die beste Schokolade ist natürlich sowieso von Lindt aus der Schweiz, die ist sehr teuer.

Wir gehen hinten durch die Gärten, überqueren den Bach und laufen das Langenbeker Feld hoch bis zum großen Wald. So groß ist der Wald nun auch wieder nicht, aber viel größer als das Tannenwäldchen. Wenn man durch den Wald durch ist, kommt man an den Fußballplatz. Eigentlich ist es nur eine Wiese, auf die jemand zwei Tore gestellt hat. Er ist höchstens halb so groß wie ein normaler Fußballplatz, und pro Mannschaft dürfen höchstens sechs Spieler spielen, plus Torwart. Ein älterer Junge bestimmt, wer spielen darf und wer nicht. Die gerade nicht dran sind, müssen warten oder auf der Wiese nebenan Zweierkämpfe spielen, aber anders als die Zweierkämpfe am Garagenplatz. Mit Jacken und Taschen werden Tore markiert, und dann spielen immer zwei gegen zwei, es können insgesamt vier Mannschaften gleichzeitig spielen. Als wir ankommen, bestimmt der ältere Junge gerade die neuen Mannschaften. Der Junge heißt mit Namen Bernd Trähnert, zu Anfang dachte ich, er wäre Trainer, weil alle ihn nur mit Nachnamen ansprechen und ich das nicht verstanden habe, dass an das Trainer noch ein T mit angehängt ist. Aber jetzt weiß ich Bescheid, außerdem ist es ja Quatsch mit dem Trainer, weil es ja nur ein Bolzplatz ist und kein Verein. Nächstes Jahr gehe ich in einen richtigen Fußballverein, zum FSV Harburg, das ist mit meiner Mutter so abgesprochen. Bis es so weit ist, kann ich hier noch ordentlich trainieren. Ich wäre gerne Stürmer, aber ich kann nicht gut dribbeln und spiele deshalb Verteidiger, ich kann den anderen echt gut die Bälle abnehmen und reingrätschen. Trähnert hat mal gesagt, an mir kommt keiner vorbei, da war ich stolz wie sonst was.

Aber heute dürfen Uwe und ich nicht mitspielen, im Moment jedenfalls noch nicht, weil die anderen Jungen älter sind und besser. Also müssen wir uns Leute suchen für Zweierkämpfe. Wir tun uns mit zwei Jungen zusammen, die ich vorher noch nie gesehen habe, Martin und Jochen, die beide in Hanhoopsfeld wohnen, wo das EKZ ist. Sie sagen, dass sie den weiten Weg gekommen sind, weil es in Hanhoopsfeld nur einen Grandplatz gibt. Wir spielen «Wer zuerst zehn Tore hat, hat gewonnen». Martin und ich bilden eine Mannschaft, Uwe und Jochen die andere. Es macht voll Spaß, sich hinzupacken. Bei Zweierkämpfen ist man Torwart und Feldspieler in einem und darf auch Hand spielen. Das erste Spiel gewinnen wir zehn zu fünf, Jochen ist voll schwach und Uwe schnell durchgeschwitzt, weil er dick ist. Als wir auch das zweite Spiel fast gewonnen haben, knickt Jochen um. Anstatt gleich wieder aufzustehen, hält er sich den Knöchel und zieht ein Gesicht. Uwe ist froh über die Pause und lässt sich zu Boden fallen, man merkt, dass er schon jetzt nicht mehr kann und sehr froh ist über die Pause. Jochen tastet die ganze Zeit an seinem Knöchel herum, dann sagt er, dass er verletzt ist und nach Hause muss. Er tut so, als ob er ganz doll humpeln müsste, und verzieht sein Gesicht vor Schmerzen, aber ich glaube, er markiert, weil er keine Lust mehr hat, mit Uwe weiterzuspielen, außerdem ist er ja selber nicht gut. Wir gucken uns um, es ist kein einzelner Junge weit und breit zu sehen, und Uwe sagt, dass es keinen Zweck mehr hat und er jetzt nach Hause muss. Ich will noch hierbleiben und sage das auch. Uwe ist beleidigt und stiefelt mit hochroter Birne davon.

Auf der Suche nach neuen Mitspielern werden wir nicht fündig, und weil wir auch keine Lust haben zu warten, ob uns Trainer irgendwann auf dem großen Platz mitspielen lässt, geben wir auf. Martin sagt, er würde hinter dem Hünengrab einen guten Kletterbaum kennen. Wir gehen hin, und es ist dort der beste Kletterbaum, den ich je gesehen habe, weil der Abstand der Äste so ist, dass man ohne Probleme bis fast ganz nach oben kommt, bestimmt zehn Meter. Wir klettern hoch wie die Weltmeister, bis die Äste plötzlich so dünn werden, dass ich mich nicht mehr weitertraue. Martin stört das nicht, und er klettert noch höher. Ich bekomme es mit der Angst zu tun, dass ein Zweig bricht oder morsch ist und ich abstürze. Ich bin vor Schreck wie gelähmt und rufe Martins Namen, doch er antwortet nicht, sondern klettert einfach noch weiter. Als ich runtergucke, sehe ich, wie hoch ich schon bin, und spüre ein dolles Ziehen in den Beinen. Am liebsten würde ich mich fallen lassen, damit es endlich vorbei ist. Ich kralle mich an der Rinde fest und bewege mich keinen Millimeter. Martin klettert jetzt auch nicht mehr weiter.

«So weit oben war ich noch nie», ruft er herunter. Ich habe solche Angst, dass ich gar nichts sagen kann. Wenn ich nur ein Wort sage, verliere ich bestimmt endgültig das Gleichgewicht! Jetzt fangen auch noch meine Beine an zu schlottern! Ich werde es nie wieder bis nach unten schaffen.

«Was hast du?», ruft Martin.

«Ich komm nicht mehr runter.»

Da merkt er, dass es ernst ist, und steigt vorsichtig zu mir herab.

«Was ist denn, hast du Schiss?»

Mir ist jetzt alles egal, auch dass ich mich blamiere und er überall erzählt, was für ein Angsthase ich bin. Jetzt muss ich auch noch weinen.

«Ich helf dir. Ich steig unter dich, und dann nehm ich dein Bein und zeig dir genau, wohin du treten musst.»

Ich sage gar nichts. Als er an mir vorbei runterklettert, zittere ich am ganzen Leib und habe Angst, dass er mich aus Versehen runterreißt. Er fasst mir an den linken Knöchel und sagt, ich soll den Fuß ganz locker lassen und keine Angst haben. Doch ich kann nicht und kralle mich nur noch fester an den Baum.

«Nein, nein, ich bleib hier oben sitzen. Du musst die Feuerwehr holen, die sollen mich runterholen.»

Doch statt zu antworten, greift er meine Wade und stellt meinen Fuß auf den nächstunteren Ast. Das war knapp. Ich zittere wie Espenlaub und rechne damit, dass ich jeden Moment abstürze, aber nach einer Ewigkeit haben wir es geschafft und endlich wieder sicheren Boden unter den Füßen. Ich bin so erleichtert wie in meinem Leben nicht und schwöre mir, nie wieder höher als einen Meter oder zwei auf einen Baum zu klettern. Plötzlich fällt mir meine Mutter ein und die Puppe! Ich sage Martin, dass ich langsam mal losmuss, und stumm trotten wir den Weg zurück. Am Garagenplatz verabschieden wir uns, er muss ja noch weiter nach Hanhoopsfeld.

«Treffen wir uns morgen wieder?», fragt er.

«Von mir aus. Holst du mich ab? Ich wohne da, Bispinger Weg 7b. Um halb zwei.»

Ich zeige auf unser Haus. Er verspricht, dass er kommt.

Mutter ist immer noch nicht da. Langsam reicht’s, sie müsste doch nun wirklich jeden Moment kommen! Ich laufe ihr entgegen, und als ich bei Langwerner bin, sehe ich sie schon. Sie hat eine große Tüte in der Hand, da muss die Puppe drin sein. Mein Herz hüpft, und die Geschichte mit dem Baum ist schon fast wieder vergessen. Als sie mich sieht, stellt sie ihre Sachen ab und breitet die Arme aus, und ich springe mit Anlauf hinein.

«Mein Goldstück», sagt sie.

«Ist das für mich?», frage ich. Sie lächelt, und ich gucke in die Tüte hinein, in der ein Karton ist. Aber es ist keine Puppe drin, sondern nur ein Paar Schuhe.

«Was ist denn, Mathias, freust du dich gar nicht?»

«Ich dachte, es wäre eine Puppe.» Ich bin schon wieder den Tränen nahe.

«Ach, Mathias, ich kann dir doch keine Puppe schenken! Wo denkst du hin?»

Sie nimmt mich bei der Hand, und wir trotten nach Hause, wo Oma auf einem Stuhl sitzt und mit Frau Klippstein telefoniert. Wenn Oma zum Telefonieren auf einem Stuhl sitzen muss, ist das ein schlechtes Zeichen. Das heißt, dass sie schon mehr als eine Stunde mit Frau Klippstein telefoniert und nicht mehr stehen kann.

«So, Frau Klippstein, Gretchen und Mathias sind gerade gekommen, wir müssen für heute mal Schluss machen.»

Doch Frau Klippstein hört einfach nicht auf zu reden.

«Ja, Frau Klippstein, das können wir doch morgen noch besprechen.»

Mutter hängt ihren Mantel an der Garderobe auf.

«Frau Klippstein, ich muss jetzt wirklich.»

Das kennt Frau Klippstein gar nicht, dass sie einfach so abgewürgt wird. Ich finde, daran muss sie sich langsam mal gewöhnen. Oma tut mir vielleicht leid!

«Ich leg jetzt auf, Frau Klippstein.»

Aber Frau Klippstein macht einfach weiter.

«So, gute Nacht, Frau Klippstein.»

Dann hängt Oma tatsächlich auf, zum ersten Mal in ihrem Leben. Das Abendbrot steht schon fix und fertig vorbereitet im Wohnzimmer.

«Walter», ruft Oma die Kellertreppe hinunter.

«Ich komme gleich, Friedel.»

«Nein, jetzt sofort.»

Oma schenkt schon mal Tee ein, und Mutter trinkt wieder ein Glas Kadarkawein. Opa kommt und kommt nicht. Ich sehe Oma an, dass sie ganz ungeduldig wird. Endlich kommt er, doch er hat noch nasse Hände vom Händewaschen. Als er einen Schluck vom Hagebuttentee kostet, verzieht er den Mund und macht «Äh, baba».

«Also, Walter, das ist nun wirklich deine eigene Schuld, wenn du dir so viel Zeit lässt, dass der Tee kalt wird.»

Opa sagt nichts mehr, sondern isst zwei Schinkenbrote und Gewürzgurken. Plötzlich merke ich, dass ich todmüde bin und mir bei Tisch die Augen zufallen.

«Na, Mathias, was ist denn mit dir los?», fragt Mutter. Sie wendet sich an Oma:

«War irgendwas heute?»

Oma schüttelt den Kopf.

«Was soll gewesen sein? Er war mit Uwe Fußball spielen.»

Na, wenn die wüssten. Ich gehe nach oben und ziehe mir meinen neuen Schlafanzug aus Frotté an, der ist viel bequemer als Stoffschlafanzüge. Als Mutter nachkommt, bin ich fast eingeschlafen. Sie gibt mir ein Küsschen und spricht das Gutenachtgebet. Dann erzählt sie noch was, aber ich weiß nicht mehr, was, und bin gleich eingeschlafen.